Die ungleichen Brüder

Thomas Mann - Heinrich Mann

Von Helmut KoopmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Helmut Koopmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es gibt nur sehr wenige Aufnahmen, die Heinrich und Thomas Mann zusammen zeigen - es mag Zufall sein, aber die wenigen Bilder, die wir kennen, scheinen ihre eigene Sprache zu sprechen. Das berühmteste Bild zeigt die Brüder um 1900: Ein Doppelporträt, Heinrich Mann steht vor Thomas, blickt auf den Sitzenden nieder - und Thomas sieht an seinem Bruder vorbei, der Blick scheint geradezu ins Leere zu gehen. Aus den zwanziger Jahren existieren einige nichtssagende Gruppenbilder, auf denen die Brüder eher zufällig erscheinen - dann noch einmal ein Doppelporträt, 1930 in Berlin: beide blicken auf den Fotografen, nicht etwa einander an, und dann jenes späte Bild vom 13. Oktober 1940, als Heinrich Mann in New York eintrifft: wieder blickt Heinrich den Bruder an, wieder Thomas an ihm vorbei, ein freundliches Lächeln (aber auch nicht mehr) bei beiden: da scheint sich die Situation jenes frühen Bildes um 1900 zu wiederholen. Dieses ist zugleich das letzte gemeinsame: sonst nur Einzelporträts, Thomas Mann oft im Gesellschaftsstrubel, oft mit seiner Familie - von Heinrich nur Einsamkeitsbilder, etwa jenes aus der Zeit um 1949, als er auf der Treppe zu seiner Wohnung sitzt, oder jenes andere am Schreibtisch: um sich herum Bücher und eine Fotografie, aber der Blick geht ins Leere oder vielleicht besser: ins eigene Innere. Mehr kennen wir nicht, doch diese Bilder scheinen von eigentümlicher Symbolik zu sein: es ist Heinrich, der lebenslang auf Thomas blickt, und Thomas wendet sich nicht gerade von ihm ab, er wendet sich ihm aber auch nicht zu: ungleiche Brüder, auch in ihrem Verhältnis zueinander. Eines war sie sicherlich nicht: eine "normale" Brüderlichkeit mit ihren unvermeidlichen Spannungen und Übereinkünften, statt dessen eine solche, die oft als Last und Bedrohung empfunden wurde, nicht selten aber auch als Stimulanz und produktiv machende Beziehung, und normal ist nichts. Es gibt Höhen und Tiefen, Haßausbrüche, Versöhnungsgesten, Abschiede, die am Ende denn doch keine sind, Zuneigung, die sich auch durch Feindseligkeit des Anderen nicht beirren läßt; es gibt Jahre, in denen die Erbitterung aufeinander so groß ist, daß der Bruch endgültig und unheilbar zu sein scheint, und dann kommt doch das Gefühl brüderlicher Nähe und unauflösbarer Verbindung wieder auf, wenn das alles auch nie in völliger Aussöhnung endet: man arrangiert sich, steht einander bei in Zeiten der Not, selbst wenn man das manchmal nicht sehr gerne tut; aber das Trennende wird ebenfalls nie vergessen. Im späten kalifornischen Exil kommen bei Thomas Mann Verletzungen wieder hoch, die bis in die Zeit gegen Ende des Ersten Weltkriegs zurückreichen. Aber es gibt auch das Gegenteil: brüderliche Gefühle werden jahrelang unterdrückt und brechen sich dann in einem Brief Bahn, der den Empfänger "zu Tränen beglückt". Fehden werden nicht selten öffentlich ausgetragen, und mancher Essay liest sich gelegentlich so, als sei er nur an den Bruder gerichtet, auch wenn von ihm gar nicht namentlich die Rede ist. Aber anderes, überdeutlich mit Blick auf den Bruder hingeschrieben, wurde von diesem oft gar nicht wahrgenommen, wurde überlesen, blieb unbeachtet und unbeantwortet: das war durchaus wechselseitig so.

Manchmal gab es übergroße Empfindlichkeiten: eine böse Bemerkung des Bruders genügte, um den Anderen jahrelang in einen fast tollwütigen Zustand zu versetzen - so Thomas Manns Reaktion auf einen Satz von Heinrich Mann im Zola-Essay von 1915. Aber dann gibt es immer wieder auch das Gefühl gemeinsamer Auserwähltheit: niemand kann ihnen das Wasser reichen. Lange hält jedoch auch das nie vor: es bleiben die lebenslangen Vorbehalte, auch die lebenslange Eifersucht bleibt. Ein Kain-und-Abel-Dasein, und beide haben darunter gelitten. Thomas Mann schrieb in einem Brief an die Lübecker Freundin Ida Boy-Ed 1917, daß das Bruderproblem das eigentliche, das "schwerste Problem" seines Lebens sei. Heinrich Mann war toleranter, bekannte dem Bruder einmal: "Du warst mir in jedem Augenblick des Lebens der Nächste". Und das galt für Heinrich auch in der Feindschaft. Nicht ohne Grund widmete er seinen Henri IV dem Bruder mit den Worten: "Dem einzigen, der mir nahe ist".

Wie nahe aber war Thomas Mann seinem Bruder tatsächlich? In den Auseinandersetzungen um die Betrachtungen eines Unpolitischen, jener brüderlichen Kampfansage von Thomas Mann, über viele hundert Seiten und über vier Jahre hin immer wieder vorgebracht, findet sich bei Heinrich der schlimme Vorwurf an seinen Bruder: daß der nicht fähig sei, "den wirklichen Ernst eines fremden Lebens je zu erfassen". Ein solches Urteil kam nicht von ungefähr, und es gibt ähnliche anderswo. Klaus Mann schrieb über seinen Vater am 25. Februar 1937 in sein Tagebuch: "Seine allgemeine Interesselosigkeit an Menschen, hier besonders gesteigert", und: "Schreibt an gänzlich Fremde ebenso reizend. Mischung aus höchst intelligenter, fast gütiger Konzilianz - und Eiseskälte". Auch Heinrich sollte sie zu spüren bekommen. "In inimicos", hatte Thomas Mann einmal gesagt, als die Brüder in Italien, in Palestrina waren und an ihren Romanen schrieben. Heinrich Mann hat die Worte nie vergessen, wiederholt sie in den zwanziger Jahren in seinem Roman Der Kopf. Für ihn war der Bruder kein Feind, aber Heinrich mochte das für Thomas zeitweise durchaus gewesen sein, vor allem dann, wenn Heinrich ihm Kritisches sagte. Thomas hat mit ungeheurer Empfindlichkeit darauf reagiert, und manchmal tun sich Abgründe auf, Abgründe von Haß, der fast in Totschlagelust zu münden scheint.

Was stand anfangs dahinter? Wohl das, was die Psychologie landläufigerweise Ichschwäche nennt. Heinrich Mann hatte eine Novelle mit dem Titel Haltlos geschrieben, aber der eigentlich Haltlose war in den frühen Jahren dieser Brüderlichkeit zweifellos Thomas. In seiner ersten literarischen Arbeit, einer kleinen "Farbenskizze" mit dem Titel Vision, hatte er sich selbst beschrieben: ein Einzelgänger, in seine Phantasien eingesponnen. Damals hatte ihm ein schnoddriger Redakteur der Lübecker Zeitung eine Absage erteilt und hinzugesetzt: "Wenn Sie öfters solche Einfälle haben, sollten Sie wirklich etwas dagegen tun". Nun, er tat etwas dagegen: er schrieb weiter. Aber sicher war er seiner nicht. In einem Gedicht mit dem Titel Monolog von 1899 hielt Thomas Mann sich einen ironisch-satirischen Spiegel vor, der aber doch sehr Ernsthaftes enthüllte. Er schrieb:

Ich bin ein kindischer und schwacher Fant,
Und irrend schweift mein Geist in alle Runde,
Und schwankend faß ich jede starke Hand.

Starke Hände gab es damals, eine von ihnen bot der alte Goethe, dessen Gespräche mit Eckermann er im Juli 1897 las und mit zahlreichen Anstreichungen versah. Er berichtete aus Rom an einen Freund: "Augenblicklich bewundere ich Eckermanns Gespräche mit Goethe - welch ein beschämender Genuß, diesen großen, königlichen, sicheren und klaren Menschen beständig vor sich zu haben, ihn sprechen zu hören, seine Bewegungen zu sehen! Ich werde gar nicht satt davon, und ich werde traurig sein, wenn ich zu Ende bin!" War es Vater-Suche? Sicherlich auch. Der frühe Verlust des eigenen Vaters hat für Thomas Mann, anders als für Heinrich, einschneidende Folgen gehabt. Immer wieder tauchen Vatergestalten bei ihm auf: der eigene Vater in Tonio Kröger, Peeperkorn im Zauberberg, Jaakob in den Josephsromanen, Goethe in Lotte in Weimar, Professor Kuckuck im Felix Krull - und wo sie fehlen, geht es meist zerstörerisch zu. Aber diese erste Vatersuche hielt nicht so furchtbar lange vor, obwohl der Goethe-Einfluß natürlich sein ganzes Werk durchzieht. In der Frühzeit war Goethe einfach zu groß für ihn, und wenige Jahre später gab es für ihn schon eine andere Leitfigur: Gerhart Hauptmann, dessen Persönlichkeit "einen solchen Zauber" auf ihn ausübt, wie er das "bei weitem nicht vermutend gewesen" war. Und er setzte hinzu: "Er ist ganz eigentlich mein Ideal". Aber auch er blieb das nicht, und die Vatersuche ist immer wieder begleitetet von Vaterentfremdung. Aber es gab einen, anstelle des Vaters - oder der Väter -, der lebenslang da war und der dennoch für Thomas Mann immer der Andere blieb: Heinrich.

Was ihn anging, so konnte sich Thomas der eigenen Identität aus dem Gegensatz heraus versichern, und es war dieser Gegensatz, der ihn so unendlich produktiv machte. Dabei ging es nicht nur um die Sicherung der eigenen Identität: es ging zugleich um Konkurrenz, um die Eroberung eines Marktes, es ging um literarischen Erfolg, um den Versuch, sich gegen den Anderen nicht nur zu behaupten, sondern ihn zu überbieten. Das war gar nicht so leicht, denn Heinrich war als Schriftsteller früher auf den Plan getreten, er schrieb schneller, er schrieb "schmissiger", wie Thomas mehrfach naserümpfend vermerkte, er produzierte unablässig Romane und mehr noch Novellen - und Thomas Mann stand zunächst einmal zurück, schrieb langsam, und während er noch auf das Erscheinen der Buddenbrooks wartete, war Heinrich schon ein junger Schriftsteller mit einigem Renommee. Verständlich, daß der Konkurrenzdruck schwer auf dem jüngeren Bruder lasten mußte - und daß der Wunsch hochkam, es besser zu machen als der Andere, ihn zu übertrumpfen, auszumanövrieren, die Konkurrenz so gründlich wie möglich auszuschalten. Manchmal drohte das fast in eine negative Abhängigkeit auszuarten. Diese Überbietungsbegier hält ein ganzes Leben vor, bis hin zum Felix Krull, der letzten großen, triumphalen Antwort auf den Bruder, der ja längst verstummt war und der doch immer noch ein Anlaß war, gegen ihn anzuschreiben.

