Unter der Moosschicht

Greil Marcus seziert Bob Dylans "Like a rolling stone”

Von Mario Alexander WeberRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mario Alexander Weber

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit dem letzten in Deutschland erschienenen Werk des US-amerikanischen Pop- und Kulturkritikers Greil Marcus, "Basement Blues. Bob Dylan und das alte, unheimliche Amerika", sind sieben lange Jahre des Wartens vergangen. Jetzt ist bei KiWi sein neues Buch erschienen: "Bob Dylans Like a rolling stone. Die Biographie eines Songs". Ein bisschen enttäuscht denkt man sich: Was? Schon wieder über Dylan? Und diesmal sogar knapp 300 Seiten ausschließlich über einen Song? Hm, passierte doch in diesen sieben Jahren nicht nur in musikalischer Hinsicht so einiges, über das man gerne die Ansichten des Kaliforniers gelesen hätte.

Die zentrale Passage des Buchs findet sich bereits im Prolog:

"Es schien, als könnte in der Arena des Pop buchstäblich alles passieren, als würde dies auch tatsächlich, Monat für Monat, der Fall sein. Das Wettrennen fand nicht nur zwischen den Beatles, Bob Dylan, den Rolling Stones und all den Übrigen statt. Die Welt des Pop befand sich in einem Wettrennen mit der Welt an sich, der Welt der Kriege und Wahlen, der Arbeit und Freizeit, der Reichen und Armen, der Weißen und Schwarzen, der Männer und Frauen - und 1965 konnte man spüren, dass die Welt des Pop im Begriff stand, diesen Wettlauf zu gewinnen."

Und an der Spitze rannte Dylans Single "Like a rolling stone". Am 16. Juni 1965 in den Columbia-Tonstudios in New York City aufgenommen. Sechs Minuten und sechs Sekunden lang. Ein unmöglicher Song für eine Single, der halbiert werden musste, sodass sich auf der B-Seite die Fortsetzung fand. Der Song wurde der erste richtige Hit Dylans in den Popcharts, landete auf Nummer 2, nur an "Help" von den Beatles kam er nicht vorbei. Wenig später erschien mit "Highway 61 revisited" das dazugehörige Album, das laut Greil Marcus neben "Let it bleed" von den Rolling Stones das beste aller Zeiten ist. Und dann ging Dylan mit seiner wilden Begleitband "The Hawks", aus der sich später "The Band" entwickelte, auf seine legendäre Konzerttour kreuz und quer durch Amerika, später durch Europa. Er wurde beschimpft und ausgebuht, als "Judas" tituliert, weil er, der frühere Folksänger, sich jetzt dem elektrisch verstärkten Rock'n'roll zuwandte. Die Konzerte endeten stets mit einem dröhnenden "Like a rolling stone", das, so Greil Marcus, die Band erst spät am Ende ihrer Tournee in den Griff bekam. Dies alles gehört zum Mythenschatz der Rockgeschichte wie die Bibel ins Nachttischchen jedes Motels. Wer nicht zum Umfeld der Dylanologen, den teils fanatischen Exegeten jedes Wortschnipsels des gebürtigen Robert Zimmerman aus Duluth, Minnesota gehört, und wer sich bisher nicht ausreichend mit dieser Pop-Epoche beschäftigt hat, wird automatisch zum Experten nach dieser Lektüre. Wem schon einiges bekannt ist, der freut sich über die Marcus-typischen Abschweifungen und unerwarteten Assoziationen. So wird eine eher obskure italienische Rapversion des Songs erörtert, oder der Autor zieht überraschend eine Verbindungslinie hin zum Fußballstadionklassiker "Go West" der britischen Pet Shop Boys. In einem persönlichen Abschnitt berichtet Greil Marcus von seiner ersten, ihn prägenden Begegnung mit einem blutjungen, noch unbekannten Bob Dylan, als dieser noch zusammen mit Joan Baez auftrat. Ihre Schwester Mimi soll so hübsch gewesen sein, dass Greil Marcus sich kaum traute, sie anzusehen.

