Turnier der Tugenden

Neu übersetzt: Hartmann von Aue in der Bibliothek des Mittelalters

Von Joachim HeinzleRSS-Newsfeed neuer Artikel von Joachim Heinzle

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Er ist der mittelhochdeutsche Klassiker schlechthin. Was der Zeitgenosse Gottfried von Straßburg an ihm rühmte, entzückt die Verehrer Hartmanns von Aue noch heute: Worte wie Kristalle, die im sorgsam arrangierten Schmuck der Rede mit Witz und Anmut den Sinn der Geschichten aufschließen. Dem Minnesänger Hartmann konnte der Leser der "Bibliothek des Mittelalters" schon in dem Auswahlband "Deutsche Lyrik des frühen und hohen Mittelalters" begegnen, der vor genau zehn Jahren erschienen ist. Jetzt liegt endlich die Ausgabe der erzählenden Werke vor, die den Dichter zum Klassiker gemacht haben. Es sind zwei Bände. Der erste enthält den Roman von Erec und Enite, der zweite den Roman von Iwein und Laudine, dazu die berühmten Erzählungen: den "Gregorius" und den "Armen Heinrich".

Im "Erec" hat der Franzose Chrestien de Troyes das neue Genre des Artusromans entworfen und ausprobiert, das zu einem literarischen Erfolgsmodell ohnegleichen werden sollte. Das wird um 1170 gewesen sein. Vielleicht ein Jahrzehnt später hat Hartmann den Text ins Deutsche gebracht, nicht als getreuer Übersetzer, sondern als bearbeitender Dolmetscher, der einen eigenen Kopf hat. Es ist eine höchst befremdliche Geschichte: Ein Königssohn gewinnt die Schönste der Schönen zur Frau, verfällt ihrer sexuellen Attraktion, versäumt darüber seine Ritter- und Herrscherpflichten, kommt ins Gerede - und unterzieht die junge Frau einer bizarren Prüfung, die sie wie Boccaccios Griseldis mit unbegreiflicher Sanftmut erträgt.

Noch einmal zehn oder auch zwanzig Jahre später folgte mit dem "Iwein" die zweite Bearbeitung eines Chrestienschen Artusromans, der eine Art Gegenprogramm zum "Erec" bietet. Hier "verliegt" sich der Held nicht, er "verreitet" sich: versäumt es, von einer Turnierfahrt rechtzeitig zu seiner schönen Frau zurückzukehren, verfällt in Wahnsinn, als sie ihn verstößt, und gewinnt sie nach einer Kette von Bewährungsabenteuern zurück, die er mit der dankbaren Hilfe eines leibhaftigen Löwen besteht, den er vor einem Drachen gerettet hatte.

Zwischen den beiden Romanen mögen die Erzählungen entstanden sein, zuerst wohl die Legende vom Inzest-Sünder Gregorius, Thomas Manns "Erwähltem", der nach harter Buße zum Papst erhöht wird, dann das Mirakel vom Herrn Heinrich, den Gott mit Aussatz schlägt und auf wundersame Weise wieder heilt. Es sind spannende, rührende, beunruhigende Geschichten, die im bunten Spiel der Fiktionen die Wertordnung der feudalen Adelswelt diskutieren. Dem zu folgen ist schon aufregend genug. Zum Leseabenteuer wird es durch eine ganz neue Erzählkunst, wie sie raffinierter nicht sein könnte. Sie einem heutigen Publikum jenseits der Fachwissenschaft zu erschließen ist jede Anstrengung wert.

Die neue "Erec"-Ausgabe ist eine Gemeinschaftsarbeit zweier Tübinger Germanisten. Manfred Günter Scholz hat den mittelhochdeutschen Text eingerichtet und kommentiert, Susanne Held hat ihn übersetzt. Wer Hartmanns "Erec" herausgeben will, braucht viel Mut. Über weite Strecken ist der Text nur im Ambraser Heldenbuch überliefert, einer Prachthandschrift, die der Zöllner Hans Ried am Eisack bei Bozen zu Beginn des sechzehnten Jahrhunderts für Kaiser Maximilian geschrieben hat. Der Herausgeber muss nicht nur das bairisch-österreichische Frühneuhochdeutsch Rieds in das alemannische Mittelhochdeutsch Hartmanns zurückübersetzen, er muss immer wieder auch rekonstruierend in die Substanz des Textes eingreifen, den der späte Kopist nur unvollkommen verstanden hat.

