Philosophinnen gemeinsam sind stark!

Ein Sammelband zur feministischen Phänomenologie und Hermeneutik

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

PhilosophInnen stehen - ob zu Recht oder zu Unrecht - gemeinhin im Ruch, belanglose Glasperlenspiele im Elfenbeinturm zu betreiben. Debra B. Bergoffen, ihres Zeichens Professorin für Philosophie, Women's Studies und Cultural Studies an der George Mason University mit den Arbeitsschwerpunkten Phänomenologie, Erkenntnistheorie und Ethik, kann man diesen Vorwurf jedenfalls schwerlich machen. Zeigt sie doch aus der Sicht der feministischen Phänomenologin auf ebenso erhellende wie eindringliche Weise, was es mit dem Urteil des UNO-Tribunals für Kriegsverbrechen, dass Vergewaltigungen als Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu verfolgen sind, auf sich hat.

Ihr luzider Text "Zum 'Ding an sich' des Patriarchats" ist in einem von Silvia Stoller, Veronica Vasterlin und Linda Fisher herausgegebenen Sammelband zu feministischer Phänomenologie und Hermeneutik nachzulesen. Phänomenologie und Hermeneutik haben Veronica Vaserling und Silvia Stoller zufolge mehr mit feministischer Philosophie gemein, als weithin vermutet werde. So habe sich die "Annäherung" zwischen ihnen zwar nur sehr langsam und mit großer beiderseitiger Skepsis vollzogen, inzwischen zeichne sich aber immerhin mehr als nur "gegenseitige Kenntnisnahme" ab. Nun ist es wohl so, dass Phänomenologie und Hermeneutik vom bloßen "Gegenstand feministischer Kritik" zur "Quelle feministischer Theoriebildung" avanciert sind. Dass umgekehrt die feministische Philosophie im phänomenologischen und hermeneutischen Mainstream angekommen sei, wird man jedoch schwerlich behaupten können.

Drei Philosophinnen sprechen Stoller und Vasterling die Ehre zu, "Entwicklung" und "Ausbau" der feministischen Phänomenologie "besonders inspiriert und vorangetrieben" zu haben: Simone de Beauvoir, Luce Irigaray und Judith Butler. Anfang der 1980er Jahre habe Letztere in einem Aufsatz über Maurice Merleau-Pontys "Phänomenologie der Wahrnehmung" die Möglichkeit eines phänomenologischen Feminismus "in Aussicht [ge]stellt". Sollte Butler also nicht nur die Gender Studies in den 1990er Jahren auf ein neues Fundament gestellt haben, sondern bereits ein Jahrzehnt zuvor Vorreiterin einer feministischen Phänomenologie gewesen sein, die erst im neuen Jahrtausend wirklich Fuß zu fassen beginnt? Nur bedingt. Den eigentlichen "Initiationstext" feministischer Phänomenologie sehen die Autorinnen in Iris Marion Youngs "vielzitierte[m] Aufsatz" "Werfen wie ein Mädchen", der auf einen bereits 1977 gehaltenen Vortrag zurückgeht, bezeichnenderweise in Deutschland jedoch erst 1993 (in allerdings veränderter Fassung) veröffentlicht wurde. Mit Youngs Text, der laut Untertitel "[e]ine Phänomenologie weibliche[n] Körperverhaltens, weiblicher Motilität und Räumlichkeit" entwirft, ist auch der Grundstein für die von Vaserling und Stoller konstatierte "Wiederentdeckung des Körpers" durch die feministische Theorie respektive Phänomenologie gelegt. Hierzu, so die beiden Autorinnen, habe in der Folgezeit "insbesondere, wenn auch nicht ausschließlich", die poststrukturalistische Geschlechterforschung und Judith Butlers bahnbrechendes Werk "Gender Trouble" (1991) beigetragen.

Die Aufsätze des vorliegenden Bandes nähern sich feministischer Phänomenologie und Hermeneutik auf dreifache Weise. Einige untersuchen, ob und inwiefern verschiedene phänomenologische und hermeneutische Texte einer feministisch ausgerichteten Philosophie etwas zu bieten haben. Andere erproben phänomenologische und hermeneutische Philosopheme zur Lösung aktueller Probleme feministischer Philosophie. Eine dritte Gruppe von Beiträgen verknüpft beide Momente miteinander. Allen gemeinsam ist die Bezugnahme auf den gegenwärtigen Diskurs feministischer Philosophie über die Sex-Gender-Debatte, das Dualismusproblem, die Frage von Alterität und Identität sowie Generativität und Authentizität.

Christina Schües etwa richtet ihren Blick aus feministischer Perspektive auf die generative Phänomenologie, Veronica Vasterling untersucht, welche Bedeutung Heideggers ontologische Hermeneutik für die feministische Philosophie besitzt. Gabriele Hiltmanns "Ansätze einer Hermeneutik der/des geschlechtlichen Anderen" nähern sich den "Grenzen des Verstehens". Sara Heinämaa widmet sich "Luce Irigarays phänomenlogische[m] Cartesianismus", Annemie Halsema propagiert eine "wirklich multikulturelle Gesellschaft" und Kelly Oliver plädiert für eine feministische Phänomenologie des Sehens.

In einem der interessantesten Aufsätze des Bandes hebt Silvia Stoller die Gemeinsamkeiten zwischen phänomenologischer Philosophie und poststrukturalistischen Ansätzen hervor. Wo sich diese nicht finden lassen, zeigt sie auf, inwiefern sie einander ergänzen können. Ihr an Joan Scott geschulter Beitrag "[z]ur poststrukturalistischen Kritik an der Erfahrung im Kontext feministischer Philosophie" wird von der Frage geleitet, ob die poststrukturalistische Kritik der Erfahrung die Phänomenologie trifft, und kommt zu dem Schluss, das Letztere die Kritik nicht nur unbeschadet übersteht, sondern dass Poststrukturalismus und Phänomenologie gerade bezüglich des Erfahrungsbegriffs "mehr gemeinsam haben, als man mancherorts gewillt ist zuzugeben". Am intensivsten setzt sich Stoller mit der poststrukturalistischen Vorhaltung auseinander, die Phänomenologie unterschlage den diskursiven Charakter der Erfahrung, denn es sei diese Kritik, die der Phänomenologie am stärksten zusetze. Doch sei die phänomenologische Philosophie der Erfahrung nicht schon darum zu verwerfen, weil sie diskurstheoretisch analysierbar sei. Vielmehr seien beide verschiedene - und einander eben ergänzende - "philosophische Zugangsformen der Analyse der Erfahrung". Eine "Rehabilitierung" des Erfahrungsbegriffs im Kontext der feministischen Philosophie habe die poststrukturalistische Kritik der Erfahrung zu berücksichtigen. Andererseits sei die diskurstheoretische Analyse der Erfahrung außerstande, "die geschlechtliche Erfahrung als geschlechtliche Erfahrung auf den Begriff zu bringen". Dies bleibe der "Ergänzung" des Poststrukturalismus durch die Phänomenologie vorbehalten.

Titelbild

Silvia Stoller / Veronica Vasterlin / Linda Fisher (Hg.): Feministische Phänomenologie und Hermeneutik.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2005.
303 Seiten, 44,00 EUR.
ISBN-10: 382603032X

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