Die Zweifel bleiben

Über das Lebenswerk von Hans Keilson

Von Ursula HomannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ursula Homann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als im Juni in verschiedenen Zeitungen die Meldung auftauchte, dass Hans Keilson mit dem Johann Heinrich Merck-Preis für literarische Kritik und Essay von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung ausgezeichnet werden sollte, hat sich gewiss mancher gefragt, wer denn dieser Hans Keilson überhaupt sei. Nun, oberflächlich betrachtet, ist die Frage schnell beantwortet: Hans Keilson ist Nervenarzt, Psychoanalytiker, deutschsprachiger Schriftsteller obendrein, niederländischer Bürger seit 1951 und trotz seiner bald 96 Jahre immer noch rege aktiv. Wer aber Näheres wissen will, der sollte sich Zeit lassen und sich in die jüngst erschienene zweibändige Werkausgabe vertiefen. Er wird reich belohnt. Denn die von Heinrich Detering und Gerhard Kurz sachkundig zusammengestellte Veröffentlichung enthält Keilsons gesamtes Lebenswerk: zwei Romane, zwei Erzählungen, mehr als hundert Seiten Gedichte - darunter auch bisher unveröffentlichte - sowie eine Fülle von Essays aus den Jahren von 1928 bis 2003.

Geboren wurde Hans Keilson am 12. Dezember 1909, nach eigener Aussage, "als Jude im wilhelminischen Deutschland, rund fünf Jahre vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges [...] in einem kleinen, im Oderbruch gelegenen Kreisstädtchen der Mark Brandenburg, einst des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation Streusandbüchse." Hier in Freienwalde führten seine Eltern als kleine Geschäftsleute "ihr ehrbares, von äußeren Zwängen bedrohtes Leben, liberal gelöst von der jüdischen Orthodoxie, im Bewusstsein ihrer inneren und äußeren Zugehörigkeit zur gleichgestimmten Gruppe, der sie entstammten."

In Berlin studierte Hans Keilson Medizin und Sport und verdiente sich nebenbei seinen Lebensunterhalt als Musiker. Im Frühjahr 1933 erschien, unter dem Lektorat von Oskar Loerke, sein erster Roman "Das Leben geht weiter". Es war das letzte Debüt eines jüdischen Autors im alten S. Fischer-Verlag. Denn als sich das Buch im Druck befand, brannte der Reichstag. So kam es, wie sein Autor in einem Essay rückblickend notiert, "gerade noch zeitig genug, um verboten zu werden."

Der Roman, eine düstere eindrucksvolle Milieustudie, erzählt vom wirtschaftlichen Niedergang eines kleinen selbstständigen Kaufmanns inmitten der politischen, sozialen und ökonomischen Wirren der Jahre nach dem Ersten Weltkrieg, der Weimarer Republik, der Inflation und des aufkommenden Nationalsozialismus. Es ist die Geschichte von Keilsons Vater. Der Autor wertet seinen ersten Roman als ein Stück Selbstanalyse, obwohl er hier seine Zugehörigkeit zum Judentum und Erfahrungen mit dem Antisemitismus noch ausgeblendet hat. Er wollte, wie Heinrich Detering und Gerhard Kurz in ihrem Nachwort anmerken, "von einer deutschen Generationserfahrung" erzählen, "diesseits der Scheidung von jüdischen und nichtjüdischen Deutschen, die wenige Wochen vor der Veröffentlichung zum regierungsamtlichen Programm geworden war."

1934 konnte Hans Keilson zwar noch sein ärztliches Staatsexamen ablegen. Aber bald darauf wurde über ihn als Schriftsteller und Mediziner ein Praxis- und Publikationsverbot verhängt. Einige Jahre arbeitete er dann noch als Sportlehrer und Erzieher an jüdischen Berliner Schulen in der Hoffnung, dass sich in Deutschland nicht verwirklichen würde, was in verbalen Hasstiraden angekündigt wurde. Schließlich emigrierte er dann doch 1936, gemeinsam mit seiner Frau, der Grafologin Gertrud Manz, in die Niederlande. Hier baute er eine pädagogische Beratungspraxis auf, edierte holländische Anthologien und schrieb Gedichte in deutscher Sprache. Nach den Novemberpogromen 1938 erlangte er für seine Eltern eine Einreiseerlaubnis in die Niederlande, aber vor Deportation und Ermordung konnte er sie später nicht bewahren. Im Frühjahr 1943 tauchte er, getrennt von seiner Frau und seinem inzwischen geborenen Kind, unter und arbeitete als Arzt und Kurier für eine Amsterdamer Widerstandsgruppe. Nach dem Krieg begründete Hans Keilson zusammen mit anderen Überlebenden "Le Ezrat HaJeled" (Zur Hilfe des Kindes), eine Organisation zur Betreuung jüdischer Kinder, die Versteck, Konzentrations- und Vernichtungslager als Waisen überlebt hatten.

