Kleine Philosophie des Scheiterns

Hans Georg Zilian kümmert sich ums "Überleben in der Spaßgesellschaft"

Von Stefan NeuhausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Neuhaus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer kennt sie nicht, die heutige Unübersichtlichkeit der Lebensentwürfe, die in neuen Ausdrücken ihren Niederschlag findet. Die meisten sind Euphemismen, Verniedlichungen von Sachverhalten, die bei den Betroffenen oft keine Glücksgefühle auslösen - so gibt es jetzt Patchworkfamilien, diskontinuierliche Erwerbsbiografien oder gar Freisetzungen, wenn jemand seinen Arbeitsplatz verliert. Die neuen Gruselwörter stehen für die einen nur auf dem Papier, damit sie sich freuen können, dass sie davon nicht betroffen sind. Doch eine zunehmende Zahl der 'anderen' muss sie sich zu eigen machen, oftmals unvermittelt. Es trifft sie wie ein Blitz aus heiterem Himmel, wenn der Partner sie verlässt oder die Kündigung kommt. Insofern ist der Begriff des "Überlebens in der Spaßgesellschaft", den Zilian im Untertitel wählt, nur zu berechtigt.

Die Schreibmotivation des Grazer Soziologen (er leitet ein Büro für Sozialforschung) könnte man ganz altmodisch 'moralisch' nennen, dabei zeichnet ihn eine selbstbeobachtende und selbstironische Perspektive aus: "Ich war zu der wenig originellen Auffassung gelangt, daß die heutige Politik sich immer weniger um die Verlierer und um jene, die mit der schlechtesten Ausstattung in die Wettbewerbe des Lebens eingetreten waren, kümmerte." Dieser Zustand hat sich kontinuierlich verschärft, auf der anderen Seite steht das Überdecken der Probleme durch eine Vielzahl von Strategien, die ihre Gleichförmigkeit nicht verleugnen können - so wie die abendlichen Fernsehprogramme nur auf den ersten Blick verschieden sind.

Zilian formuliert ebenso radikale wie einsehbare Erkenntnisse. Wenn Kinder und alte Leute vorm Fernseher sitzen oder Jugendliche sich piercen, dann haben Zerstreuung und Protest die gleiche Funktion - sie sollen von den eigentlichen Problemen ablenken. Keiner hat wirksame Rezepte gegen diese Probleme, doch nicht alle leiden gleichermaßen darunter. Es gibt von Zilian als "Eliten" bezeichnete Gruppen, die sogar von der wachsenden Ungleichheit profitieren oder deren Profit zumindest darin besteht, dass sie den Status quo halten können. Insofern dient ihnen der Spaß der Unterprivilegierten, deren Lebensbewältigungsversuche auch innerhalb von Gruppenidentitäten keineswegs zwangslos ablaufen. Wer nicht mit zur Love Parade geht, ist nicht cool und kann sich andere 'Freunde' suchen.

Der Erfolg hat viele Gesichter, doch stets gilt: "Im Karneval der Postmoderne ist Erfolglosigkeit (neben der Langweiligkeit) eine der letzten verbliebenen Sünden." Wer keinen Erfolg mehr hat, fliegt raus - ohne Arbeit und Wohnung kann er dann nur noch als Obdachloser sein Dasein fristen. Auch hier werden 'Karrieren' gemacht, spiegelbildlich zur angenommenen Normalität. Gäbe es keine Mechanismen der Ausgrenzung, sondern der Integration, sähe das Bild wohl ganz anders aus. Dabei muss sich die Ausgrenzung der Denunziation und Stigmatisierung bedienen. Zilian hat verschiedene Interviews geführt und eingearbeitet, die nachweisen, wie Menschen ins gesellschaftliche Abseits geraten, obwohl sie im Erwerbs- und Privatleben stets die geforderte Leistung gebracht haben.

Zilian beschwört eine "alltägliche Courage" als individuellen Weg des Überlebens. Dazu gehört die Einsicht, dass in "vielfältiger Weise Talente vergeudet werden", denn in einer Zeit der Verknappung von Aufstiegsmöglichkeiten zählt nicht Begabung oder Leistung, sondern die Zugehörigkeit zu Netzwerken. Die gesellschaftlichen Institutionen Schule oder Universität wirken mit am ungleichen Selektionsprozess. Warnsignale wie die Zunahme der Selbstmordrate bei Jugendlichen werden nicht ernst genommen.

