Von Gummistiefeln und Taschen voller Wasser

Finn-Ole Heinrichs Erzählungen

Von Carolina SchuttiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Carolina Schutti

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Selten sind Textausschnitte für Klappentexte von Büchern so gut gewählt wie der dieses Erzählbandes: "An Lucy habe ich die Dinge, von denen man immer redet, schließlich verstanden. Mit Fingern essen. Ja, das tun auch andere, aber bei ihr habe ich verstanden, worum es geht: um das Gefühl, ums Sich-Nicht-Hinhalten-Lassen, um einfach machen, um Kuchen in den Fingern kneten und mehr fühlen als alle, die mit Gabeln essen." Finn-Ole Heinrich macht sich in seinen Erzählungen auf die Suche nach Gefühlen, nach dem Vorgang des Er-fühlens auf emotionaler wie auch auf körperlicher Ebene. Er bettet seine Figuren in ein Umfeld ein, dessen detailgenaue Schilderung es uns ermöglicht, mit allen Sinnen an den Geschichten teilzuhaben.

Das fällt zugegebenermaßen nicht immer leicht - denn die Protagonisten sind oft unnahbar, unberechenbar, abstoßend. So zum Beispiel die bulimische Anstreicherin Emilie, Emmi genannt, die mit L und deren Freund Hauke die Wohnung teilt. Sie kann ihre Unwichtigkeit neben L nicht ertragen und will auf perfide Weise Hauke erobern. Sie beginnt damit, jede Bewegung Ls zu imitieren, ihren Rhythmus und ihre Art, sich um ihre Katze zu kümmern. Außerdem verdünnt sie ihr Parfum, mischt Bleichmittel in ihre Wäsche und sorgt dafür, dass die Katze eines elenden Todes stirbt. Stück für Stück beraubt sie L ihrer Identität und versucht besessen, zu einer (besseren) Kopie ihrer ehemaligen Freundin zu werden. Nicht nur inhaltlich überzeugt dieser Text, sondern auch sprachlich und formal. Besonders hervorzuheben ist die sorgfältige Konstruktion dieser Erzählung, in der unterschiedliche Schauplätze geschickt arrangiert und die einzelnen Szenen mit geradezu filmischer Genauigkeit dargestellt werden.

Genaues Beobachten menschlicher Verhaltensweisen, vor allem derer, die von der Norm abweichen, gehört neben einer differenzierten Sprache zu den Stärken des jungen Autors, der bereits mehrfach mit Preisen ausgezeichnet wurde. Nicht alle der insgesamt neun Erzählungen sind allerdings von gleicher Qualität. So wirkt beispielsweise der perverse Weihnachtsmann in "Letzte Wünsche" trotz sichtlichen Bemühens um Gewichtigkeit und Tragik recht banal, in "Was es heißt" begegnet man allzu vielen Allgemeinplätzen über Jugendfreundschaften, und in "Mutters Hund" ist bis zuletzt nicht schlüssig, was einen durstigen erwachsenen Mann davon abhält, Wasser zu trinken.

Sehr gelungen hingegen ist neben der Erzählung "Sein längster Gedanke", in der es um die Verhaltensweisen und Beziehungen der Hinterbliebenen eines am Schlaganfall verstorbenen 32-Jährigen geht, auch der Text "Schwarze Schafe". Hier merkt man deutlich die Distanz des Erzählers zum Erzählten, dadurch wirkt der Text reifer, seine Aussage ist von einer Allgemeingültigkeit, die man in einigen der augenscheinlich stärker autobiografisch geprägten Texte vermisst. Drei Jugendliche leben am Rand von Katowice in einem erbärmlichen Verschlag. In 36 Abschnitten wird aus der Perspektive eines völlig verarmten Jungen, Marek, von dessen Versuch erzählt, gemeinsam mit den Freunden Pavel und Dim ein besseres Leben in Berlin zu beginnen. Sie stehlen Kohle von vorbeifahrenden Zügen, verkaufen sie säckeweise an einen Unterhändler, ernähren sich von hartem Brot, Milch und Rübeneintopf, versuchen die Kälte und Armut mit in Wasser verdünntem Spiritus und dem Schnüffeln an Aceton zu vergessen - jeder Zloty wird für die Bahnfahrkarten gespart. Es ist die Geschichte einer Freundschaft, es geht um die Schwierigkeit des Abwägens von Ehrlichkeit und Heimlichtuerei, um den Widerspruch zwischen Identität und Gemeinschaft. Die Nüchternheit der Erzählung, die schlichte Sprache mit ihren kurzen, einfachen Sätzen lässt Freiräume entstehen, die anrühren: "Katowice ist keine schöne Stadt. Aber wir leben hier. Und nördlich der Bahnlinie gibt es ein paar schöne Straßen". Anrührend ist auch die Einführung des Korsakow-Mannes, eines Alzheimerkranken, den Marek täglich besucht. Und anrührend ist die Liebesbeziehung, die anders als die meisten ersten großen Lieben sehr schnell entromantisiert wird und sich (sexuellem) Missbrauch, Ausbeutung und dem täglichen Überlebenskampf stellen muss. Wieder sind es Detailbeobachtungen, die schlichte und treffende Sprache, überraschende Einfälle, hie und da aufblitzende Poesie und die gut durchdachten Figuren, die den Text zu etwas Besonderem machen.

Insgesamt bestätigt der Erzählband Finn-Ole Heinrich als ernst zu nehmenden Nachwuchsautor, von dem es hoffentlich noch viel Gutes zu lesen geben wird.

Titelbild

Finn-Ole Heinrich: Die Taschen voll Wasser. Erzählungen.
Mairisch Verlag, Hamburg 2005.
134 Seiten, 8,90 EUR.
ISBN-10: 3938539011

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