Die Nase als Zündschlüssel

Herlinde Koelbls fotopolitische Studie

Von Rolf-Bernhard EssigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf-Bernhard Essig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Physiognomik ist dem Menschen nicht auszutreiben. Fast schon störrisch hält er daran fest, in den Zügen eines anderen dessen Lebenswandel in der Vergangenheit, vielleicht sogar in der Zukunft erkennen zu wollen. In tragischer Ironie spricht König Duncan in "Macbeth" eine Wahrheit aus, der er selbst zum Opfer fallen wird: "Kein Wissen gibt's, der Seele Bildung im Gesicht zu lesen." Im Besitz dieser Lektürekunst hätte er den Mörder aus Ruhmsucht erkennen können; da sie ihm fehlt, durchbohrt ihn der Dolch des falschen Gastgebers.

Lavater ist lange tot (unsterblich Lichtenbergs Satiren gegen dessen "Physiognomik"), und dennoch verging kein Jahrzehnt ohne Wiederaufnahme, Modifikation, Fortführung der Lehre des Schweizers, der ja selbst nur weiterwirkte am altehrwürdigen Bau der Gesichtslehre.

Aller Aufklärung über den zweifelhaften Erfolg der Methode und allen Toleranzaufrufen zum Trotz, wir können nicht anders als das Gesicht eines Menschen zu interpretieren: Krähenfüße, Grübchen, dünne Lippen, buschige Brauen, Schafsnasen, angewachsene Ohrläppchen, Kerb- und Doppelkinn, fliehende oder hohe Stirn, sie können Sympathie wie Misstrauen, Angst wie Mitleid auslösen. Scheinen wir, im Gegensatz zu Frisur, Barttracht, Schminke, Brille, für solche Merkmale auch kaum Verantwortung zu tragen, modellieren wir dennoch durch die Art zu leben unseren Leichnam.

Herlinde Koelbl will mit ihrem Buch "Spuren der Macht" in den Gesichtern von fünfzehn Politikern und Managern zeigen; sie will die "Verwandlung des Menschen durch das Amt" in einer Langzeitstudie über acht Jahre (1991 - 1998) vorführen - und findet mehr und weniger, als sie sich vorgenommen hat.

Fünfzehn mal acht Porträtfotografien, fünfzehn mal acht ausführliche Interviews auf 408 großformatigen Seiten, das sind die nackten Zahlen. Als Objekte der Studie dienen Männer und Frauen, die 1991 am Anfang einer vielversprechenden Laufbahn zu stehen schienen: Joschka Fischer, Angela Merkel, Frank Schirrmacher, Karlheinz Blessing, Monika Hohlmeier, Arnold Vaatz, Heinrich von Pierer, Heide Simonis, Henning Schulte-Noelle, Renate Schmidt, Peter Gauweiler, Friedbert Pflüger, Rolf Schlierer, Irmgard Schwaetzer, Gerhard Schröder. Jedes Jahr wieder erschien Herlinde Koelbl zu einem Foto- und Gesprächstermin, an dem die vergangenen zwölf Monate bilanziert und grundsätzliche Fragen zur Biografie, zu Lebensentwürfen, Partnerschaft und Macht gestellt wurden.

Ob man nun tatsächlich "Spuren der Macht" in den Gesichtern sieht oder vielleicht eher Spuren des Alterns, persönlicher Enttäuschungen, Zeichen von Krankheit oder erfüllter Partnerschaft? Haben wir den Eindruck, Angela Merkel oder Irmgard Schwaetzer gefielen uns auf den aktuellen Bildern besser, weil wir sie jetzt so kennen und sie zeitgemäß gekleidet finden? Überhaupt scheint die Kleidung genauso viel zu verraten wie die Gesichter, zumal die Abgelichteten auf den Termin vorbereitet waren. Schwer zu beurteilen ist die Formung durch das Amt auch deshalb, weil Brustbild, Dreiviertelfigur (sitzend oder stehend) sich abwechseln. Herlinde Koelbl weist jedenfalls darauf hin, dass die Wirtschaftsführer sich viel weniger verändern als die Politiker. Ein untrügliches Zeichen dafür, wie hier mit Geld, Zahlen, Material, dort mit den sogenannten credence goods, also Glaubwürdigkeit, Verlässlichkeit, Integrität, kurz mit der Persönlichkeit und dem Image, zu dem das Aussehen gehört, gewirtschaftet wird.

