Groß im Gefühl, klein im Leben

Trotziges Plädoyer für die romantische Liebe - Roger Willemsens Romandebüt "Kleine Lichter"

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Aufrichtigkeit, lehren Soziologen, ist nicht mitteilbar. Je mehr der eine etwas beteuert, desto eher wird der andere es bezweifeln. Das gilt gerade dann, wenn es um Gefühle geht. Wohl auch deshalb möchte Valerie, Roger Willemsens liebeskranke Ich-Erzählerin, ihrem Rashid die Liebe erklären, "wie man den Krieg erklärt".

Bemerkenswert freilich ist die Kommunikationssituation in dem waghalsig anmutenden Romandebüt des Moderators, Interviewers, Publizisten und Germanisten. Ob Rashid je etwas von dem, was ihm Valerie eine Nacht lang auf Kassetten spricht, bewusst vernehmen wird, ist ungewiss, denn er liegt im Koma, und das schon seit sechs Monaten. Genauer: Der einzige Zweck ihres Monologs besteht darin, ihn ins Leben zurückzurufen. Während die Kunsthändlerin in Tokio ihre Wohnung auflöst, soll man dem in einem Wiener Krankenhaus liegenden Rashid das Band vorspielen, wieder und wieder. Eine lebensrettende Verführung aus der Konserve also soll es sein: Spult man sie ab, wird die Sprecherin allerdings so abwesend sein wie ihr Adressat.

Bei ihrem Vorhaben sind Valerie viele Mittel recht. Etwa das der Provokation. Das erste Drittel ihrer Rede besteht vorwiegend aus Erinnerungen an frühere Liebhaber. Freilich wird schnell deutlich: Mit IHM können sie alle nicht mithalten, diese "schmalen Seelen, groß im Geschäft, klein im Geschlecht". Weshalb das zweite Mittel das wichtigere ist, die Evokation der gemeinsam erlebten Zeit. Und die Liebeserklärung in extenso, die ihr Anlass gibt für zahlreiche, mal mehr, mal weniger originelle Reflexionen über dieses Gefühl. Wie etwa: "Die Liebe ist eine Steigerungsform, ihr geht es um alles. Deshalb gibt es die Liebe eigentlich nur, solange sie unmöglich oder verboten ist. Danach wird sie ein Verhandlungsergebnis, ein Kompromiss."

"Ich rede, um dich anzustecken", heißt es einmal, und nichts anderes dürfte auch die Intention des Autors sein: den im alltäglichen Gefühlskoma daniederliegenden Leser anzustecken mit der Begeisterung für das Erlebnis emotionaler Entgrenzung. Willemsens Protagonistin durfte die Liebe als identitätsstiftende Erweckung erfahren, mit allem, was dazugehört: vom Sehen geheimnisvoller Zeichen bis zur Vergötterung des Geliebten. Jetzt lässt sie der unstillbar gewordene Gefühlsanspruch beinah zugrunde gehen. Kitsch und peinlichen Schwulst bewusst in Kauf nehmend ("Meine Freude! Mein Lichtblick! Mein Boy! Mein Mec! Mein Ritter!"), lässt Willemsen seine Valerie das Hohelied der Liebe singen: ein einsamer Tanz im Angesicht des Todes, eine von Verzweiflung gespeiste Rede, die dem in der Erinnerung bereits verblassenden Geliebten zu einem fantastischen Echo seiner Existenz verhilft.

So schmeichelt Valerie, bohrt auch in Wunden und thematisiert Tabus, liefert sich Rashid mit immer intimeren Geständnissen aus, getrieben von der Angst, dass sich der Gefühlssturm erschöpft, ehe sie ihr Ziel erreichen kann. Wobei es zur geheimen Paradoxie des Romans gehört, dass sie Rashid wohl nie näher kommen wird als während ihrer Rede: weil sich die Liebe wie der Hunger vom Mangel ernährt, von der Abwesenheit des Anderen. "Glaubst du, die Ferne ist unser Element? Glaubst du, aus der Nähe können wir uns nicht richtig fühlen? Ach, dann erleben wir ja gerade die Vollendung der Liebe", lässt Willemsen Valerie verkünden, unter Anspielung auf ein anderes, ganz auf die emotionale Infektion des Lesers zielendes Werk, Musils "Vereinigungen".

Wichtiger als die Frage, ob Valeries Rede Rashid zu erwecken vermag, ehe genervte Krankenschwestern das Band abstellen, ist daher, wie infektiös Willemsens Roman ist. Leider muss man sagen: weniger, als er sein könnte. Aus mehreren Gründen. Bedenklich stimmt bereits die verzopfte Art, wie dieses trotzige Plädoyer für die "romantische" Liebe die Geschlechter konstruiert: der Verstand dem Manne, die Seele der Frau.

Die Idee, einen Menschen "so mit Gefühlen zu bestrahlen, dass er leben muss", ist sympathisch. Aber Valeries pathetische Suada erweckt nicht, sie erstickt. Dass in ihr die alltägliche Welt kaum eine Rolle spielt, ist wenig überraschend, Liebende kreisen halt vorwiegend um sich selbst. Die Konsequenzen bleiben dennoch fatal, die Figuren blutleer, es wird unentwegt beschworen und behauptet, aber kaum etwas gezeigt: Da sind Überdrussreaktionen beim Leser vorprogrammiert.

Valeries stilisierte Kunstsprache produziert einige schöne, zitierfähige Sätze - aber gewiss keine glaubwürdige Fiktion. Ebenso artifiziell erscheint, wie der Autor modellhaft die einzelnen Facetten eines Liebeswahns durchdekliniert. Man merkt, dass sie mitunter nur als Aufhänger dienen, um beinah essayistisch über einen weiteren Aspekt der Liebe zu reflektieren: weniger Literatur also, mehr Literatursimulation.

Wenn es dem Roman doch noch gelingt, den Leser zu treffen, so aufgrund seines irritierenden Endes. Denn Valerie wird nicht Rashid wiedergewinnen, sondern sich selbst. Oder sollte auch das nur eine letzte Provokation im Dienst der Liebe sein?

Titelbild

Roger Willemsen: Kleine Lichter.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2005.
206 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-10: 310092102X

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