Ein weites Feld

Eine neue Einführung in die Soziologie Pierre Bourdieus

Von Per RöckenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Per Röcken

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der "Unterschied" - ist, so legt es auch der Titel seines Hauptwerks La distinction (1979) nahe, eine in ihrer konzeptionellen Tragweite kaum zu überschätzende, zentrale Kategorie der Kultursoziologie Pierre Bourdieus. Längst überfällig war also der Versuch, das Œuvre eines der vielseitigsten und zur Zeit wohl einflussreichsten und meistdiskutierten Gesellschaftstheoretiker unter dem Blickwinkel besagten Grundprinzips zu betrachten und damit auf seine epistemologischen Grundlagen hin zu befragen. So lautet denn auch die zentrale These des quantitativ schmalen Büchleins von Christian Papilloud, der Begriff des "Unterschieds" stelle "den Kern von Bourdieus Erkenntnistheorie" dar, wobei "Unterschied" als "Machtbeziehung zwischen Identität und Differenz" konzipiert werde.

Zur Plausibilisierung dieser These hält es der Autor zunächst für erforderlich, Bourdieus Werk als "Synthese verschiedener Traditionen und Richtungen der Soziologie" auszuweisen und namentlich dessen Auseinandersetzung mit "zentralen Konzeptionen" Émile Durkheims ("Solidarität" / "Zwang"), Max Webers ("Sinn") und Karl Marx' ("Macht") nachzuvollziehen. Dass Bourdieu - zumal nach eigener Einschätzung - diesen Vordenkern gerade in der Distanznahme sowie in der Präzisierung übernommener Theoreme und Begrifflichkeiten in vielerlei Hinsicht verpflichtet blieb, kann inzwischen als dokumentierter und hinlänglich gestützter Konsens gelten. Leider gelingt Christian Papilloud in seiner Studie weder eine systematische noch eine genealogische Rekonstruktion besagter Aneignungsprozesse. Auf engstem Raum werden komplexe Zusammenhänge weniger entwickelt als lediglich angedeutet; klar wird dies vor allem in dem knapp eine Seite umfassenden Passus zum "Etikett der Erkenntnistheorie Bourdieus", namentlich dem "konstruktivistischen Strukturalismus", der sich angeblich - auf welchem Argumentationsweg, bleibt der Phantasie des Lesers überlassen - aus der Grundthese des Buchs "erklärt".

In dem sich anschließenden Kapitel wird das Konzept des Unterschieds "als Individualitäts- sowie als Gesellschaftsprinzip" fokussiert. Hier wird dem Leser endlich ein Überblick über die Grundbegriffe der Bourdieu'schen Kultursoziologie vermittelt: Akteur, Feld, sozialer Raum, (Klassen-)Habitus, Geschmack, ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital, Konvertierung akkumulierten Kapitals, Legitimität, Herrschaft usf. Untersucht wird, wie und auf welchen - stets als relational gedachten - Ebenen sozialen Handelns die gesellschaftliche und individuelle Produktion, Aneignung, das Verkennen-also-Anerkennen sowie die Reproduktion von "Unterschied als Machtbeziehung" erfolgen. Die Darstellung ist hier erfreulich luzide, dank anschaulicher Beispiele plakativ und cum grano salis systematisch.