Heinrich, der Ältere, sah genau, daß der Bruder, "um sicher zu stehen", vor allem die "Abwehr des Anderen brauchte". Aber Heinrich schrieb auf seine Weise nicht weniger nachdrücklich gegen das Werk des Bruders an. Es gibt fast das ganze Leben hindurch so etwas wie ein unablässiges Hinstarren auf das Werk des Bruders, bei Heinrich wie bei Thomas.

Heinrich Mann schrieb - aus Lust am Schreiben. Was trieb Thomas Mann an? Man hat sich dessen Produktivität in den letzten Jahren oft ganz anders erklären wollen: man hat in Thomas Manns Homosexualität das eigentliche Lebensproblem gesehen, darin aber auch den verborgenen Motor seines Schreibens. Wer so argumentiert, wird fast zwangsläufig zum Voyeur. Aber ist Thomas Manns literarisches Werk aus einem Leidensdruck zu erklären? Ist dieses Werk also ein ins Fiktive abgedrängtes Bekenntnis und Surrogat eines nicht ausgelebten Lebens? Bedenken wir: fast alle Beziehungen, seien es die zu Paul Ehrenberg, Otto Grautoff, Korfiz Holm, Armin Martens, Klaus Heuser, Franz Westermeier und wie sie alle heißen, haben im erzählerischen Werk Thomas Manns kein Eigenleben. Wie weit hat Thomas Mann überhaupt Personen an sich herangelassen und in sich eingelassen? Die Abwehrgesten überwiegen, das Sich-Öffnen, die wirkliche Begegnung mit Menschen bleibt immer eine mit letztlich Fremden. Mag es hier und da auch Liebesverwirrungen wie mit Paul Ehrenberg gegeben haben - die Spuren, die sie im Werk hinterlassen haben könnten, sind gründlich verwischt worden. Wie hätte sich ein Narziß wie er auch wirklich auf Andere einlassen können? Hat er sich je wirklich geöffnet, war er, direkt gefragt, zur Liebe überhaupt fähig? Heinrich hat das ja verneint. Ernsthafte Auseinandersetzungen gab es mit niemanden und nirgendwo - deuteten sie sich an, verschloß Thomas Mann sich eher, als daß er sich ihnen gestellt hätte. Konflikte gab es nur mit einem: mit Heinrich. Und lange Jahre hat Thomas Mann eigentlich ein quasi komparatives Leben geführt, hat sich stets mit dem Bruder verglichen; der war nicht einfach wegzuschieben; er mußte sich ihm immer wieder stellen. Später, vor allem im amerikanischen Exil, war Heinrich Mann längst abgehängt, war keine Gefahr mehr - und dennoch gab es jene untergründigen und fast unverständlichen Ängste vor dem Wiederaufflammen von Heinrichs Einfluß. Heinrich kam ihm am Ende seines Lebens anders bei: mit einem satirischen Bruderporträt, das seinesgleichen sucht. Und mit einem letzten Gespräch, ins Romanhafte übersetzt, das gleichzeitig die Anerkennung des Bruders enthält wie auch eine Abrechnung mit ihm: alles in allem eine Bestandsaufnahme dieser Brüderlichkeit am Rande des Todes, in wenigen Zeilen, die dennoch alles noch einmal enthüllen.

Aber auch Thomas hatte mit Heinrich abgerechnet, schon immer. Der lebenslange Disput hat frühe Kulminationspunkte. Bereits in den Buddenbrooks findet sich jener Satz, den Thomas Buddenbrook zu seinem Bruder sagt: "Ich bin geworden, wie ich bin, weil ich nicht werden wollte wie Du. Wenn ich Dich innerlich gemieden habe, so geschah es, weil ich mich vor Dir hüten muß, weil Dein Sein und Wesen eine Gefahr für mich ist... Ich spreche die Wahrheit". Wer wollte leugnen, daß in diesem Zwiegespräch zwischen Thomas und Christian Buddenbrook nicht auch schattenhaft etwas von dem hineindringt, was die Beziehung der Brüder Thomas und Heinrich angeht? Identitätsstiftung durch Abgrenzung. Hat Thomas Buddenbrook einen unvoreingenommenen Blick für den anderen gehabt? Nirgendwann und nirgendwo - sein Wesen erklärt er ja selbst aus der gewollten und bejahten Andersartigkeit dem Bruder gegenüber, den will er gar nicht in seiner Eigenart verstehen. Aber so wie Christian in den Buddenbrooks als Warnung immer dabei war, so im wirklichen Leben Heinrich - als Drohung, als Herausforderung, als Menetekel. Wer sich selbst aus der Unterschiedichkeit zum Bruder definiert, muß sich mit diesem auseinandersetzen, um seine Eigenart zu sichern. Die große Fehde mit dem Bruder 1903 kommt also nicht zufällig, so wenig zufällig in Thomas Manns erstem Roman von einer feindlichen Brüderschaft die Rede ist.

Für Thomas hatte die Auseinandersetzung mit dem Bruder schon vor den Buddenbrooks begonnen; bereits sein erster Roman war eine Antwort auf den Bruder. Denn einen Familienroman hatte auch Heinrich geschrieben mit dem Titel In einer Familie. Dieser Roman stand in der Tradition der Familienromane des 19. Jahrhunderts, nahm andererseits den Stoff aus der eigenen Herkunft - wie Thomas Mann wenige Jahre später. Es war bei Heinrich die Geschichte einer drohenden Familienkatastrophe, die noch rechtzeitig abgewendet wurde; am Horizont hatte sich der mögliche Verfall einer Familie schon gezeigt, aber Heinrich hatte seine Geschichte gut enden lassen, und während Familiendarstellungen im Naturalismus alle ins Verderben führten, wurde hier, in Heinrichs Roman, am Schluß eine heile Welt beschworen, endete die Geschichte nicht im resignierenden "Es hat alles so sein müssen". In Heinrichs Roman ging nicht eine bürgerliche Welt zugrunde, sondern wurde sie gerade darin beschworen, wo sie durch zwei Jahrhunderte ihre Domäne gehabt hatte: in der Familie. Am Schluß enthielt der Roman eine Aufforderung zur Rückkehr zum "Glauben", bot religiös-moralische Aufrüstung. Aus dem drohenden Verfall wird bei Heinrich eine neue Auferstehung, eine glänzende Zukunft steht unmittelbar bevor, da findet sich nichts von "seelischen Verfeinerungen und ästhetischen Verklärungen" wie bei Thomas Mann: ein Familiengemälde mit einiger Larmoyanz, humorlos. Der Roman ließ im übrigen an Rührseligkeit nichts zu wünschen übrig.

Thomas Mann schrieb mit seinen Buddenbrooks nicht nur, aber auch gegen diesen Roman seines Bruders an. Buddenbrooks: der erbarmungslose Niedergang einer Familie, Auflösung und "Abwärts", wie der Roman ja ursprünglich heißen sollte. In seinem Notizbuch hatte Thomas Mann schon früh zum Roman notiert: "In der Hauptsache: alles hat seine Zeit. Abgewirtschaftet. Fatalismus. Resignation". Aus dem temporären Hinab bei Heinrich ist bei Thomas Mann eine Art unumkehrbarer Naturnotwendigkeit geworden: ist einmal abgewirtschaftet, "dann kommt eines zum anderen, Schlappe folgt auf Schlappe, und man ist fertig". Bei Heinrich am Schluß die fromme Kehrtwendung - bei Thomas gingen nicht nur die bürgerlichen Instinkte zu Bruch, da wurden auch die religiösen mißbraucht; am Ende des Romans entpuppt sich einer der Pastoren, die im Hause Buddenbrook immer häufiger ein- und ausgehen, als Erbschleicher - schlimmer konnte es nicht kommen. Ja, das war Verfall, Heinrichs Roman auf den Kopf gestellt, und so triumphierte Thomas Mann: die eigene Familiengeschichte der Manns war wie bei Heinrich hineingebracht, aber da gab es keine betuliche Schlußidylle, da war alles hinübergespiegelt in ein düsteres Verfallsgemälde der eigenen Zeit. Das hatte Heinrich Mann mit keiner Zeile seines Romans geschafft.

In den Roman Thomas Manns war auch eine gehörige Portion Trotz gegen Heinrich eingepackt, denn der hatte ihm nicht gerade freundlich mitgespielt. Thomas bewunderte ohne Frage den älteren Bruder und dessen Umgang mit Literatur. Heinrich war auch als Kritiker gefragt, aber seine Äußerungen über Thomas sind nicht gerade schmeichelhaft. In Thomas' "Poesie-Gedichten" findet Heinrich einen "schwärmerischen Bewunderungsausbruch", der den älteren Bruder geradezu in Schrecken versetzt. Gelegentlich ist vom "Dichterknaben Tommy" bei Heinrich in Briefen an seinen Jugendfreund Ewers die Rede. Ein Naserümpfen manchmal über die "Lyrik meines vielversprechenden Bruders", und dann ein vernichtendes Urteil: "Bei Lektüre seiner letzten Gedichte bin ich aus dem peinlichen Gefühl gar nicht herausgekommen, das mir ähnlicherweise nur Platen, der Ritter vom heiligen Arsch, verursacht hat. Diese weichliche, süßlich-sentimentale Freundschafts-Lyrelei

Als an Deiner Brust ich ruhte -
Als um den Freund den Arm ich schlang -
Und ich in süßer Lust mich wiegte -
Wenn das wahres Gefühl ist (traurig genug, wenn dies der Fall ist!), so danke ich für Obst, nehme nicht mal Käse, sondern französischen Abschied". Und ein weiteres Urteil: "Mein armer Bruder Tommy. Laß ihn nur erst in das Alter kommen, wo er unbedacht und - bemittelt genug ist, seine Pubertät zum Ausdruck zu bringen. 'Ne tüchtige Schlafkur mit einem leidenschaftlichen, noch nicht allzu angefressenen Mädel - das wird ihn kurieren. Sage ihm das aber nicht. Ironisiere die Geschichte; das hilft. Nur nichts tragisch-ernst nehmen. Er will meine Ansicht durch Dich wissen. Sage ihm also das inhaltsschwere Wort: Blödsinn. Ich denke, das genügt". Und dann noch: "Die beiden Gedichte, die er mir gesandt hat, zeigen Fortschritte, fürs erste formell. Neu, noch nichts gesagt, ist natürlich nichts daran. Auch Gedankenlosigkeit ist vorhanden - ich denke, das genügt".

