Die fünfte Jahreszeit

Gedichte von Ewa Lipska

Von Daniel HenselerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Henseler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es gibt in meiner Heimat eine Spezialität mit dem Namen Willisauer Ringli. Man darf auf keinen Fall in dieses beinharte Gebäck hineinbeißen. Richtig gegessen wird es so: Man zerschlägt es mit der Faust in zwei, drei Teile und führt dann jedes Stücklein einzeln in den Mund. Dort lässt man es geduldig auf der Zunge vergehen: Erst dann entfaltet sich der ganze Geschmack, und der süße Honig wird frei. Ewa Lipskas Gedichte sind eigentlich von ganz ähnlicher Art. Sie sperren sich gegen eine schnelle Lektüre und sind alles andere als literarisches Fastfood. Aber wer noch die Geduld (heutzutage fast schon eine Tugend) aufbringt, der wird immer wieder mit einem überraschenden Genuss belohnt: mit neuen Einsichten etwa, mit einer leisen Ironie.

Die 1945 geborene Ewa Lipska gehört zu den wichtigsten polnischen Dichterinnen der Gegenwart. In den letzten Jahren pendelte sie zwischen Krakau und Wien hin und her; in Wien leitete sie das Polnische Institut. Seit 1967 hat sie eine ganze Reihe von Gedichtbänden veröffentlicht. Kürzlich hat sie auch Lieder geschrieben, die von Komponisten vertont und von Anna Szalapak interpretiert wurden. Bisweilen wurde Lipska in ihrer Heimat der Generation der "Nowa Fala" (Neue Welle) zugerechnet, die um 1970 und danach in ihren Gedichten die Beeinflussung und Steuerbarkeit der Menschen durch die öffentliche Sprache zum Gegenstand machte. Lipska selbst betonte jedoch stets, keiner literarischen Richtung angehören zu wollen.

In der Übersetzung von Doreen Daume hat der Verlag Droschl vor kurzem eine Auswahl aus Lipskas Werk vorgelegt. Drei der neuesten Bände der Dichterin wurden vollständig aufgenommen, dazu kommen Gedichte aus früheren Bänden seit 1982. Ewa Lipskas Themen sind vielfältig und entstammen oft dem Alltag. Von der Saftpresse über die "Ehemaschine", vom Anrufbeantworter zum Computer kann für sie alles zum poetischen Gegenstand werden. Aber auch Erinnerungen, Betrachtungen und Meditationen finden sich. Und natürlich ist auch das Schreiben selbst für Lipska ein Thema, wie könnte es anders sein: "Unfall // Die Polizei behauptete / die Kurve sei auf Rache aus gewesen. / Sie hätte sich plötzlich gekrümmt. Verbogen. / Eine Asphaltillusionistin. // Dichter kennen diesen Moment: / wenn es noch zu früh für den Schrei ist / jedoch zu spät um die Sprache zu zügeln. // Auf rasenden Motorrädern / direkt in die Nebelruine."

Lipskas Gedichte schwanken in ihrer Färbung von hell über dunkel, sie können humorvoll und ironisch sein, dann aber auch wiederum pessimistisch. Oft greift Lipska auf ungewöhnliche Metaphern und sprunghafte Assoziationen zurück, deren Hintersinn sich einem nicht sofort erschließt. Der Titel der deutschen Auswahl, "Achtung: Stufe" - so ist auch eines der Gedichte überschrieben - ist klug gewählt: Er ist eine charmante und zugleich ironische Warnung der Autorin an die Leser vor dem Straucheln in ihren Gedichten. Wo andere viele Worte benötigen, da vertraut Lipska auf Leerstellen und die Geduld der Leser. Satzzeichen verwendet sie sparsam. Nur Punkte werden oft eingesetzt: am Schluss eines Gedichts immer, meistens auch nach einer Strophe oder besser noch nach einer Versgruppe. Hier und da erscheint auch ein Doppelpunkt, nie aber ein Komma. Damit lässt Lipska absichtlich Raum für Spekulationen. Dies verstärkt sie noch dadurch, dass sie vielmals auf Verben verzichtet und nur Satzglieder aneinander reiht.

Gerade auch bei den "Liebesgedichten" ist ein Augenzwinkern fast immer mit von der Partie, etwa wenn der Alltag eines Paares mit dem Fußball verglichen wird: "Unser Pokal-Mittwoch / endet mit einem Remis." Besonders in solchen Momenten ist Lipska ihrer Schriftstellerkollegin und Freundin Wislawa Szymborska verwandt. Manchmal malt man sich als Leser geradezu aus, wie die beiden einander ihre Gedichte zeigen und sich zu zweit ins Fäustchen lachen. Etwa dort, wo beide ironische Berichte über mehr oder minder gelungene "Autorenlesungen" abliefern. Zum Beispiel Ewa Lipska: "Fragen bei einer Dichterlesung // Ihre Lieblingsfarbe? / Der glücklichste Tag? / Ein Gedicht das Ihre Vorstellungen übertraf? / Wir sind entsetzt. [...]"

Poesie, schreibt Lipska im Motto, das der Auswahl vorangestellt ist, sei die fünfte Jahreszeit, in der sie in Urlaub fahre. "Es ist die Saison für die Einsamkeit, und für alle, die diese Gedichte lesen wollen".

Titelbild

Ewa Lipska: Achtung: Stufe.
Übersetzt aus dem Polnischen von Doreen Daume.
Literaturverlag Droschl, Graz 2004.
109 Seiten, 21,00 EUR.
ISBN-10: 3854206666

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