Wer ständig Gefahr läuft, etwas verlieren zu können, wird versuchen, sich erst gar nicht auf das riskante Spiel des Lebens einzulassen: "Bindungen sind die Basis der Ängste", "Bindungen machen erpreßbar, Unverbindlichkeit macht 'frei'". Doch ohne Bindungen fehlen die lebenswichtigen Gratifikationen - die es durch Spaß oder Coolness zu substituieren gilt. Die entsprechenden Angebote werden von der Wirtschaft zur Verfügung gestellt. So wird der Bindungsverlust in die gesellschaftliche Entwicklung eingebaut und führt zu einer Spiralbewegung. Diese geht nur scheinbar nach oben - durch die Globalisierung kommt der verstärkte Konsum oft nicht mehr der eigenen Gesellschaft zugute und das Individuum muss immer größere Anstrengungen unternehmen, um sich seine Deformationen nicht einzugestehen. In Zilians Worten: "Während das Geschirr der Zwänge immer enger und straffer wird, entsteht zur selben Zeit eine Rhetorik der Freiheit, der in der Wirklichkeit herzlich wenig korrespondiert." Für Zilian ist daher "die Freiheit der Marktwirtschaft eine Pseudofreiheit". Doch scheint keine zur Ideologie geronnene Position eine Alternative zu bieten, Zilian nennt "Christentum", "Sozialismus" und "Turbokapitalismus" in einem Atemzug.

Zilian fordert ein Umdenken im größeren Rahmen: "Dem Risiko entgegenzuwirken, von gesellschaftlichen Mechanismen zermanscht zu werden, erscheint mir wesentlich wichtiger, als die Chance zu fördern, ein hohes Tier zu werden. Diese Form der Prioritätensetzung ist in den Elitediskursen unüblich." Bedenklich ist, dass das Vorteilsdenken zunehmend auch zum Erfolgsrezept an Universitäten wird, in Österreich wie in Deutschland. Statt Inhalte zu vermitteln müssen Hochschullehrer nun Gelder einwerben oder mit PowerPoint-Präsentationen unterhalten - Zilian sieht das "Edutainment" auf dem Vormarsch. Der Blick des Forschers sollte aber die "Welt als Theater" sehen, Distanz aufbauen und so die Nebel lichten, um den heutigen Zustand zunächst einmal schonungslos analysieren zu können. Das Resultat einer solchen Analyse lautet in Kurzform: "Offenheit und Toleranz brauchen eine Basis, sie wurzeln in besserer Bildung, ökonomischer und sozialer Sicherheit usw. Umgekehrt machen Ungleichheit und Unsicherheit 'Rassisten' - kosmopolitische Weitherzigkeit ist von den Gekränkten und Kujonierten, zumal von den Alten, realistischerweise nicht zu erwarten."

Ob es aber hilft, an bekannten Größen der Soziologie wie Ulrich Beck und Anthony Giddens kein gutes Haar zu lassen, mag bezweifelt werden - schließlich bemühen sich diese Autoren nicht ohne Erfolg darum, Strategien gegen die Ungleichheit des Neoliberalismus zu entwickeln. Über die Wege kann und sollte man streiten, aber auf konstruktive Weise. Auch wenn die äußere Gliederung der zwischen Essay, Pamphlet und wissenschaftlicher Abhandlung changierenden Schrift nachvollziehbar ist, so bewegt sich die Argumentation doch in Kreisen, Schleifen und anderen Figuren, es kommt zu Wiederholungen und Überlappungen, die nicht immer nachvollziehbar sind. Dennoch ist Zilians Studie zweifellos dazu angetan, ein notwendiges, überfälliges Umdenken zu befördern. Insofern ist sie eher an Experten als an Laien gerichtet. Letzteren kann sie immerhin das tröstliche Gefühl vermitteln, in ihren Identitätskrisen nicht allein zu sein - die Krise ist zum alles durchtränkenden Merkmal, zum Kennzeichen der globalisierten und entfesselten Gesellschaft geworden.

Titelbild

Hans Georg Zilian: Unglück im Glück. Überleben in der Spaßgesellschaft.
Styria Verlag, Graz 2005.
231 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3222131724

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