Ja, das genügte. Bei Thomas überwog dennoch Bewunderung, Kritik kam zunächst nicht auf, aber früh offenbar der Wunsch, der ihn Jahrzehnte lang antreiben sollte: anzuschreiben gegen Heinrich, seine Romane und seine Novellen zu übertrumpfen; es wurde ein beständiges Schreiben in Opposition zum Werk des Bruders. So mancher Roman, so manche Novelle war denn auch ein "Anti-Heinrich". Oft war es Heinrich, der die Themen vorgab - und Thomas, der sie, Heinrich korrigierend, zu Ende führte, ihnen ein Gewicht verleihend, das sich, so meinte er, bei Heinrich nun einmal nicht fand. Der Wunsch wird bis zum letzten Roman Thomas Manns bleiben. Aber auch Heinrich antwortete. Schon als Thomas Mann an den Buddenbrooks schrieb, begann er seinen Roman vom Schlaraffenland, und es ist nur zu deutlich zu sehen, daß dieser Roman gegen die Buddenbrooks konzipiert war. Buddenbrooks: in gewissem Sinne ein historischer Roman, vier Generationen einer Familie erzählerisch bedacht - Im Schlaraffenland ist ein Gegenwartsroman, spielt im Berlin der neunziger Jahre, nicht in dem etwas verschlafenen Handelsplatz Lübeck; bei Heinrich also das Zentrum der Gründerzeit, bei Thomas die Kleinstadt. Feinziselierte Wohnzimmereinblicke in den Buddenbrooks, Breitwandschilderungen des wilhelminischen Milieus bei Heinrich; bei Thomas die Ehrlichkeit des Kaufmanns, bei Heinrich die schwindelhaften Existenzen und Nichtstuer, die Schmarotzer und Gauner in Berlin. Buddenbrooks: Niederdeutscher Humor, das Schlaraffenland eine einzige Satire; Buddenbrooks Entartung auch als seelische Verkümmerung demonstrierend, der Lebensraum in Heinrich Manns Roman eine Dschungel-Gegend, die Menschen als Raubtiere ohne jede Spur von Entartung. In Buddenbrooks der tödliche Ernst des Untergangs, im Schlaraffenland die Welt als Theaterinszenierung, als grandiose Vorstellung, an der nichts ernst zu nehmen war als das Spiel. Einen größeren Gegensatz konnte es eigentlich kaum geben Am bemerkenswertesten aber war, daß Heinrich Mann nicht Mitglieder einer Familie vorführte, sondern daß der Held im Schlaraffenland ein Typus war, denn er war ein Glückskind, und plötzlich tat sich hinter diesem Roman eine geradezu märchenhafte Welt auf: das sicherte die Identität des Helden besser als jeder Vergleich. Hier wurde nicht jemand so, wie war, weil er nicht sein wollte wie der Andere - hier wurde die Geschichte eines Fortunatus erzählt, kam eine neue Hintergründigkeit hinein, wurde eine Romangestalt diaphan. Thomas Mann griff das dankbar auf: im Felix Krull. Denn auch der ist ein Glückskind, nur großartiger noch als der Held des Schlaraffenlandes.

Doch aus dem Romanplan Thomas' wurde zunächst nichts, und es wurde auch nichts aus einem andern Plan, den Thomas Mann wohl ebenfalls gegen Heinrichs Schlaraffenland verfolgte: das war ein Roman namens Maja; der sollte, wie Heinrichs Roman, ebenfalls ein Gesellschaftsroman werden, für den Thomas Mann damals schon viel sammelte - ein Teil davon ist später in den Doktor Faustus eingegangen, etwa die Geschichte vom Trambahnmord. Auch bei Thomas Mann sollte die Gesellschaft wie in Heinrichs Schlaraffenland eine solche sein, die dem Schein lebte, und dieser Schein sollte als Schleier der Maja entlarvt werden; das Ganze war gedacht als Münchner Roman, dem Berliner Roman vom Schlaraffenland entgegengesetzt. Aber er kam nicht zu Rande mit dem Stoff, und der Gesellschaftsroman war ohnehin nicht Thomas Manns Domäne, das war Heinrichs Feld, der seine französischen Vorbilder viel besser kannte - und so wurde das Vorhaben schließlich Gustav von Aschenbach untergeschoben, der manches von dem erledigte, was Thomas Mann nicht erledigt hatte. Ist er von seinem Plan vielleicht auch deswegen zurückgetreten, weil die brüderliche Nähe zu groß war? Immerhin sollte offenbar Heinrich mehr oder weniger direkt erscheinen - als Eugen oder Albrecht. In den Notizen findet sich einmal seine Charakteristik: "Ein blonder Langschädel, elegant, mit glattem, gescheiteltem, etwas geöltem Haar, das am Hinterkopf von beiden Seiten zusammengestrichen ist, so daß die Partie hinter den Ohren ganz frei liegt. Den Mund überhängend der blonde Schnurrbart, blaue Augen von edlem Ausdruck, manchmal goldene Brille. Typus des eleganten jungen Gelehrten mit einem ganz ungewöhnlichen Anstrich von Anglizismus. Dabei Koketterie mit Romanentum". Das war Heinrich, der übrigens auch blaue Augen hatte, und das Bild des Bruders, der Wunsch, ihn in seine Romane einzuverwandeln, kam später noch wiederholt. In Königliche Hoheit tritt Eugen bzw. Albrecht als älterer Bruder ziemlich unverblümt wieder auf, aber noch im Doktor Faustus wird Heinrich sich wiederfinden in jener Figur des Privatdozenten Institoris, der zu jenem Typus gehört, der, "während ihm die Schwindsucht auf den Wangenknochen glüht, beständig schreit: 'Wie ist das Leben doch so stark und schön'". Heinrich taucht hier also höchstpersönlich im Roman Thomas Manns auf. Aber dann hat er doch wohl davor zurückgescheut, sich mit dem Bruder derart offen anzulegen. Das tat er erst knapp ein Jahrzehnt später: in Königliche Hoheit. Dafür antwortete Heinrich auf die Buddenbrooks, und er antwortete gleich mehrfach. Seine erste Antwort: Die Jagd nach Liebe, 1903 erschienen: statt Lübeck mit seiner Senatorenwelt das gründerzeitliche Schwabing der Jahrhundertwende, und noch einmal, nun aber ins Satirische gezogen, der Held des Romans als schwacher Bürger und Letzter seiner Art, der sich als Verfallsprodukt zu erkennen gibt: "Ich bin das Endergebnis generationenlanger bürgerlicher Anstrengungen", sagt er, "gerichtet auf Wohlhabenheit, Gefahrlosigkeit, Freiheit von Illusionen; auf ein ganz gemütsruhiges glattes Dasein. Mit mir sollte das Ideal bürgerlicher Kultur erreicht sein. Tatsächlich ist bei mir jede Bewegung zu Ende; ich glaube an nichts, hoffe nichts, erstrebe nichts, erkenne nichts an: kein Vaterland, keine Familie, keine Freundschaft... ich letzter schwacher Bürger." Das ist unzweideutig gegen die Buddenbrooks gesagt, und die Botschaft lautete: erst hier ist die bürgerliche Kultur an einen Abschluß gekommen, die Auflösung nicht ein physisches Ereignis, sondern sehr viel stärker als in den Buddenbrooks von geistig-seelischer Art. Dieser Dekadente in Heinrichs Roman war auf schlimmere Art am Ende als die Familie Buddenbrook. So ist Heinrichs Roman in gewissem Sinne also sogar eine Art Fortsetzungsroman zu den Buddenbrooks. Es fehlte im übrigen nicht an satirischen Bemerkungen, die ohne Zweifel auf Thomas gemünzt waren: etwa wenn es heißt: "Schwäche ist vornehm", wenn von der "Stilisierung der eigenen Person" die Rede ist oder auch vom "strengen Glück", mit dem Tonio Kröger gemeint ist - Thomas Mann wird die Wendung übrigens später aufgreifen: Mit diesen Worten endet Königliche Hoheit.

Aber der Dialog mit dem Roman des Bruders wird noch auf einem anderen Feld geführt. Denn hier, bei Heinrich, wird zugleich die Geschichte der Emporkömmlinge geschrieben, und während die Hagenströms in den Buddenbrooks nur undeutlich und eher schattenhaft eine Rolle spielten, kommen hier die Proleten ungehindert hoch, und niemand hemmt sie. Der alte Panier, solch ein proletarischer Lebenskämpfer, erklärt: "Wenn mal 'ne zu flotte Zeit gewesen ist im Lande, wenn alle zuviel produziert, zu hoch spekuliert und unsere Terrains darum einen zu hohen Wert gekriegt haben, dann kommt meinetwegen irgend 'ne alberne Börsennachricht - braucht gar nicht mal wahr zu sein - und alles kracht, wir zuerst. Wie es gerade mit der Volkswirtschaft geht, so geht es mit uns". Furchterregende Perspektiven. Der schwache Erbe entgegnet: "Wir sind die reinste Falle, ein Loch ohne Boden. Die Leute stecken ihr Geld hinein, und von unten wird es immer weggeholt. Kommen sie dann in der Not, ist gar nichts da." Aber der hochgekommene Prolet beruhigt ihn und sagt: "Und dann, das Feine ist, daß wir überhaupt nicht Pleite gehen können. Dazu ist unser Betrieb viel zu verwickelt. Das eine versteigern sie uns... was macht das? Wir kaufen uns was anderes. Und daß zu viele Leute dabei zu Schaden kommen, ist auch nicht wahr, schon weil wir immer wieder hochkommen". Die ist die Siegesgewißheit der Aufsteiger. Heinrich Manns Botschaft an den Bruder lautet: Nicht die Dekadenz hat das letzte Wort, sondern jene Mentalität, die nicht "an Bedenken" leidet. Dem jungen Millionenerben, der so dekadent ist, sagt der Alte: "Ihr macht's nicht halb so lange wie wir." Im übrigen zitiert Heinrich Mann den Lieblingsspruch des Permaneder aus den Buddenbrooks: "Is dees a Hetz". Thomas aber behält einiges über Jahrzehnte hinweg: Paniers Rede über physiologische Körpervorgänge, über Gicht und Kohlenstoff und Stickstoffe im Körper, über die intensive Verkohlung, die unvollkommene Oxydation findet sich in der Rede des Hofrats Behrens im Zauberberg wieder, der es ähnlich mit der Oxydation hat, mit der Verbrennung, der wie jener Panier erklärt: "Leben ist hauptsächlich auch bloß Sauerstoffbrand". Thomas Mann zahlt dem Bruder die Zitiererei aber auch noch anders heim. Wenn eine Romangestalt bei Heinrich sagt: "Die Frau [...] ist die Probe, der jeder von uns unterworfen ist und bei der er zeigt, ob er Zukunft im Leibe hat", dann redet er, wie später Peeperkorn redet; der wird die Probe jedoch nicht mehr bestehen.