Zu den vielen Vorzügen des Buches zählt, dass es dazu reizt, die Bilder aus dem Buch zu lösen und sie über den jeweiligen Interviewtext zu legen oder sie neu zu arrangieren. Man würde gerne spielen und Renate Schmidt von 1998 neben Monika Hohlmeier und Angela Merkel von 1991 und Irmgard Schwaetzer von 1995 platzieren, Frank Schirrmacher 1994 neben Peter Gauweiler 1998 und Karlheinz Blessing von 1997.

Es gibt im Magazin der "Süddeutschen Zeitung" die Rubrik "So kann man sich täuschen", in der jemand einen ihm Unbekannten auf einem Foto beurteilen soll. Wer ist er, was treibt er, was motiviert ihn? Koelbls Aufnahmen eigneten sich wunderbar für dieses Spiel, bei dem sich garantiert kuriose Fehlinterpretationen ergeben. Schließlich stellt sich schon die Frage: Wie sieht jemand aus, der einen der größten Versicherungskonzerne führt, und worin unterscheidet sich sein Gesicht von dem des ehemaligen Bundesgeschäftsführers der SPD oder dem des Herausgebers der FAZ?

Selbst die Prominentesten schauen uns auf diesen Seiten erstaunlich verändert an, obwohl ihr tausendfach vervielfältigtes Bild unser Leben der letzten Jahre ständig begleitet hat. Was ist das für ein merkwürdiger Effekt? Wir haben sie so noch nie gesehen, weil es weder Wahlplakate noch Homestory-Pictures, weder Schnappschüsse noch Nachrichtenbilder sind.

"Ich wollte", erklärt Koelbl, "kein Lachen, sondern einen offenen, ruhigen Blick in die Kamera und einen weißen, neutralen Hintergrund." Es scheint so, als sei dies eine ungewohnte, gleichzeitig verunsichernde wie schmeichelnde Künstlichkeit für die medienerfahrenen Männer und Frauen. Manche haben offensichtlich Spaß am Experiment (Heide Simonis, Peter Gauweiler), andere folgen wohl eher einem Verantwortungsgefühl, einer Art von Verpflichtung (Heinrich von Pierer, Rolf Schlierer).

Ist Objektivierung das richtige Wort für diese inszenierte Neutralität? Ganz anders als in ihrem Band "Im Schreiben zu Haus" stanzt Koelbl die Porträtierten aus ihrem offiziellen oder privaten Dingzusammenhang aus. Mit Gernhardt zu sprechen, müssen hier Gesichter Flagge zeigen, ungeschützt und unbelästigt von sinn- oder imagestiftenden Objekten (Schröder hält sich bezeichnenderweise zweimal an einer Zigarre fest). Ganz anders als die zum sofortigen Verbrauch bestimmten Medienbilder zielen die brillanten Fotos auf Dauer und Wesensbannung. Vielleicht passt Humanisierung besser, Individualisierung oder Restitution von Persönlichkeit.

Doch noch einmal, wurden wirklich "Spuren der Macht" in den Gesichtern lesbar gemacht? Unzweifelbar schätze ich an dem Buch über die Maßen neben der technischen Bravour die Kunst, Menschen bis zu dem Grad Vertrauen einzuflößen, dass sie sich im eigentlichen Verstande zeigen; mit einer deutlichen Ausnahme übrigens: Gerhard Schröders Bilder wirken sehr bildbewusst und selbststilisiert, als könne er die Inszenierungsgewalt nicht für einen Moment aus der Hand geben. Als wäre die Leistung solch einer Mächtigkeitengalerie der 90er nicht schon genug, bietet Herlinde Koelbl dazu Gespräche, die jeder Politiker, jeder Trainee am Anfang seiner Karriere lesen sollte.

