Leidenschaftlich klug

Marcelle Sauvageots zeitloser Liebesbrief-Essay

Von Rolf-Bernhard EssigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf-Bernhard Essig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist eine alte Geschichte und ist doch immer neu. Der Mann hat eine andere, offenbar schon länger. Jetzt gesteht er in einem Brief: "Ich heirate... Unsere Freundschaft bleibt.... Ich hoffe, Du siehst darin einen Liebesbeweis, nicht wahr." In wie vielen Variationen fielen diese Sätze wohl schon? Immer wieder will der Verlassende sein neues Glück und dazu: kein schlechtes Gewissen, keinen Streit, keine Komplikationen.

Als sie diese Zumutung erlebt, reagiert Marcelle Sauvageot mit ihrem einzigartigen Büchlein "Fast ganz die Deine". Frei und klug missachtet sie darin die Grenzen von Literatur und Lebenszeugnis, von Analyse und Aufbegehren, von Resignation und Retourkutsche, von Antwortbrief und Liebesessay; Stil und Wahrheitswille gehen hier Hand in Hand. So begeisterte der Text einerseits Intellektuelle wie Paul Valéry oder Paul Claudel und eroberte andererseits seit der Neuauflage 2003 die Bestsellerlisten in Frankreich. Spurlos gingen die 70 Jahre seit Erscheinen an diesem Büchlein, das gleichzeitig Herz und Hirn anspricht, vorüber (nicht allerdings an dem überflüssig-ärgerlichen Beitext von Charles du Bos).

Marcelle Sauvageot, die mit dem "Du" der Nähe und "Sie" der Distanz spielt, begnügt sich nicht damit, die eigentlichen Motive des Mannes hinter den vorgeschobenen zu entlarven, die psychologischen Tricks und den simplen Selbstbetrug bloßzulegen, die geschlechtsspezifische Bedingtheit des männlichen Verhaltens herauszupräparieren: "Sie wünschen mir Glück, und ich kann Sie mir sehr gut vorstellen, wie Sie einen Mann für mich suchen, einen Liebhaber, um mich zu trösten."

Sauvageot weiß, wer nur vernünftig über die Liebe schreibt, versteht nichts von ihr. Gleichwohl fasziniert schon die Analyse in ihrer Klarheit, ihrem mal grauen, mal bunten Spott, ihrem Wechsel von resignativem und kämpferischem Ton: "Unsere Freundschaft wird in Zukunft etwas sehr Hübsches sein; wir werden uns Ansichtskarten von unseren Reisen und zu Neujahr Pralinen schicken... wir werden vorgeben zu sein, was wir zu sein glauben, und nicht, was wir sind; wir werden einander oft 'Danke' und 'Verzeihen Sie' sagen, freundliche Worte, die man so dahinsagt. Wir werden Freunde sein. Glauben Sie, dass das nötig ist?"

Dagegen ist Sauvageots Selbstanalyse nicht schonungslos, und doch erkennt der Leser unschwer, dass diese Frau zu lieben manchmal nicht einfach gewesen sein muss, dass sie - aus berechtigter Furcht - nicht mit vollem Risiko liebte: "Um mich ganz zu verlieren, hätte ich sicher sein müssen, dass ich mich nicht mehr brauche."

Ulrike Draesner betont in ihrem empathischen, hellsichtigen Nachwort, dass sich der Text weit über das Rührende einer individuellen Geschichte ins Radikale der Liebesaporien erhebe: "... seine Unbedingtheit erzeugt ihn thematisch und formal. Hand in Hand mit der absoluten Liebe geht eine absolute Aufrichtigkeit - zumindest das Bemühen darum. Auch dies: ein Programm der Überforderung."

Hoch konzentriert, wandlungsfreudig, mutig und spielerisch kommen Sauvageots Gedanken daher, gekleidet in Sätze von schöner Deutlichkeit. Die tragischen Ingredienzien tun ein Übriges, aber nicht Notwendiges, den Reiz dieses Buchs zu erhöhen: "Fast ganz die Deine" ist die einzige Veröffentlichung von Marcelle Sauvageot, die, 1900 geboren, ein paar Jahre als Lehrerin arbeitete, 1926 an Tuberkulose erkrankte, 1930 in einem Sanatorium scheinbar geheilt wurde, kurz darauf sich in Paris verliebte und dann doch wieder erfahren musste, dass sie krank geblieben war. Der Geliebte schreibt ihr 1933 den Trennungsbrief, auf den ihr Text antwortet; als Privatdruck kursiert er im Freundeskreis. Am Dreikönigstag 1934 stirbt Sauvageot im Sanatorium.

Deshalb ist die unüberbrückbare Fremdheit zwischen Kranken und Gesunden, das Zu-Tode-erkrankt-Sein und die Hoffnung wider alle Vernunft ein wichtiges Nebenthema des Texts, das herzensklug behandelt wird. Überraschend endet das Buch mit einer Ballszene im Sanatorium, die wie eine Miniatur der Walpurgisnacht im "Zauberberg" wirkt, beunruhigend fröhlich. Die Kranken tanzen dem Tod zum Trotz: "Tanzen, das ist der glücklichste Rhythmus des Lebens; Tanzen, wenn man glaubte, man würde es nie wieder tun, ist ein errungener Sieg."

Titelbild

Marcelle Sauvageot: Fast ganz die Deine. Mit einem Vorwort von Ulrike Draesner.
Übersetzt aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer.
Nagel & Kimche Verlag, Zürich 2005.
107 Seiten, 12,90 EUR.
ISBN-10: 3312003547

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