Aber zunächst gab Thomas die literarische Marschrichtung vor. Wie sehr sein Verfallsroman Heinrich beeinflußt hat, zeigt auch dessen zweite Entgegnung, der Roman Die Göttinnen. Es sind eigentlich drei Romane der Herzogin von Assy, und sie spielen im Süden, in einer mediterranen Welt, nicht im düsteren Lübeck: statt Niedergang, Verfall und Vereinzelung ein bedenkenloses Leben weit über alle Verhältnisse hinaus, heroisches Dasein und Vitalismus, keine blauen Äderchen an der Stirn und kranke Zähne, die als Stigmata des Untergangs immer wieder in den Buddenbrooks auftauchen, sondern Heinrichs Roman ein einziger Hymnus auf das Leben; nicht mehr ein sich immer stärker verengender Schauplatz wie in Lübeck, sondern eine bunte Welt von Revolutionären und Hofschranzen, Aristokraten jeglicher Couleur, Prinzen und Monsignores, Kardinälen und dunklen Ehrenmännern, Prälaten und Volksmengen: es wimmelt nur so von Leben. Das alles herumgruppiert um eine starke Persönlichkeit, und der Herzogin ist alles recht, "was hohes Lebensgefühl verschafft". Keine versagenden Nerven, sondern ein wildes Dasein, Schönheitsrausch, das Leben ein einziger Taumel, ein Bacchanal in Permanenz. Es sei, so Heinrich Mann, "die Rückkehr aus langer Weltfeindlichkeit", und an Erotik war auch einiges versammelt: "Ihre Liebesgeschichten haben die Unbedenklichkeit antiker Fabeln", hatte Heinrich Mann selbst notiert. Der Mythos des Lebens - während in den Buddenbrooks jeder Versuch, aus dem Gefängnis des Daseins auszubrechen, schon im Kein erstickt wurde, war hier das Leben ein höchstes heidnisches Fest. Einmal eine wilde Schilderung einer Ernte, als Fresko an der Decke eines Saales zu betrachten: ein Saal der Venus. Ein Bild des entfesselten Lebens. Bei aller Sittenstrenge: es muß Thomas Mann gereizt haben, er hat es nicht vergessen - denn im Tod in Venedig geht es nicht weniger schamlos zu als in den Göttinnen, da erscheint der fremde Gott Aschenbach im Traum, und wenn in den Göttinnen "Hermen entschleiert wurden vor erwartungsvollen Jungfrauen", wird im Tod in Venedig "das obszöne Symbol, riesig, aus Holz" enthüllt und erhöht. Also bei Heinrich leidenschaftliches Leben, Verherrlichung der Sinnlichkeit, wilder Hedonismus und Zügellosigkeit der Sinne als Inbegriff des Daseins, Thomas Mann der etwas neidische Kopist? Um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen: erlebt davon war bei Heinrich nichts, die Schilderung der Ernte, bei der es so zügellos zugeht, hatte er in Heines kleiner Schrift Die Götter im Exil gefunden, und Heinrich ist vermutlich auch der Lieferant dieses Fundes an Thomas. Das große zügellose Leben: bei beiden ist es am Ende nur Literatur. Aber auch in den Göttinnen selbst fehlt es am Ende an dem, wovon die Herzogin von Assy träumt. Denn eigentlich ist es eine alternde Gesellschaft, die hier ihre Abschiedsvorstellung gibt, und der letzte Liebhaber der Herzogin sagt: "Man lebt gar nicht mehr. Wir alle sind heruntergekommen, blasiert und dekadent - aus zweiter Hand ist alles". Man lebt eben vielfach im Zitat. Ein Maler, der eine unmißverständliche Lenbach-Karikatur ist, bekennt stellvertretend: "Wir sind heute alle auf das Kranke angewiesen. Wo immer ein Verfall röchelt, da antworten wir. Das ist unser Beruf". "Wir" - ist das der Bruder? Wer sonst? Eine böse Sottise, Thomas Manns Buddenbrooks verhöhnt. Der merkte das freilich nur zu bald, und die Antwort kam in einem Brief, der es in sich hatte.

Die Attacke vom 5. Dezember 1903 war mörderisch, der Bruder war zum Gegner geworden, den es zu vernichten galt. Früher sei er, Thomas, sich geradezu plebejisch, barbarisch und spaßmacherhaft vorgekommen im Vergleich mit der vornehmen Liebhabernatur des älteren Bruders, der so ganz voller Diskretion und Kultur, voller Reserve einer zweifelhaften Modernität gegenüber gewesen sei, frei von jeglichem Applausbedürfnis; Heinrich als eine "delikate und hochmütige Persönlichkeit, die wohl ihr Publikum in Deutschland gefunden habe. Aber nun, statt dessen? "Statt dessen nun diese verrenkten Scherze, diese wüsten, grellen, hektischen, krampfigen Lästerungen der Wahrheit und Menschlichkeit, diese unwürdigen Grimassen und Purzelbäume, diese verzweifelten Attacken auf des Lesers Interesse - ich lese... und kenne dich nicht mehr. Alles ist verzerrt, schreiend, übertrieben, Blasebalg, buffo, romantisch also im üblen Sinne, dick aufgetragene Kolportage-Psychologie", und statt der Jagd nach Liebe hätte das Buch eigentlich, so Thomas, "Die Jagd nach Wirkung" heißen sollen.

Der Vorwurf also: allzu rigide Publikumsorientierung. Die Wirkung aber werde den Bruder korrumpieren, so meinte Thomas, und erklärte Heinrich zum Zerrbild des Leistungsethikers, weil er in Quantitäten messe statt in Qualität. Es ist, kein Zweifel, purer Neid, der da hochkommt, dazu Angst vor brüderlichem Raubrittertum, Verletzung des Urheberrechts, Diebstahl und Persiflage ernstgemeinter Pläne durch Heinrich, und zu alledem die Schnellfertigkeit des Bruders. Heinrich ein Leichtfuß, das Buch künstlerische Unterhaltungslektüre. Aber gewichtiger ist der Vorwurf an Heinrich, dem Sexualismus zu frönen. Was er meinte, sagte er deutlich genug: "Sexualismus ist das Nackte, das Unvergeistigte, das einfach bei Namen Genannte. Es wird ein wenig oft bei Namen genannt in der Jagd nach Liebe. Wedekind, wohl der frechste Sexualist der modernen deutschen Literatur, wirkt sympathisch im Vergleich mit diesem Buch. Warum? Weil er dämonischer ist. Man spürt das Unheimliche, das Tiefe, das ewig Zweifelhafte des Geschlechtlichen, man spürt ein Leiden am Geschlechtlichen, mit einem Worte man spürt Leidenschaft. Aber die vollständige sittliche Nonchalance, mit der deine Leute, haben sich nur ihre Hände berührt, mit einander umfallen und l'amore machen, kann keinen besseren Menschen ansprechen. Diese schlaffe Brunst in Permanenz, diese fortwährende Fleischgeruch ermüden, widern an".

Ja, das alles war Thomas Mann wohl sehr zuwider, und Heinrich Mann revanchierte sich später etwas mokant gerade in dieser erotischen Frage, als er schrieb: "Schade, daß die von drüben für mich nur Mißbilligung haben; es entgeht ihnen Genuß". Ein kleiner versteckter Hinweis auf die Homosexualität Thomas Manns, die dem Bruder natürlich nicht verborgen geblieben war - und Thomas verstand, wovon Heinrich sprach.

Der Haß auf den Bruder, das Besserwisserische, die moralische Verurteilung Heinrichs: hier brach das alles erstmals mit geradezu vulkanischer Gewalt aus. Da sprach aus Thomas Mann der Sittenrichter, der Moralist und der Zensor. Aber der Angriff galt nicht weniger dem pausenlos publizierenden Kontrahenten, dem Konkurrenten auf dem literarischen Markt. Vor allem aber auch hier: Identitätssicherung durch Abgrenzung. Und hinter alledem wird schattenhaft sogar ein Selbstbildnis Thomas Manns, werden Maximen des eigenen Lebens sichtbar: Disziplin und Leistung, Arbeitsmoral und das Buch nicht als Quantität, sondern als intellektuelle Herausforderung. Es ist Thomas, der seinen eigenen Lebenskurs zu stabilisieren versucht, indem er den des Bruders in Frage stellt - ganz wie in den Buddenbrooks jener andere Thomas seinem Bruder Christian die Leviten las. Er wird seiner selbst sicherer, wenn er dem Bruder seine literarische Leichtfertigkeit vorhält. Wenn man den bösen Brief noch einmal liest, könnte man meinen, Thomas Mann habe hier am Ende tatsächlich mehr über sich als über den Bruder geschrieben, und das gründlicher, nachdrücklicher und mit mehr Selbstrechtfertigung getan als sonst irgendwo in dieser frühen Zeit.

