Konjunktiv zwischen Leben und Tod

Peter Härtlings Band "Die Lebenslinie"

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bereits 1990 hat uns Peter Härtling in seinem autobiografischen Roman "Herzwand" mit seiner Krankengeschichte konfrontiert. Der Ich-Erzähler lag auf dem Operationstisch und sah auf einem Monitor mit an, wie sich eine Sonde seinem Herz näherte und an seine "Herzwand" pochte. Dreizehn Jahre später stellte der Autor in seinem Erinnerungsband "Leben lernen" die bedeutungsvollen Fragen: "Habe ich Leben gelernt? Wie viel? Was habe ich mir aufgehoben?"

Kurz nach Beendigung der Niederschrift jenes Buchs kämpfte der heute 71-jährige Peter Härtling erneut mit dem Tod. Über diese Zeit, seine verschwommenen Erinnerungen an den Hirninfarkt, an den existenziellen Wettlauf der Notärzte mit der schwindenden Zeit, die Sofortmaßnahmen in der Klinik, die anschließende Nachbehandlung durch diverse Fachärzte und die Tortur der Reha-Klinik berichtet der neue schmale Band, der von einem unaufgeregten, beinahe nüchternen Tonfall getragen wird. Melancholie und großes Pathos sind Härtling fremd, hier und da platziert er sogar humorvolle Apercus.

Eine Person, die seit nun schon 15 Jahren mit gravierenden Herzproblemen zu kämpfen hat, eignet sich - so scheint es - eine gewisse Gelassenheit im Umgang mit dem Tod an ("Ich lerne sterben."). Gleichzeitig baut sich eine größere Sensibilität und Wertschätzung für die kleinen Dinge des Alltags auf. Wie selbstverständlich ist der Umgang mit der Tastatur eines Computers, und wie erschreckend muss es gleichzeitig für einen Schriftsteller sein, wenn er feststellt, dass er diese zur Routine gewordene Fähigkeit wie ein kleines Kind wieder erlernen muss.

Härtling hat den neuerlichen Rückschlag relativ gut überstanden, dank des umsichtigen Verhaltens seiner Ehefrau und der raschen medizinischen Sofortmaßnahmen. Doch die Phase des Sich-Selbst-Wiederentdeckens muss schlimm gewesen sein. Er berichtet vom "verrutschten Kiefer beim Sprechen, die verwischte Artikulation, die partiellen Sehstörungen."

Auch an den Spätfolgen leidet Härtling vor allem psychisch. Geradezu beängstigt stellt er bei Autofahrten mit seiner Frau fest, dass ihm die Orientierung, der "topographische Sinn" abhanden gekommen ist: "Eine Fähigkeit, auf die ich stets gesetzt hatte, löste sich auf und verließ mich." Auch die latenten Versagensängste, die sich vor den ersten öffentlichen Auftritten nach seiner Genesung einstellten, legen Zeugnis von einer erneuten Lebenszäsur ab.

Wie schon in "Herzwand" begibt sich Peter Härtling im zweiten Teil des schmalen Bandes auf Spurensuche in der eigenen Biografie. Er widmet sich dem frühen Tod seines Vaters, reist an verschiedene Schauplätze seines Lebens und ringt dabei vermeintlich marginalen Impressionen große Glücksgefühle ab - dem Blick aufs Donautal oder der Musik seines bevorzugten Komponisten Franz Schubert.

"Die Lebenslinie" ist ein ungemein aufrichtiges, ungekünsteltes Buch, das den "zwischen Tod und Leben geklemmten Konjunktiv" austariert. Peter Härtling hat auf beeindruckende Weise schreibend wieder zu sich selbst zurückgefunden. Ein Buch, das Mut macht und mit leisen Tönen die subjektive "Wiederauferstehungsgeschichte" eines Schriftstellers erzählt.

Titelbild

Peter Härtling: Die Lebenslinie. Eine Erfahrung.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2005.
112 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-10: 3462036106

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