Das erste Buch Keilsons nach Kriegsende war die große Erzählung "Komödie in Moll" (1947), eine tragikomische Geschichte von einem Juden, der im Versteck stirbt und dessen Leichnam nun, unter den Augen der Gestapo, unauffällig beseitigt werden muss.

Für sein Lebenswerk indes hält Hans Keilson, der sich in allererster Linie stets als Arzt betrachtet hat, die 1979 unter dem Titel "Sequentielle Traumatisierung bei Kindern" publizierte Studie mit Untersuchungen zum Schicksal jüdischer Kriegswaisen in den Niederlanden. Der Band, an dem Keilson elf Jahre lang gearbeitet hat, enthüllt erschütternde Lebensgeschichten, die deutlich machen, dass manche Traumatisierungen kaum zu beheben sind. Auf ein derartiges Schicksal kommt Keilson auch in seinen Essays "Die fragmentierte Psychotherapie eines aus Bergen-Belsen zurückgekehrten Jungen" (1995) und in "Wohin die Sprache nicht reicht" (1984) zu sprechen. Diese Abhandlung endet mit den Sätzen: "Es könnte sein, dass hinsichtlich meiner Ausführungen in Anlehnung an Wittgenstein der Eindruck entstehen könnte, dass man darüber, worüber man nicht reden kann, schweigen sollte. Ich teile diese Meinung nicht. Man sollte es immer wieder aufs neue versuchen."

In "Der Tod des Widersachers" (1959) - die ersten fünfzig Seiten entstanden 1942 während der deutschen Okkupation, der Autor vergrub das Manuskript, bevor er sich versteckte, in seinem Garten - wird mit großem psychologischem Feingefühl das komplizierte, von Ambivalenzen geprägte Beziehungsgeflecht zwischen Verfolgtem und Verfolger erkundet. Keilson selbst bezeichnete seinen Roman als einen "verzweifelten Versuch, den Riss, der durch die Welt geht, aufzuspüren."

Bei seinem Erscheinen in der Bundesrepublik wurde der Roman kaum beachtet, von wenigen positiven Kritiken abgesehen, die "eine Verwandtschaft des Autors zu Kafka" bemerkten. In den USA dagegen zählte "Time Magazine" den Roman zu den zehn wichtigsten Neuerscheinungen des Jahres 1962.

"Erkenne dich im anderen, den du als Feind, als Widersacher vernichten willst", schreibt Keilson 1992 zu diesem Thema in dem Aufsatz "Was bleibt zu tun?". An einer Stelle setzt er sich auch mit dem liberalen Germanisten Hans Schwerte auseinander, der als SS-Obersturmführer Hans Ernst Schneider einmal einer seiner "Widersacher" war.

"Dissonanzen im Quartett" (1968) ist Keilsons letzte, kürzeste und dichteste Erzählung - Peter Härtling hatte sie für eine Anthologie erbeten. Sie handelt von einem Vater-Sohn-Verhältnis vor dem Hintergrund des Exils. Zugleich wird hier die Frage nach dem komplizenhaften Zusammenspiel von ästhetischer Bildung und realem Massenmord angeschnitten.

Die in der ersten Zeit der Emigration entstandenen Gedichte beziehen sich oft auf biblische Motive, auf Gedichtzeilen Heinrich Heines und chassidische Gesänge. In ihnen drückt sich verzweifelte Verlassenheit und bitterer Sarkasmus aus. Eines dieser Gedichte beginnt: "Wir Juden sind auf dieser Welt / ein schmutziger Haufe billiges Geld, von Gott längst abgewertet", und in einem anderen heißt es unter der Überschrift "Schizoid":

"steuern zahl ich in Holland
auf fetter klei
nur
die fußspur durchzieht noch
den sand der Mark
und mein herz
trauert um Jerusalem".