Die Wirkung dieses Briefes auf Heinrich war verheerend. Seine Empörung ist verständlich, und nach ersten fragmentarisch hingeworfenen Notizen auf der Rückseite des Briefes, den er erhalten hatte, schrieb er einen großen Brief zurück, der erst vor wenigen Jahren in einer Entwurfsfassung bekanntgeworden ist. Heinrich verteidigt das Erotische in seinem Roman von der Jagd nach Liebe, reklamiert für sich und sein Buch nichts anderes als Hellenismus, Sensualismus, sinnliche, auch menschliche, ja sogar politische Freiheit. Deutlich zu sehen: auch das ist (angelesener) Heine. Aber dieser ganze "geschlechtlich amoralistische Zug der Befreier, der die Geschichte Europas unter Triumphen und Niederlagen von einem Ende zum anderen durchzieht", er male sich in Thomas Manns Kopf ab als Zug von "Affen und Südländern" - und man versteht, warum Tonio Kröger nicht nach Italien reisen will, wo alle diese "schrecklich lebhaften [...] Menschen mit dem schwarzen Tierblick" leben. Doch dann der Vorwurf an Thomas: ihn beherrsche eine andere Macht, die ihn lenke und stärke, nämlich das chauvinistische und reaktionäre Deutschland Wilhelms II. War Thomas Mann also dem Denken und vor allem dem Männlichkeitswahn der Gründerjahre tief verhaftet? Nicht er, Heinrich, schreibe auf Öffentlichkeitswirkung hin, sondern Thomas: "Du fühlst hinter Dir", so sagt Heinrich ihm, das beruhigende, stärkende Stimmengewirr eines Volkes. Hunderttausende, die Deine Sprache sprechen, haben in dunklem Drängen ungefähr das, was Du aus Deiner inneren Erfahrung herausläßt. Die Gefahr besteht für Dich höchstens darin, daß Du allzu wohlig in die nationale Empfindungsweise untertauchst, daß das Leben [...] bei Dir gar zu heiter-formlos wird [...] und die Frauen bei Dir nur noch kastriert vorkommen".

Thomas war auf prinzipielle Ablehnung aus gewesen, inszenierte die Kain-und-Abel-Geschichte neu - Heinrich aber war der Verständnisvollere, schrieb dem Bruder am Ende, daß er über sich gesprochen habe, weil er, Thomas, vielleicht der einzige sei, der den Weg zum Bruder etwas weniger leichter verfehle - wenn es ihm denn der Mühe wert sei, näherkommen zu wollen. Vorsichtiger kann man eine erbetene Wiederannäherung wohl nicht formulieren.

Thomas lenkte ein. Er schrieb: "Herzlichen Dank für Deinen Brief! Es ließe sich wiederum eine Menge darauf erwidern, aber hole es der Teufel! Uns beiden ist am wohlsten, wenn wir Freunde sind - mir gewiß. Es sind meine übelsten Stunden, wenn ich Dir feindlich gesinnt bin." Er, Heinrich, sei ihm am menschlicher Vornehmheit und an seelischer Reinheit und Klarheit weit überlegen, und dann folgt quasi ein Selbstgericht: "Du weißt doch, daß mit mir nicht zu disputieren ist; es geht schriftlich so wenig wie mündlich".

Ist das das Ende eines Bruderkriegs? Nicht ganz. Er ließ tatsächlich nicht mit sich disputieren. Ein Jahr später schrieb Thomas Mann an die Lübecker Freundin Ida Boy-Ed über seinen Bruder Heinrich: "Haben Sie geglaubt, daß ich ein Verhältnis zu seinen Sachen habe? Wegen seines letzten Buches haben wir uns beinahe überworfen. Dennoch ist die Empfindung, die mir seine künstlerische Persönlichkeit erweckt, von Geringschätzung am weitesten entfernt. Sie ist eher Haß. Seine Bücher sind schlecht, aber sie sind es in so außerordentlicher Weise, daß sie zu leidenschaftlichem Widerstand herausfordern. Ich rede nicht gern von der langweiligen Schamlosigkeit seiner Erotik, von der geistlosen und unseelischen Betastungssucht seiner Sinnlichkeit. Was mich empört, ist die ästhetisierende Grabeskälte, die mir aus seinen Büchern entgegenweht".

Grabeskälte? Die war gelegentlich wohl eher um Thomas Mann selbst herum zu spüren.

Mit Heinrich gab es noch ein paar Rückzugsgefechte. Mit wachsendem Erfolg der Buddenbooks und der Novellen Thomas Manns wuchs auch die Selbstsicherheit. Die Auflage der Buddenbrooks ging ins achtzehnte Tausend, die der Novellen ins dritte, und er sah schon seine "Rolle als berühmter Mann" vor sich. Die Zeitungen reißen sich nach seinen Beiträgen, und Thomas Mann schreibt an einem einzigen Tag nach Amsterdam, Malaga und New York, sagt Einladungen nach Breslau und Lübeck ab, aber wenn er dann liest, wird er sehr gefeiert, und vor allem: er ist gesellschaftlich eingeführt. Die Pringsheims: "ein Erlebnis, das mich ausfüllt", schreibt er, "Tiergarten mit echter Kultur". Und nach den Empfängen im Palais Pringsheim stellt er fest: "Ich habe im Grunde ein gewisses fürstliches Talent zum Repräsentieren, wenn ich einigermaßen frisch bin". Das war nicht selbstironisch gesagt, obwohl es so klingen sollte: Thomas hatte in seine Rolle hineingefunden: in die des Repräsentanten, auch wenn nicht so ganz klar war, was er denn eigentlich repräsentiere.

Aber wie sicher war er in dieser Frühzeit seiner selbst tatsächlich geworden? Aus dem Jahr 1905 stammt die frühe Erzählung Schwere Stunde. Es ist Schillers Leidensgeschichte. Da schreibt ein Verzweifelter, da gibt es Gewissensqual, denn Wallenstein ist nicht nur nicht fertig, das Drama erscheint ihm vollkommen mißlungen, und dieser Schiller konstatiert in dieser nächtlichen Stunde nichts Geringeres als seinen literarischen Bankrott, er selbst ist erschöpft und fertig, bei ihm gibt es Versagen und Verzagen; die verächtliche Kunst des guten Gewissens ist nicht Schillers Sache, sondern Kampf, Not und Leiden am Werk. Das war Schiller, aber es war zugleich auch Thomas Mann: denn die Angst vor Versagen und Verzagen, die kannte auch er; sie ist ihm immer ein Begleiter gewesen, und manchmal brach sich das ja auch literarisch Bahn, so in manchen Gestalten früher Novellen, die nicht weniger erschöpft und fertig waren als Schiller in dieser Erzählung. Da projiziert sich der Autor in die Geschichte vom einsamen Kampf des mit sich und seinem Werk ungenügsamen und unzufriedenen Schiller hinein, aber da gibt es auch anderes: Leidenschaft für sein "eigenes Ich", dieses mit einer "begeisterten Zärtlichkeit für sich selbst erfüllt", wenn auch alles im Dienst der Kunst - ganz so, immer noch so wie in Thomas Manns erster Erzählung Vision. Die Ichsucht ist also geblieben, und zugleich das Bewußtsein, sich dennoch bei alledem im Dienst von irgend etwas Hohem zu verzehren und aufzuopfern. Das war Schiller, aber es war auch Thomas Manns ureigenste Art und sein Künstlertum, das er hier mit Schiller in Worte zu fassen versuchte. Das Schreiben: ein einziges Ringen, ein Leidensweg. Dahinter die Sehnsucht "nach Form, Gestalt, Begrenzung, Körperlichkeit", alles in allem das Bekenntnis eines Leistungsethikers, der das Fertigmachen zu seiner Pflicht zählt, gerade weil sie so schwer zu erfüllen ist

Aber da ist ein Anderer mit anwesend in dieser schweren nächtlichen Stunde, der Schiller vertraut ist und gegen den er sich doch wehren muß, Goethe also, dem alles leicht zu fallen scheint, was ihm, Schiller, eine so unsägliche Mühe bereitet. Er ist präsent, wann immer Schiller schreibt, und er zwingt ihn, "das eigene Künstlertum gegen das des Anderen zu behaupten und abzugrenzen". Eines schien Schiller sicher zu sein: "der Andere hatte es leichter.... der wußte zu leben, zu schaffen, mißhandelte sich nicht, war voller Rücksicht gegen sich selbst". Schiller führt hier ein beklemmendes und quälendes Selbstgespräch, aber er spricht zugleich mit Goethe, und hier ist wieder das, was für Thomas Mann so charakteristisch in seinen frühen Jahren war: Selbstbestimmung durch Gegensätzlichkeit. Auch Schiller versteht sich in dieser nächtlichen Stunde von einem Anderen her, um dem Unbestimmten in sich selbst Konturen zu geben; und so ist denn das eigentliche Thema in dieser kleinen Novelle, wie Schiller gegen Goethe bestehen kann, und deutlich ist: er kann nur bestehen, wenn er sich gegen den Anderen absetzt, sich abgrenzt gegen den weltläufigen Granden am Weimarer Hof; es ist die Andersartigkeit Goethe gegenüber, die Schillers Selbstbewußtsein bestimmt. Historisch gesehen ist das alles Unsinn. Goethe war für Schiller eine Bedrohung und Herausforderung nur in der frühen Weimarer Zeit gewesen - seit 1794 war alles eitel Harmonie, bei aller Gegensätzlichkeit, um die beide wußten, wobei sie darin weit mehr Ergänzungen sahen. 1798, in der Wallenstein-Zeit, konnte von einer derartigen Präsenz Goethes bei Schiller, wie Thomas Mann sie beschrieb, wirklich keine Rede sein.

Statt dessen war da etwas anderes. Hinter Goethes Schatten wird in dieser Erzählung von Schillers schwerer Stunde, die eigentlich von Thomas Manns schwerer Stunde handelt, noch ein zweiter Schatten sichtbar: der des Bruders Heinrich. Denn natürlich tritt Thomas Mann, wenn das Schiller-Porträt sein Selbstporträt enthalten soll, nicht in Konkurrenz zum Weimarer Goethe: der Konkurrent ist Heinrich. Und noch einmal ruft Thomas seinen ganzen Vorbehalt gegen den etwas älteren Bruder herauf, um sich in der Abgrenzung gegen ihn seiner Eigenart zu vergewissern. Daß auch Bruder Heinrich präsent ist, verrät die Sprache Thomas Manns: bei ihm, beim Künstler, so der Autor über Schiller und zugleich über sich, wurde das Talent zum Schmerz, sprudelte nichts und sprudelte es niemals, "sein Mißtrauen würde erst eigentlich beginnen, wenn es das täte". Doch dann kommt die Volte gegen Heinrich: "Nur bei Stümpern und Dilettanten sprudelte es, bei den Schnellzufriedenen und Unwissenden, die nicht unter dem Druck und der Zucht des Talentes lebten". Die Schnellzufriedenen: das sind auch die Schnellfertigen. Bei Heinrich sprudelte es unaufhörlich, Roman um Roman, Novelle um Novelle, Jahr um Jahr, und von der Zucht des Talents konnte keine Rede sein.