Gleiches gilt für das folgende Kapitel, dessen Anliegen es ist, die konkrete Anwendung besagten Erklärungsinstrumentariums nachzuvollziehen und damit die Plausibilität der von Bourdieu entwickelten Epistemologie anhand dreier Beispiele zu überprüfen. Fokussiert werden - dies legen die klassischen Studien Bourdieus nahe - das literarische Feld, dasjenige des Wissens (das französische Ausbildungssystem) sowie das "quer zu den anderen Feldern liegende" Feld der Macht. Im einzelnen werden erörtert: die Feldkonstitution, der Eintritt in das und die Positionierung im Feld, die immanente Logik einzelner Felder - die "Ordnung" und deren "Garanten" -, die aus dem "Kampf zwischen den Akteuren", ihren praktischen Machtbeziehungen erwachsende Dynamik sowie die Reproduktion von Feldern. Etwas kryptisch, im Prinzip also dem Gegenstand angemessen, lesen sich leider die das Kapitel beschließenden Ausführungen zum "Feld der Macht" sowie zur "symbolischen Gewalt". Warum der gemäß der eigenen Grundthese - "Unterschied als Machtbeziehung" - zentralen Fragstellung nach der epistemologischen Funktion der praxeologischen Konzeption der "Macht" bzw. des "Machtfeldes" an dieser Stelle der Untersuchung nicht mehr Raum eingeräumt wird, ist nur schwer nachzuvollziehen.

Überaus anregend zu lesen ist demgegenüber die Verortung der Bourdieu'schen Gesellschaftstheorie im Kontext der seit Anfang der 70er in Frankreich geführten soziologischen Debatten, wobei im einzelnen folgende kontroverse Gegenentwürfe vorgestellt werden: Raymond Boudon (Individualismus), Alain Touraine (Aktionismus) sowie Allain Caillé (Sozialanthropologie der Gabe). Nach einem informativen, wenngleich recht knappen Überblick über "weitere Positionen" der namentlich von ehemaligen Mitarbeitern und Kollegen Bourdieus geübten Kritik schließt das Buch mit der Anregung, "Bourdieus Konzeption von 'Unterschied' als Machtbeziehung auf neue Weise zu problematisieren, nämlich das Verhältnis von Beziehung und Macht seinerseits auf seine erkenntnistheoretischen Voraussetzungen zu befragen". Eine differenzierte Kritik, schreibt Papilloud, habe also unter Einbeziehung bereits vorgebrachter Einwände bei Bourdieus Apriori des Relationismus anzusetzen. Mit diesem - wenngleich neuerlich nur in Andeutungen formulierten - Gedanken ist zum Schluss des Buches ein Denkanstoß formuliert, der verdient, durch weiterführende Primärtext-Lektüre vertieft zu werden.

Ungeachtet der durchaus ansprechenden und oben gewürdigten Aspekte der Darstellung: Der etwas zu optimistisch als "Einführung" deklarierte Text ist voraussetzungsreich und verhandelt sowohl komplexe wie einfache Sachverhalte auf gleichbleibend hohem Abstraktionsniveau, das sich vor allem im ersten Teil des Buches nolens volens zu - je nach Standpunkt irritierenden oder amüsanten - tautologischen Wendungen à la "Bourdieu konzipiert soziale Macht [...] als gesellschaftliche Macht" versteigt. Apodiktische Aussagen, zuvorderst die allein durch ihre häufige Wiederholung nicht an Plausibilität gewinnende Grundthese des Buchs, sowie mitunter nur elliptische Herleitungen und Schlussfolgerungen treten an die Stelle expliziter, transparenter Argumentation. Allzu oft wird auf die Suggestivkraft deduktionsindizierender Floskeln ("also") vertraut, ohne dass diesen eine spezifische konklusive Funktion zuzuweisen wäre. Nicht selten werden zur Illustration der Ausführungen selbstsprechende, dem jeweiligen Kontext entrissene Zitate eingestreut, ohne dass diese eingehend erörtert würden.

Meines Erachtens tut man demnach gut daran, zumindest zu erwägen, den (offenbar in Anlehnung an Sarah Kofman formulierten) Titel des Buchs beim Wort zu nehmen und statt einer weiteren "Einführung", die sich überdies nicht entscheiden kann, tatsächlich eine zu sein, Bourdieu endlich selbst zu lesen.

Titelbild

Christian Papilloud: Bourdieu lesen. Einführung in eine Soziologie des Unterschieds.
Transcript Verlag, Bielefeld 2004.
122 Seiten, 13,80 EUR.
ISBN-10: 3899421027

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