Seit den 80er Jahren überwiegen in Keilsons Werk Essays, Reden und kleinere Aufsätze, die vor allem dann besonders spannend und anrührend zu lesen sind, wenn der Schriftsteller von seinen eigenen Erlebnissen und Erfahrungen berichtet.

Gleichwohl ruft die Bombardierung deutscher Städte während des Kriegs bei allem eigenen Leid "Ein leises Unbehagen" (so der Titel einer weiteren Abhandlung) hervor und weckt die Frage: "Welche Haltung geziemt uns, die wir im Krieg mit Hitler-Deutschland stehen, anzunehmen angesichts der massiven Ausradierung deutscher Städte?" Befremden empfindet Keilson aber auch, vermischt "mit dem Erstaunen und Entsetzen, über ein Volk, das sich seine Städte, die ihm doch in erster Linie besonders teuer sein müssten, lieber in Schutt und Asche bombardieren lässt, als in ihnen als Besiegte leben zu bleiben." (1945)

In der Selbstdarstellung "In der Fremde zuhause" sieht sich Hans Keilson als Reiter "auf zwei ungesattelten Pferden", dem der Literatur und dem der Psychoanalyse. In der Tat sind seine wissenschaftlichen Abhandlungen und medizinischen Berichte von seinem schriftstellerischen Werk kaum zu trennen. "Ich habe", schreibt er im Nachwort zur Neuauflage von "Das Leben geht weiter", "unzählige Rapporte geschrieben über Kinder und Erwachsene, die ich untersucht und behandelt habe, um Gerichte und andere Instanzen im Idiom meines Faches von dem Leid zu überzeugen, das sie in schweren Jahren überkommen hatte. Diese Arbeit bestimmt im Grunde mein persönliches Verhältnis zur Literatur."

Was an Hans Keilsons Schreiben aber vor allem besticht, ist eine unsentimentale, schlichte Humanität, seine große Detailgenauigkeit, seine ruhige, niemals aufgeregte Erzählstimme, die mit geringen Nuancen große Wirkung erzielt. Auch Selbstironie und Humor sind ihm nicht fremd.

"Die Literatur ist das Gedächtnis der Menschheit: Wer schreibt, erinnert sich, und wer liest, hat an Erfahrungen teil", bekennt Keilson, der seit 1951 bis heute im holländischen Bussum, einer kleinen Stadt zwischen Amsterdam und Utrecht, seine Praxis betreibt und von 1985 bis 1988 Präsident des PEN-Zentrums "German Speaking Writers Abroad" war. Ferner mahnt er: "Wir dürfen nie aufhören mit unseren Gedanken und Fragen". Zudem gilt: "Man kann nicht misstrauisch genug gegenüber den eigenen Fragen und Antworten sein, den Wörtern und Metaphern, die man gebraucht, wenn es um Wahrheit oder Lüge oder gelinder gesagt, um Täuschung, und auch um Selbsttäuschung geht. Die Zweifel bleiben."

Viele Menschen hat Hans Keilson kennengelernt, auch die Autoren der Gruppe 47. Allerdings habe ihn die Begegnung mit Wolfgang Weyrauch, gesteht er, auch nicht schlauer gemacht. Mit Max Horkheimers und Theodor W. Adornos Ansichten zeigt er sich wohl vertraut, ebenso mit Hannah Arendt und Martin Heidegger.

Hermann Hesse, Klabund, Franz Kafka, Thomas und Klaus Mann, Erich Mühsam, Knut Hamsun - viele Namen tauchen in den Bänden auf - schade, dass die Herausgeber auf ein Namensverzeichnis verzichtet haben.

Titelbild

Hans Keilson: Werke in zwei Bänden. Bd. 1: Romane und Erzählungen, Bd. 2: Gedichte und Essays.
Herausgegeben von Heinrich Detering und Gerhard Kurz.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2005.
1097 Seiten, 64,90 EUR.
ISBN-10: 3100495160

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