Sah Heinrich die erneute Attacke? Vermutlich, auch wenn er das nicht zu erkennen gegeben hat. Das war ohnehin nicht Heinrichs Art. Aber er antwortete auf seine Weise, indem er gegen die Buddenbrooks, den bislang einzigen großen Roman des Bruders, weiterhin anschrieb. Im Schlaraffenland und Die Göttinnen waren schon Gegenstücke zu den Buddenbrooks gewesen, und Professor Unrat war ein drittes. Hier variierte Heinrich das Untergangsthema, variierte auch die Schulgeschichte, indem er die Perspektive Thomas Manns umkehrte: nicht die Schüler standen im Vordergrund wie in jenem Kapitel über einen Tag aus dem Leben des kleinen Hanno Buddenbrook, sondern ein Lehrer, eben Professor Unrat. Und es ging nicht mit den Schülern abwärts, sondern abwärts mit einer ganzen Welt. Auch Professor Unrat ist unzweifelhaft eine Absturzgeschichte, aber da wird nicht vom Abstieg einer dekadenten Familie berichtet und wird der freie Fall nicht in Kontobüchern bilanziert: wenn Unrat am Ende ist, dann ist das wie ein Weltuntergang: er "floh wie über eine sinkende Dämmerung, unter Wolkenbrüchen, an speienden Vulkanen hin, alles um ihn her fiel auseinander und riß ihn in Abgründe". Das ist ein Sturz in die Unterwelt, das ist nicht der Tod eines Senators auf dem Lübecker Pflaster; dieser Oberlehrer-Zeus ist ein Weltenherrscher mit dämonischen Zügen, der schließlich in die Tiefe, in die Hölle stürzt. Ja, auch das war ein "Abwärts", und diese Untergangsbeschreibung konnte durchaus mithalten mit jener aus den Buddenbrooks.

Aber ein Gegenroman war Professor Unrat noch in anderer Hinsicht: er richtete sich gegen alles, was Heinrich am Ästhetizismus des Bruders störte, und das war vor allem das esoterische Gehabe, die priesterliche Aura, das Pretios-Ätherische des Künstler-Daseins, das Selbstquälerische und Zweifelsüchtige. In Professor Unrat trat eine Tänzerin auf, die auf bloßen Füßen griechisch tanzte - eine einzige Persiflage auf alles, was bei Thomas Mann den so oft und mit soviel Lust an sich selbst leidenden Künstler ausmachte. Schlimmer hätte Tonio Kröger gar nicht parodiert werden können. Tonio Kröger als halber Künstler und gänzlich verirrter Bürger - die Künstlerin Fröhlich war vom Bürgerleben so weit entfernt wie Unrat vom Künstlerischen. Nichts mehr von der Aristokratie des echten Artistentums, von Würde der Kunst und zuchtvoller Andacht des Künstlers: das ist in Professor Unrat herabgewürdigt, ins schräge Licht einer Kaschemme gezogen. Das einsame Leiden des mit sich und der Welt ringenden Künstlers, Schillers Schwere Stunde - hier wird alles zum Tingeltangelereignis, die sogenannte Kunst ist ein billiges Vergnügen, und aus den psychischen Problemen des Künstlers, von Thomas Mann immer wieder selbstquälerisch durchleuchtet, sind im Boudoir der Künstlerin Fröhlich Ankleidungsprobleme geworden. Das Schmierentheater um die Künstlerin Fröhlich: eine einziger Affront gegen alles, was bei Thomas Mann mit Kunst zu tun hatte. Also Künstlerparodie, und eine sarkastische Antwort auch auf die klassizistische Götterlehre, wie sie sich in den Buddenbrooks darstellt; aus der züchtigen Venus Anadyomene, wie sie im Gedicht des Hauspoeten Hofstede zu Beginn der Buddenbrooks auftritt, als alle im Götterzimmer sitzen, ist hier Venus als dämonische Zerstörerin geworden. Sie hat ebenfalls rötliches Haar wie die klassizistische Venusgestalt der Gerda Buddenbrook; aber hier gibt es keine wohltemperierte Antikenverehrung, hier ist irrlichterndes Venusberggelände, aus dem alle guten Geister vertrieben sind, und während man sich in den Buddenbrooks gepflegt zur Tafel setzt, gibt es im Hause Unrats vor den Toren Lübecks eine Orgie nach der anderen. Wenn Thomas Mann zum Roman des Bruders geschrieben hatte: "eine gottverlassene Art von Impressionismus", dann hatte er zumindest in einem Unrecht: Götter waren bei Heinrich durchaus präsent, aber es waren andere als jene, die in den Buddenbrooks zitiert wurden. Aber auch sonst gefiel Thomas nichts am Romans des Bruders. Seine Kommentare: "künstlerische Unterhaltungslektüre. Das alles ist das amüsanteste und leichtfertigste Zeug, was seit langem in Deutschland geschrieben wurde. Unmöglichkeiten, daß man seinen Augen nicht traut". Und: "Ich halte es für unmoralisch, aus Furcht vor den Leiden des Müßigganges ein schlechtes Buch nach dem anderen zu schreiben". Es sei "Belletristentum, das sich ins Zeug legt. Das Buch scheint nicht auf Dauer berechnet". Aber da irrte Thomas Mann. Es wurde sogar auf wunderbare Weise verfilmt. Und Heinrich Mann sagte nicht ohne Stolz: "Mein Kopf - und die Beine von Marlene Dietrich".

Noch eine vierte Antwort in Romanform auf die Buddenbrooks war Heinrich Manns Roman Die kleine Stadt. Auch das ist ein Anti-Roman, gerichtet gegen "Heimatskunst" und gegen "Ästhetizismus", aber vor allem gerichtet gegen die Buddenbrooks, und wenn der Lübecker Roman des Bruders die Geschichte eines Abstiegs war und eines Endes - Heinrich Manns Roman ist eine Aufstiegsgeschichte, die Geschichte einer Befreiung und eines neuen Zeitverständnisses. In den Buddenbooks ist es eine aristokratisch-großbürgerliche Umgebung - Heinrich Manns Geschichte spielt im Volk. In den Buddenbrooks ist das Theater eine höchst suspekte Institution - in der Kleinen Stadt wird die Aufführung einer Komödiantentruppe zu einem Siegeszug. Familiengeschichte in den Buddenbrooks, republikanische Geschichte in der Kleinen Stadt, düsteres und oft lichtloses Norddeutschland bei Thomas, der strahlende Süden bei Heinrich; auf der letzten Seite der Buddenbrooks ist nachzulesen, daß über die Zukunft "fast gar nichts zu sagen" war - Heinrichs Roman ist ein einziger Hymnus auf die Zukunft, und das Kleinstädtische des Örtchens Palestrina, das Heinrich Mann so liebevoll ausgemalt hat und das gleichzeitig ironisiert wird, ist wohl auch mit einiger Ironie gegenüber der bei aller Großbürgerlichkeit kleinstädtischen Atmosphäre Lübecks beschrieben. Aber vor allem gibt es hier einen Gegensatz auch im Politischen: Der Lübecker Arbeiteraufstand in den Buddenbrooks erscheint als Groteske, als Farce, die schließlich ins Karnevalistische ausartet - aber Heinrich denkt in anderen Dimensionen, schreibt hundert Jahre Geschichte demokratischer Ideen in Europa, und in dem Roman spiegelt sich nichts geringeres als die europäische Freiheitsbewegung, die Zeit des Risorgimento in Italien. Nur eines verbindet den Roman mit dem seines Bruders: Die Schopenhauer-Luft und die Einsicht, daß die Wirklichkeit Täuschung sein könne. Thomas Buddenbrook hat sie, aber auch in der Kleinen Stadt wird die Wirklichkeit zuweilen als Täuschung genommen. Die Schopenhauer-Nähe wird bleiben, bei beiden - auch wenn die Zustimmung zu Schopenhauer bei Thomas Mann oft äußerliches Bekenntnis gewesen sein dürfte und bei Heinrich Mann eine innere Erfahrung daraus sprach.

Diesen Roman hat Thomas Mann freundlich aufgenommen und gesagt: "Das Ganze liest sich wie ein Hohes Lied der Demokratie". Was ihm wohl auch zugesagt hat, war, auf eine kurze Formel gebracht, die Überwindung der Individualität, der Subjektivität. Das gefiel Thomas Mann, weil er fast gleichzeitig in seinem Roman Königliche Hoheit arbeitete - wo repräsentiert wurde, und diesmal ernsthaft.

Der Roman gilt gemeinhin als ein etwas leichtgeratenes Werk, spiegelt er doch auch die Ehegeschichte von Thomas und Katja Mann, den Weg zum "strengen Glück", der lustspielhafterweise mit der finanziellen Konsolidierung eines bankrotten Fürstentums endet und mit einer Heirat, wie sie das auf derartige Hofnachrichten neugierige Publikum auch damals schätzte: einer Märchenhochzeit. Aber dicht unter der Oberfläche dieses heiteren Büchleins lauert anderes, lauert der Alleinvertretungsanspruch Thomas Manns seinem Bruder gegenüber. Zwar ist die brüderliche Auseinandersetzung in diesem "Hofroman" in eine zivile Form gebracht, wird der Anspruch der Königlichen Hoheit nach außen hin nur als eine fürstliche Nachfolgefrage behandelt, doch die Forderung des jüngeren Bruders an den älteren ist unnachgiebig und eindeutig: er, der ältere, solle "abdanken", möge das literarische Feld räumen, aus dem Blickfeld des Bruders verschwinden, möglichst rasch und möglichst für immer: "Abdikation". Die Forderung wird auch noch am Beispiel anderer Gestalten des Romans durchvariiert: und da tut sich hinter der Fassade der Wohlgeratenheit ein Abgrund auf, da wird die contenance nur mühsam gewahrt, da soll es dem Bruder an den Kragen gehen. Thomas Mann hat wortwörtlich Sätze aus jenem Brief übernommen, den Heinrich ihm als Antwort auf den Vernichtungsbrief vom 5. Dezember 1903 geschrieben hatte, und er verband sie hier mit der Feststellung, ihm, Klaus Heinrich alias Thomas Mann, komme der Alleinvertretungsanspruch für die Literatur zu, denn er und nur er sei das, was er immer schon sein wollte: Repräsentant der deutschen Kultur. Sie war da, wo er war. Der Andere sollte wieder einmal ausgeschaltet werden, abgeschoben, degradiert und erledigt. Und diesmal hatte Thomas Mann leichteres Spiel: er selbst verstand sich spätestens um 1910 aus seiner Stellvertreterrolle, nahm eine solche einfach für sich in Anspruch. Er schrieb: "Wer ist ein Dichter? Der, dessen Leben symbolisch ist. In mir lebt der Glaube, daß ich nur von mir zu erzählen brauche, um auch der Zeit, der Allgemeinheit die Zunge zu lösen [...]. Königliche Hoheit ist nicht irgendein willkürlich gewählter Stoff, in welchen mein Virtuosentum sich verbiß und auf den meine Unkenntnis kein Anrecht hatte". Der einsame Künstler: hier wird er erlöst, und er erlöst sich selbst. "Ununterbrochenes Repräsentieren", lautete eine Notiz Thomas Manns zu diesem Roman. Aber: das war allein Sache des jüngeren Bruders. Denn zum Repräsentieren war Heinrich in dessen Augen gar nicht fähig, so wenig wie sein Ebenbild Albrecht im Roman. Aber Thomas Mann war es und wurde dann ja auch tatsächlich in den Augen der Öffentlichkeit der Repräsentant der deutschen Kultur. Sie war da, wo er war. Jetzt wußte er, was er zu repräsentieren gedachte.