Wenig überrascht die notorische Formulierung vom "Preis der Macht", der bezahlt werden müsse mit der Einschränkung privaten Lebens und persönlichen Glücks, den zumeist die Partner zu zahlen haben. Ebenso erwartbar, gleichwohl in Teilen bedauerlich, wie sich gerade die Jüngeren zunehmend dem Realitätsprinzip und dem vorgefundenen System anpassen; durchaus mit vernünftigen Gründen. Noch immer ärgerlich, dass Frauen doppelt hart um Anerkennung und gegen Klischees kämpfen müssen. Koelbl: "Frauen sind also leichter zu schlachten?" Schwaetzer: "Eindeutig."

Dann aber liest man ganz unerwartete Geständnisse, Reflexionen und Einsichten, die sich der ebenso beharrlichen wie loyalen Befragung durch Koelbl verdanken und zutiefst bewegen. Selten habe ich soviel aus einem Buch in meine Gespräche getragen, in meine Gedanken aufgenommen, mich so wenig davon lösen können. Die Achtung für das Gegenüber, wie sie die Fotografin und Interviewerin stets wahrt, überträgt sich unmittelbar auf den Leser. Welcher politischen Partei auch immer man zuneigt, nach diesen Gesprächen sieht man den Gegner mit mehr Tiefenschärfe.

Die langfristige Perspektive des Projektes ermöglichte Vertrauensbildung und damit wachsende Bereitschaft für Wahrheiten, die im Tagesgeschäft unmöglich wären. Freude am Kabinettskrieg gibt Joschka Fischer unumwunden zu, geschmeichelte Eitelkeit und Genießen des Einflusses konzediert Heide Simonis ohne Zögern. Monika Hohlmeier berichtet, wie sie nach dem Tod der Mutter in die Politik hineinwuchs, während sie ihren Vater auf Wahlkampftour begleitete, wie sie lernt, Intrigen zu ertragen und zu bekämpfen, wie ihre Ehe leidet und sie um ihre Erhaltung erfolgreich ringt. Von ihr stammt die schönste Anekdote im Buch, dass ihr Vater nämlich für sie ein Motorboot spielte, wobei seine Nase den Zündschlüssel, seine Ohren den Motor darstellten. Nicht zuletzt lässt sich "Spuren der Macht" als eine Geschichte der 90-er lesen (Barschel-Affäre, Asylrechtsdebatte, Wehrmachtsausstellung), die aus fünfzehn unterschiedlichen Perspektiven erzählt wird.

Wie bei den Fotos nutzen einige Portraitierte mit Lust die Möglichkeit, sich ausfragen zu lassen, und mit weniger Rücksichten zu antworten. Andere betreiben eher professionelle Öffentlichkeitsarbeit (wiederum Gerhard Schröder); am deutlichsten formuliert es Heinrich von Pierer: "Sie wissen doch, dass ich nichts verraten werde." Ähnlich zurückhaltend, doch stilisierter, antwortet Frank Schirrmacher in vielem ausweichend.

Am besten unterhalten zweifellos die volten- und pointenreichen, dabei ungeheuer anregenden Gespräche mit Peter Gauweiler und Heide Simonis, doch aus jedem der anderen entnimmt man so viele Informationen über das Leben der politisch-wirtschaftlichen Führungspersönlichkeiten, dass man keines missen möchte.

Eine Frage allerdings scheint verzichtbar - außer bei Joschka Fischer, der daraus ein öffentliches Thema machte: "Haben Sie zugenommen?" Immer wieder geht es nicht etwa um zehn, gar fünfzehn Kilo oder um Gesundheitsprobleme. Nein, zwei Kilo hin oder her - so what?

Halten wir uns lieber an wichtigere Wahrheiten, so von Rolf Schlierer, dem Chef der Republikaner ("Es war eine Illusion zu glauben, man könne in der Politik unbeschädigt bleiben"), von Peter Gauweiler ("Der Wille zur Kameradenverteidigung ist in der CSU abgeschafft") oder von Angela Merkel: "Niemand auf der Welt kann so Kartoffelsuppe kochen wie ich."

Kein Bild

Herlinde Koelbl: Spuren der Macht. Die Veränderung des Menschen durch das Amt.
Knesebeck Verlag, München 1999.
390 Seiten, 50,10 EUR.
ISBN-10: 3896600575

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