Alle "Erec"-Editionen zehren von einer legendären Ausgabe aus dem Jahr 1839, die der Lachmann-Schüler Moriz Haupt mit tätiger Nachhilfe seines Lehrers erarbeitet hat. Mit einem Rekonstruktionsoptimismus, der einem den Atem verschlagen kann, hat Haupt den überlieferten Text nach seinen Vorstellungen zurechtgebogen. Die späteren Herausgeber sind auf diesem Weg weitergegangen. So kamen Philologen-Phantasien in den Text, auf denen ganze Interpretationen aufgebaut wurden: ein "höfischer Gott" etwa oder ein "Weg zur Seligkeit" (den der Held findet), wo in der Handschrift weder etwas von "Gott" noch von "Seligkeit" steht. Scholz hat diese und eine Menge weitere Eingriffe rückgängig gemacht. Das ist befreiend.

Umso weniger versteht man, dass er darauf verzichtet hat, die Überlieferung zu dokumentieren. Er gibt nur ein Verzeichnis seiner Abweichungen vom Text der Standard-Edition. Die vielen Stellen, an denen er die Entscheidung dieser Edition gegen die Handschrift übernimmt, sind nicht markiert, und die fragmentarische Parallelüberlieferung, die den Ambraser Text zum Teil erheblich relativiert, fällt so gut wie ganz unter den Tisch. Dem Leser, der nicht fachkundig ist, wird damit vorgegaukelt, er lese Hartmann, wo er zunächst einmal doch nur Scholz oder Ried liest.

Auch der Kommentar und die Übersetzung lassen keine rechte Freude aufkommen. Für den Kommentar hat Scholz verdienstvollerweise die ganze umfangreiche Forschung zusammengetragen, über dem Sammeln aber vergessen, das Wesentliche herauszufiltern, das dem Rat suchenden Leser weiterhelfen könnte. Der sieht sich nun mit einem Wust von Forschungsmeinungen konfrontiert, deren Präsentation auf sage und schreibe 380 Seiten den Text förmlich zuschüttet. Dass sich die Übersetzung von Susanne Held unnötig viele Schnitzer erlaubt, mag nur die Fachleute bekümmern. Schlimmer ist, dass sie stilistisch keine Linie findet und sich ein ums andere Mal im Ton vergreift. Schwer erträglich ist vor allem die Inflation des Wörtchens "edel". Da werden edele arme, "verarmte Adlige", zu "edlen Armen", wird ein vrum man, ein "rechtschaffener Mensch", zum "edlen Mann" und eine schlichte vrouwe, eine "Dame", zur "edlen Frau". So redet man im Ritterstück für die Laienspielbühne, nicht in Hartmanns Roman.

Den zweiten Band hat Volker Mertens herausgegeben. Er ist rundum gelungen. Die mittelhochdeutschen Texte sind nach wohlerwogenen Grundsätzen eingerichtet, ihr Rekonstruktionscharakter wird klar herausgestellt. Die Kommentare sind von wohltuender Knappheit: Mertens braucht für die Kommentierung einer deutlich größeren Textmenge nicht einmal die Hälfte der Seiten, die Scholz in Anspruch nimmt, und der Leser findet doch alles, was er wissen muss. Die Übersetzungen sind so zuverlässig wie stilsicher und geben in ihrem unprätentiösen Duktus kaum einmal Anlass zu Irritation. Wer wissen will, wie das Urbild des "Erwählten" aussieht; wer immer schon einen mittelalterlichen Roman von König Artus und den Rittern der Tafelrunde lesen wollte; wer Lust hat, einen großen Erzähler zu entdecken: der greife zu diesem Buch.

Anmerkung der Redaktion: Der Artikel erschien zuerst in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" vom 3. Mai 2005. Wir danken dem Autor für die Publikationsgenehmigung

Titelbild

Hartmann von Aue: Werke. Band 1: Erec. Herausgegeben von Manfred Scholz. Übersetzt von Susanne Held. Band 2: Gregorius, Armer Heinrich, Iwein. Herausgegeben und übersetzt von Volker Mertens.
Deutscher Klassiker Verlag, Frankfurt a. M. 2004.
2180 Seiten, 99,99 EUR.
ISBN-10: 3618660537

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