Im Tod in Venedig zeigte Thomas Mann dem Bruder erneut, wie es um das Repräsentieren und um die neue Klassizität bestellt war, mit der er auch dem wilden Schreiben Heinrichs entgegenzutreten gedachte. Auch Aschenbach repräsentierte - als Gustav von Aschenbach; keine fürstliche Repräsentanz, aber immerhin eine adlige, quasi der Adel des Geistes, wenn auch erst spät verliehen. Heinrichs Liebesszenen in den Göttinnen etwa: ein wildes Schreiben, die Erotik schrecklich und noch schrecklicher ihre sprachliche Erscheinungsform. "Barock-Kolossalisches", die Sprache am äußersten Rand ihrer Möglichkeiten, Kitsch der Jahrhundertwende. Im Tod in Venedig las sich so etwas anders. Die sich anbahnende Liebe zum schönen polnischen Jungen: mit äußerster Zurückhaltung beschrieben, die Erscheinung des anmutigen Knaben mit seinem "Haupt in unvergleichlichem Liebreiz - das Haupt des Eros, vom gelblichen Schmelze parischen Marmors" quasi als Epiphanie. Das fand Aschenbachs fachmännisch kühle Billigung, dessen Gefühle waren nicht weiträumig ausgebreitet, sondern nur in die Form eines zustimmend genutzten Vergleichs gebracht. Heinrich war in seine Schranken gewiesen.

Aber dann kam es noch einmal zu einem Vernichtungsbrief, und der umfaßte nicht wie 1903 wenige, sondern über vierhundert Seiten und hatte es in sich: die Betrachtungen eines Unpolitischen. Sie waren vor allem gegen Heinrich gerichtet, und wieder einmal zeigte sich, daß die eigene Identität durch die Begrenzung zum Anderen hin zu erreichen war; nur daß die brüderliche Auseinandersetzung jetzt mit Nationalstereotypien ausgestattet war, sich plötzlich in Thomas und Heinrich Deutschland und Frankreich, Kultur und Zivilisation, Seele und Verstand gegenüberstanden. Eine absurde Konfrontation. Eigentlich war diese Abgrenzung gegen den Bruder ein langer Monolog, entstanden aus dem immer noch wachsenden Repräsentationsbedürfnis des Jüngeren heraus, der seinen Repräsentationsanspruch endgültig zu legitimieren suchte und nun die eigene Position ein für allemal auch als nationale Position definieren wollte. Es war aber eigentlich ein Buch des Hasses. Die verbalen Verunglimpfungen des Bruders überschlagen sich geradezu, und nirgendwann, nirgendwo hat Thomas Mann, wenn es um Beschimpfungen ging, einen größeren Erfindungsreichtum gezeigt als in den Betrachtungen. Alles hatte sich entzündet an einem nebenher gesagten Satz Heinrichs, der sich in seinem Zola-Essay fand: "Sache derer, die früh vertrocknen sollen, ist es, schon zu Anfang ihrer zwanzig Jahre bewußt und weltgerecht hinzutreten. Ein Schöpfer wird spät Mann". Heinrich hatte etwas von dem Repräsentationsbedürfnis schon des zwanzigjährigen Thomas geahnt und machte sich darüber lustig. Das verzieh Thomas nie. Er hat Heinrich diesen entlarvenden Satz jahrelang vorgehalten; er hatte ihn an seiner empfindlichsten Stelle getroffen, und die Betrachtungen eines Unpolitischen waren die maßlose Reaktion: Thomas Mann antwortete als Vorredner eines chauvinistischen Deutschland. Heinrich war entsetzt. Er machte einmal ein Versöhnungsangebot, suchte Annäherung - aber sein Bruder schlug diesen Friedensversuch in den Wind. Er antwortete ablehnend und abweisend, und sein Brief schloß mit dem Satz: "Laß die Tragödie unserer Brüderlichkeit sich vollenden".

Heinrich Mann hat wenig zu dem Buch gesagt, ja: er hat es gar nicht gelesen. Aber er hat vermutlich die so sehr radikalisierte Abdankungsaufforderung der Königlichen Hoheit nur zu deutlich verstanden, auch wenn er nie öffentlich darüber gesprochen hat.

Wie sollte es weitergehen? Die Aversion blieb, es gab scharfe Urteile Thomas' über Heinrich, wilder Abscheu vor dessen politischen Aktionen nach dem Ende des Ersten Weltkriegs. Erst eine lebensgefährliche Erkrankung Heinrichs brachte die Brüder wieder zusammen - pro forma. Aber wie sehr die alte Feindschaft im Bewußtsein geblieben war, zeigt Heinrichs Roman Der Kopf, 1925 erschienen: da ist sogar noch einmal von dem in inimicos die Rede, also von jenem feindlichen Wort Thomas', an Heinrich in Palestrina gerichtet, als sie beide an ihren Romanen schrieben. Erst danach gab es Ruhe.

Die zwanziger Jahre: die Brüder nicht auf Gegenkurs, sondern in vieler Hinsicht auf parallelen Wegen. Der mythologische Roman Thomas Manns, Joseph und seine Brüder, und Heinrich Manns historischer Doppelroman über Henri IV haben viele Gemeinsamkeiten, sind Gegenstücke, nur verdeckt und untergründig gegeneinander angeschrieben. Im Exil kamen sich die Brüder sehr viel näher - verständlicherweise. Das gilt auch für Literarisches. In den dreißiger Jahren entstanden zwei Hitler-Porträts: Thomas Manns Bruder Hitler und Heinrich Manns Der große Mann - Thomas hat Heinrich Manns früher geschriebenen Essay natürlich gekannt, genutzt und wieder einmal zu überbieten versucht. Heinrich Mann hatte eine scharfe Grenze gezogen zwischen sich und den Nazis, aber Thomas Mann sah, daß nicht dort das böse und hier das gute Deutschland sei, sondern daß beides zusammengehöre - und so ist sein Hitler-Essay denn auch nicht zufällig mit Bruder Hitler überschrieben. Daß es nicht zwei Deutschland gibt, sondern nur eines, "dem sein Bestes durch Teufelslist zum Bösen ausschlug", das steht auch im Doktor Faustus, und dieser Roman war nicht nur, aber auch eine Antwort auf Heinrichs Hitler-Essay.

Schlußbilder: Heinrich und Thomas Mann in wonderland, im amerikanischen Exil. Amerika: für Heinrich Mann ein fremder, dunkler Kontinent. Er hatte früher schon in seinem lübischen Idiom gesagt: "Da wird's ja wohl nur Schnellrestaurants geben", und als er dann in Amerika war, machte er sich lustig über die Eiswasserkunden in den Lokalen - er, der nichts mehr schätzte als ein gutes Mahl und der manchmal mit dem Orient-Express von München nach Salzburg gefahren war, nur um im Zug erlesen dinieren zu können - und der dann in der Nacht ebenso gesättigt wie befriedigt wieder den Rückweg nach München angetreten hatte. Nichts davon in wonderland Amerika, dieses war für ihn nur ein waste land. Heinrich trug wie viele Emigranten sein Vorurteil in seine amerikanische Existenz hinein und revidierte es nie. Thomas war anders: war längst da, betrachtete sich ohne Probleme als Amerikaner und als Bewohner eines Kontinents, in dem er weiterhin so etwas wie ein deutscher Kulturbotschafter, ein Repräsentant des besseren Deutschland tätig sein konnte. Heinrich Manns finanzielle Situation war katastrophal, trotz einiger Finanzhilfen von seiten des Bruders und anfangs auch aus Rußland. Er zog sich zurück, blieb allerdings wie sein Bruder im Visier des FBI: beide galten als fellow travellers, als Sympathisanten des Kommunismus. Einmal gab es Heinrichs absurde Idee, nach New York überzusiedeln, weil er dort Verlagen näher sei - sie war ihm von Thomas nahegelegt worden, der ihn gerne losgeworden wäre. Aber das war ein irrsinniger Plan, zumal kein Geld für die Reise da war. Golo Mann empfahl dann Mexiko - nicht weniger absurd. Für Thomas war Heinrich zum Problem geworden, und dieses Problem blieb - und irgendwie ist verständlich, daß er sich am liebsten von diesem Problem befreit hätte. Literarisch war Heinrich schon längst keine Gefahr mehr, von Konkurrenz konnte nicht die Rede sein. Nur einmal brach untergründig geradezu Haß wieder auf wie früher: Eine Tagebuchnotiz vom 24. Juni 1944 lautet: "Zu denken, aufs neue, über die Verherrlichung des Bruders durch das nur hier siedelnde aktivistische Literatentum auf meine Kosten. Auferstehung alter Qual". Da kamen Urängste wieder hoch, und sie lassen erkennen, wie tief die Verletzungen der früheren Jahrzehnte gewesen sein mußten - und daß sie nie völlig vergessen worden waren.

