Kriegsmüde Soldaten in den Händen deutscher Blutrichter

Jochen Missfeldt gedenkt in "Steilküste" Deserteuren, die noch nach Kriegsende hingerichtet wurden

Von Stephan LandshuterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stephan Landshuter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Todesstrafe ist immer ein barbarischer Akt, auch wenn sie bei "Fahnenflucht" zu Kriegszeiten verhängt wird. Unfasslich wird sie, wenn Exekutionen noch nach dem Ende von Kriegshandlungen vollzogen werden. Jochen Missfeldt greift in seinem dritten Roman "Steilküste" einen solchen Fall auf, der sich im Mai 1945 im von Deutschen besetzten Dänemark zutrug.

Damals wurden vier Soldaten, die sich in den Tagen nach Hitlers Selbstmord noch als Kanonenfutter hätten hergeben sollen, zum Tode verurteilt, weil sie sich heimlich von der Truppe entfernt hatten. Sie sahen, wie man leicht nachvollziehen kann, keinen Grund mehr, den Wahnsinn ihrer fanatischen Vorgesetzten länger mitzumachen. Dänische Milizen griffen sie auf und übergaben sie der deutschen Gerichtsbarkeit. Über alle vier wurde das Todesurteil gesprochen und an dreien tatsächlich vollstreckt. Was die Angelegenheit noch unverständlicher macht: Urteil und Hinrichtung fanden am 9. und 10. Mai statt, mithin nach der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands.

Der Autor, als Luftwaffenoffizier und Starfighter-Pilot bis Anfang der 80er-Jahre selbst Soldat, nähert sich dem Thema aus einer gewissen Distanz. Zunächst schlüpft er wieder in die Figur seines Alter Ego Gustav Hasse, der dem Missfeldt-Leser bereits aus den ausgezeichneten Romanen "Solsbüll" (1989) und "Gespiegelter Himmel" (2001) vertraut ist. Dieser Hasse begibt sich bei einer Dänemark-Reise in unseren Tagen auf Spurensuche: Im Mai 1945 beobachtete er als vierjähriges Waisenkind an der Hand eines Heimvaters, wie die deutsche Marine ihre eigenen U-Boote versenkte, um möglichst wenige Schiffe in Feindeshand fallen zu lassen.

Missfeldt reduziert zudem das Personal: Im Roman sind es nur zwei Deserteure, wodurch er das Thema konzentrierter bearbeiten kann. Eines Nachts stehlen sich die beiden davon, um zu ihren Angehörigen zurückzukehren. Ehe sie sich versehen, sind sie verhaftet und in deutscher Hand. Ein beflissener Gerichtsherr reist an und kommt zu dem Urteil, dass ein Fall schwerer Fahnenflucht vorliege, auf den der Tod steht.

Dieses Handlungsmuster erinnert zum einen an die Erzählung "Ein Kriegsende" (1984) von Siegfried Lenz, in der ebenfalls Deserteure in letzter Kriegsminute hingerichtet werden. Zum anderen wird einem auch die "Affäre Filbinger" wieder ins Gedächtnis gerufen: Der ehemalige Marinerichter machte Karriere als CDU-Politiker und wurde baden-württembergischer Ministerpräsident, bis er 1978 zurücktreten musste, nachdem seine Todesurteile bei Kriegsende publik wurden. Viel diskutiert war sein damaliger Rechtfertigungsversuch: "Was damals Recht war, kann heute nicht Unrecht sein."

Missfeldt breitet in scheinbar sachlichem, auf subtile Art aber doch sarkastischem Ton aus, wie viele Verfahrensfehler gemacht wurden und wie viele goldene Brücken es im Kriegsrecht zu einem milderen Urteil gegeben hätte. Doch der rechtsideologisch verblendete, bürokratische Richter, der sich bemerkenswerterweise gleichzeitig als überzeugter Christ versteht und auch später noch, ähnlich seinem realen Kollegen Filbinger, das Urteil als unausweichlich und gerecht bewertet, ist zu keiner Revision zu bewegen. Fredy und Fritz sterben durch Kugeln ihrer eigenen Kameraden. Der Gerichtsherr lebt noch viele Jahrzehnte, offenbar unbehelligt von einem unruhigen Gewissen.

Das zentrale Kapitel ist "Die Nacht" betitelt. Abwechselnd wird hier in der Nacht vor der Hinrichtung aus der Perspektive des Richters und der Verurteilten erzählt. Der Richter könnte Milde walten lassen, schmettert aber innere Zweifel ab; die Todgeweihten schreiben Abschiedsbriefe an Verlobte und Eltern und letzte Tagebucheinträge. Da der Autor Einsicht in Originalquellen der historischen Vorbilder hatte, darf man annehmen, dass er dieses Material nutzte. Missfeldt holt aber noch weiter aus, er erzählt in komprimierter Form die Lebensgeschichte der beiden jungen Soldaten mit all ihren Plänen und Hoffnungen, aus denen nun nichts mehr werden wird. Am Ende des Kapitels blendet er wieder über auf die unerschütterliche Selbstgerechtigkeit des Richters, der die Macht hat, diese Leben zu beenden. Missfeldt alias Gustav Hasse führt die bornierte Denkweise des Richters bis ins Detail vor.

Gerade in der untergründigen Bewertung des Richters zeigt sich eine wesentliche Differenz zu "Ein Kriegsende" von Siegfried Lenz: Zwar in seinem bisweilen kühl anmutenden, sachlichen Stil dem Lenz'schen Text auf den ersten Blick nicht fern stehend, unterscheidet sich Missfeldts Roman letztlich deutlich von Lenz' beinahe befremdlich neutraler Vorgehensweise, da der Autor hier keinen Hehl aus seiner Verachtung für den Richter macht. Dies wird aber nicht mit erhobenem Zeigefinger expressis verbis mitgeteilt - es genügt Missfeldt, es elegant durchscheinen zu lassen. Des Weiteren überzeugt sein Buch durch eine chronologisch verschachtelte, raffinierte Erzählweise, die sich nicht wie Lenz' geradliniger Realismus auf die Außenperspektive und einen einzigen Erzählstrang beschränkt. Der einzige Vorwurf, den man dem Roman machen könnte, wäre vielleicht der, dass es dem Grauen, sich wirklich in die Köpfe zweier Todgeweihter zu versetzen, ein wenig ausweicht. Vielleicht ist die distanzierte Erzählhaltung hier aber auch als Respekt vor den realen Opfern zu verstehen.

Mit "Steilküste" ist Jochen Missfeldt ein literarisch wertvoller Beitrag zur Aufarbeitung deutscher Geschichte gelungen: Der Krieg endete für manche deutsche Soldaten tragischerweise eben noch nicht einmal am 8. Mai 1945.

Titelbild

Jochen Missfeldt: Steilküste. Ein See- und Nachtstück.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2005.
283 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3498044931

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