Die interessantesten Passagen des Buchs jedoch sind diejenigen über Clyde McPhatter, dem eminent einflussreichen Sänger der "Dominoes" und "Drifters" aus den frühen Jahren des Rock'n'roll, und vor allem über Michael Bloomfield, der auf "Like a rolling Stone" die Gitarre spielte und danach noch ein kurzes Intermezzo in Dylans Tourband gab. Bloomfield war eine eher tragische Gestalt, da er drogenabhängig war und nach einer Karriere voller Irrungen und Wirrungen im Alter von nur 37 Jahren starb. Die Gegenüberstellung seines Wegs mit dem Dylans, die Nachzeichnung ihrer späteren gemeinsamen Erfahrungen (Bloomfield trat Jahre später bei einem Konzert als "special guest" noch einmal mit Dylan auf) sowie die zitierten Interviewpassagen ergeben ein spannendes Portrait eines Künstlers, dessen Nachruhm sich sonst in einer Fußnote - der Gitarrist auf Dylans bester Platte - zusammenfassen lässt.

An anderer Stelle erzählt Marcus von einem Erlebnis mit dem Song, den er im Urlaub auf Mauri hatte. Er saß beim Frühstück in einem Hotel, im Hintergrund spielte das Radio. Plötzlich lief "Like a rolling stone":

"Als würde eine Notiz von Tisch zu Tisch weitergereicht, schauten die Leute nach und nach von ihrem aus Ananas und Bloody Marys bestehendem Frühstück auf. Die Gespräche verstummten. Die Leute wippten mit den Füßen [...]. Es war ein verblüffender Moment: der Beweis dafür, dass 'Like a rolling stone' nicht als Muzak herangezogen werden kann. Als der Song verklungen war, schien es so, als wäre die Luft aus dem Raum gewichen."

Dem langjährigen Greil-Marcus-Leser wird dieser Abschnitt bekannt vorkommen, fand man ihn doch auch schon im Sammelband "Im faschistischen Badezimmer". Auch Dylans Auftritt bei den Grammy-Verleihungen während des ersten Irak-Kriegs, als er eine entfesselte Version seines Klassikers "Masters of war" zum Besten gab, wurde vom Autor an anderer Stelle bereits beschrieben. Seine Schilderung der ersten Begegnung mit Dylan erschien hierzulande bereits zu Dylans 60. Geburtstag im Schweizer Kulturmagazin "Du". Dies trägt zum Gesamteindruck des Buchs bei. Nicht nur aufgrund dieser und weiterer Überschneidungen bzw. Selbstzitaten wirkt es häufig wie ein Aufguss alter Thesen und Überlegungen, stecken geblieben in den Sixties, seltsam anachronistisch. Vierzig Jahre nach der epochalen Single scheint der Song überhaupt besser im Jahr 2005 angekommen zu sein, als Greil Marcus' Versuch, darüber zu sinuieren. Dass im ganzen Buch kein einziges Mal der legendäre Nick Cohn, ein Dylan-Kritiker (Cohns bekanntes, gern zitiertes Bonmot lautet: "Mir hat eine Zeile aus 'Book of love' von den Monotones mehr bedeutet als das ganze 'Blonde on blonde'-Album") und mit "AwopBopaLooBopALopBamBoom" der erste Verfasser eines Buches über die Rockgeschichte, nicht erwähnt wird, zeigt auch, dass Greil Marcus sein früherer Witz und Biss, auch die Fähigkeit, andere Perspektiven mit einzubeziehen, abhanden gekommen sind. Greil Marcus nimmt den Song vielleicht zu ernst und überfrachtet ihn mit der Phrase vom "Wettrennen gegen die Welt".

Gerne hätte man also noch mehr gelesen wie die irrwitzige Story über eine Schülerband namens "The Taliband" aus Colorado, deren Vorhaben, mit dem boshaft-bissigen "Masters of war" beim Talentwettbewerb gegen den zweiten Irak-Krieg zu protestieren, für Diskussionen im ganzen Land sorgte. Leider finden sich diese aktuellen Geschehnisse erst im Anhang versteckt wieder, was schade ist. Wer möchte, kann jedoch das ganze Buch als Rekurs auf die Ideale und Aufbruchsstimmung der Sixties verstehen (und die Abwesenheit dieser Stimmungslage vierzig Jahre später). Es bleibt zu hoffen, dass bis zum nächsten Buch nicht wieder sieben Jahre verstreichen und dass Greil Marcus nicht plant, seine bisherigen zwei Bände über Dylan zu einer Trilogie auszubauen.

Titelbild

Greil Marcus: Bob Dylans Like a Rolling Stone. Die Biographie eines Songs.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Fritz Schneider.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2005.
304 Seiten, 9,90 EUR.
ISBN-10: 3462034871

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