Heinrich Mann hingegen beginnt plötzlich wieder Buddenbrooks zu lesen, er weiß nicht, warum, zeichnet Bilder zum Roman und solche zu Lübeck. Und in zwei Romanen hat er noch einmal Bruderporträts geliefert. Im Empfang bei der Welt ist es die Figur des alten Balthasar, die im roten Frack in einer vollendeten Theaterszene auftritt: "Entgegen sah ihm ein olympischer Geheimrat, etwas äußerst Großartiges, der alte Kopf vornehm wie höchstens Porträts, die gewölbten Brauen, der launisch geschwungene Mund mit Falten der Überlegenheit. Unnachahmlich gebieterisch, der Blick dieser weit offenen braunen Augen! Die Stirn, so hoch sie anstieg, war knochig statt erhaben, was der Betrachter, sein unbeirrtes Urteil einmal angenommen, zugunsten des Gesamteindruckes übersehen hätte". Das ist zunächst einmal unverkennbar ein Abbild Goethes; der tritt hier persönlich auf, und gleichzeitig ist er so etwas wie eine Geistererscheinung. Aber da ist mehr. Das literarische Goethe-Porträt ist einem wirklichen Goethe-Porträt nachgeschrieben, das Thomas Mann kannte und von dem Heinrich Mann wußte, daß der Bruder es schätzte: das Gemälde von George Dawe aus dem Jahre 1819: Thomas Mann hat es immer als "besonders lebenswahrscheinlich" empfunden. Aber dieser Goethe war zugleich sein Bruder Thomas. In der Zeitschrift New Yorker war einmal ein Artikel erschienen, überschrieben mit Goethe in Hollywood. Und dieser Titel war in den Emigrantenkreisen von Los Angeles sofort verstanden worden: es war Thomas Mann alias Goethe in Hollywood. Heinrich Mann amüsierte sich über den Bruder mit seiner ewigen Goethe-Nachahmerei, und eine freche Fürstin auf diesem Empfang gibt zusätzlich noch einen Kommentare ab, der wenig schmeichelhaft ist: "Le grand âne solennel": der große feierliche Esel.

Das war ein satirischer Schlag gegen den Bruder. Und noch ein Schlag wird geführt: als der alte Balthasar, der sich auch als Schopenhauerianer zu erkennen gegeben hatte, seine im Keller gelegene Schatzkammer besucht, seine köstlichen Fässer. Doch es ist nicht Wein, nach dem es ihn verlangt, sondern es sind seine Goldstücke, sie sprudeln aus den Fässern, und in diesem seinen Gold badet er geradezu. Die Flut des unterweltlichen Flusses trug ihn dahin, heißt es, und er wünschte sehr: für immer. Heinrich hatte nicht die paar Dollar, um die Rechnungen der Lebensmittellieferanten zu bezahlen, er machte die Tür nicht mehr auf, wenn geklopft wurde - und da schwamm einer im Geld, baute sich ein Haus im Bauhausstil für 30.000 Dollar: ein Vermögen in einer Zeit, in der etwa ein Universitätsprofessor im Jahr 5000 Dollar verdiente und der Durchschnittslohn eines Emigranten so hoch war wie der einer Sekretärin: 19 Dollar pro Woche.

Es war nicht das Schlußwort Heinrichs: in seinem letzten Roman Der Atem taucht der Bruder noch einmal auf, oder besser: da erscheinen Thomas und Heinrich in Gestalt zweier Schwestern, einer reichen und einer verarmten, und die verarmte Schwester bekennt in einem imaginären Gespräch mit der reichen: "Wir waren doch Schwestern. Uns trennte, daß ich nicht Deinen Ehrgeiz hatte. Deine Laufbahn war voll Kampf, in den Wechselfällen hieltest du dich oben; dir erschien ich lau. Dennoch verstand nur ich Dich. Dein Urteil traf mich. Wir kränkten uns mit unserer Unabänderlichkeit, gleichwohl habe ich Dich geliebt, am meisten, wenn wir verfeindet waren, Nimm mein Wort für was es jetzt noch wert ist. Sogleich werde ich vergangen sein, Du allein bist meine Nachwelt, bei der ich fortlebe". Das war der Wunsch des alten Heinrich Mann an den Bruder, gleichzeitig noch einmal sein Bekenntnis zur Brüderlichkeit, sein letztes. Als die arme Schwester gestorben ist, erscheint die reiche bei ihr und sagt: "Aber wir liebten uns nicht. Sie hat mich verachtet wie ich sie. In einem klagte sie an und entschuldigte. Sie hat nicht gekämpft, sich in Gunst und Größe zu halten. Unregelmäßigkeiten dennoch der Welt aufzuzwingen, nicht sie hat es vermocht. Was wußte sie. Wohl kämpfte sie anders, ohne Lohn, verschwendet, schlecht. Nein, was rede ich. Halte mich nicht für dumm, Schwester, aus mir spricht Eifersucht - gewohnt von alters. Auch sie ist beendet." Das ist die eigentliche Grabrede Thomas Manns auf seinen Bruder, wie dieser sie sich gewünscht hätte, und die Antwort des Bruders. Heinrich wußte bis zuletzt, daß der ihn nicht verstanden hatte.

Ganz am Schluß gibt es noch einmal einen letzten Triumph Thomas Manns - in seinem Felix Krull. Den Stoff hatte er zum Teil aus einem Lebensplan, den Heinrich mehr als fünfzig Jahre zuvor für sich selbst niedergeschrieben hatte: es war der Wunsch, einmal nach Paris zu kommen, dort ein erstklassiges Leben zu führen, vom ersten Pariser Schneider gekleidet einmal Verschwender zu sein, einmal das große Leben zu leben. Am Schluß aber, das weiß er, wird er wieder hinuntergeschwemmt werden - und so geht es auch Felix Krull. Ursprünglich sollte der 1871 geboren worden sein - das Geburtsjahr Heinrichs. Fünfzig Jahre hat Thomas Mann gewartet, bis er seinen Krull-Plan, der zugleich dem Roman vom Schlaraffenland seines Bruders gefolgt war, realisierte. Warum so spät? Wollte er warten, bis der Andere sich nicht mehr äußern konnte? Thomas Manns letzter Roman war aber auch eine Antwort auf Heinrichs letzten Roman Der Atem: Denn dort gab es nur Sterben und Tod, und davon reichlich, im letzten Roman Thomas Manns aber den Sieg des Lebens über den Tod. Den stellte er im Stierkampf dar, den der Torero, ein bildhübscher junger Mann, kämpft: ein mörderischer Dialog mit etwas Urweltlichem. Aber da ist noch mehr: Krull, der in der endgültigen Fassung des Romans nicht mehr 1871, sondern 1875 geboren ist, erkennt plötzlich, daß die Kleidung des Torero eben die ist, mit der er selbst früher von seinem Paten ausgestattet worden war. Wenn Krull so viel mit seinem Autor Thomas Mann zu tun hat, ist der schöne Torero also nichts anderes als ein hochidealisiertes Selbstbildnis des alten Thomas Mann, der noch einmal in jugendlicher Gestalt den Tod überwindet. Seine Tagebücher bezeugen, wie sehr ihn Todesangst ergriffen hatte - aber im Roman wurde der Tod grandios besiegt, in "graziöser Degentechnik". Schrieb nicht auch so Thomas Mann, wie jener Ribero gefochten hatte?

Das Bild von 1900 hatte sich wiederholt: Heinrich hatte noch einmal in seinen letzten Romanen auf den jüngeren Bruder geblickt. Thomas blickte aber nicht auf Heinrich, sondern auf sich selbst. Heinrich war müde geworden und hatte, wie er im letzten Roman schrieb, das Wort niedergelegt. Thomas schrieb bis zuletzt. Und sein Hymnus an das Leben am Schluß des Felix Krull widerlegte noch einmal auch jene Lebensbeschreibungen, die Heinrich Mann vor allem in seinem Frühwerk geliefert hatte. Leben: das war nicht in den Göttinnen, nicht in der Kleinen Stadt und nicht im Schlaraffenland, auch nicht in der Jagd nach Liebe. Leben - das war ein mythisches Geschehen, war hier, in Felix Krull, noch einmal in Heiterkeit beschworen, auch wenn es, wie Professor Kuckuck erklärte, nur eine Episode war.

Das Beste hat vielleicht Erika Mann über die ungleichen Brüder gesagt, als sie schrieb:

"Zweifellos litt Tommy unter der Überlegenheit des Älteren, und zwar nicht so sehr auf Grund der vier Jahre Unterschied. Weich, verwundbar, liebebedürftig und' voll liederlichen Hohns über das 'Ganze' nur in Notwehr gegen die Gemeinheit des Lebens, hatte der Knabe T. M. keine Waffe gegen den kühlen Hochmut, der den - im Grunde gleichfalls prinzlich-lebensängstlichen - Heinrich quasi auszeichnete und schon auf Kinderbildern deutlich genug hervortritt. Mit ein paar hingeworfenen Sätzen, wenigen Worten vermochte der Große den Bruder aufs Blut zu verletzen. Ganz, wie später die knappen Anspielungen in Heinrich Manns 'Zola'-Essay genügten, um - diesmal auf viele Jahre hinaus - völlige Vereisung herbeizuführen. Menschlich wehrlos wie eh und je, war freilich T. M. jetzt schriftstellerisch gewappnet. Der durch den Ersten Weltkrieg aus 'unpolitischem' Schlummer Geschreckte hätte sich wohl keinesfalls genügt in 'Friedrich und die große Koalition - Ein Abriß für den Tag und die Stunde'. Irgendwelche 'Betrachtungen' waren wohl jedenfalls zu gewärtigen. Dennoch: der ganze dicke Band, wie wir ihn kennen (dieser 'Rückstand und Niederschlag', die 'Leidensspur' - das 'Bleibsel' dieser Jahre), stellt eine einzige, nicht abreißen wollende Antwort auf ein paar hingeworfene brüderliche Schnödigkeiten dar. Und er beweist, daß nichts sich geändert hatte an der prekärsten, seltsamsten, verzwicktesten aller uns bekannten Bruderbeziehungen.

Und dann hat Heinrich das Buch nicht gelesen.

Wenn Erotik 'Reiz' bedeutet, - im Doppelsinn des Wortes, so war, unter anderem, diese Beziehung eminent erotischer Natur. Bis zur Lebensmitte - bis zu Bruch und Versöhnung - war Thomas der Liebende (weil Leidende) gewesen. Schließlich, gegen Ende, stand es umgekehrt. Heinrich liebte. Wahrscheinlich litt er. Ihre Brüderlichkeit aber stand fortan im Zeichen der Vorsicht, einer fast ängstlichen Rücksichtnahme aufeinander. Nach außen hin wirkte das geradezu absurd, wie denn auch ein T. M.-Sekretär berichtet, er habe seinen Augen kaum getraut, angesichts des Zeremoniells, das da waltete und an zwei hochgestellte Diplomaten weit eher denken ließen an ein Brüderpaar".

Anmerkung der Redaktion: Der Text ist eine Kurzfassung des neu erschienenen Buchs von Helmut Koopmann. Wir danken dem Autor für die Überlassung des Manuskripts.

Titelbild

Helmut Koopmann: Thomas Mann - Heinrich Mann. Die ungleichen Brüder.
Verlag C.H.Beck, München 2005.
531 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-10: 3406527302

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