Ich bin keine Wissenschaftlerin

Doris Ingrisch und Brigitte Lichtenberger-Fenz schauen hinter die Fassaden der Wissenschaft

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dem Einzug von Wissenschaftlerinnen und Feminismus in die Wissenschaften sind Doris Ingrisch und Brigitte Lichtenberger-Fenz in ihrer soziologischen Studie "Hinter den Fassaden des Wissens" nachgegangen, die auf 61 Interviews basiert. Sie sind zu erfreulichen Ergebnissen gelangt: "In den kulturwissenschaftlichen Disziplinen zuerst entwickelt, hat die feministische Perspektive in allen Wissensbereichen Einzug gefunden" und "Wissenschaftlerin-Sein und Frau-Sein" zu vereinbaren sei eine "neue Selbstverständlichkeit". Allerdings drängt sich der Eindruck auf, dass die Untersuchungsergebnisse allzu optimistisch interpretiert worden sind. Die Autorinnen des von Bettina Dausin herausgegebenen Bandes "Erkenntnisprojekt Geschlecht" zumindest äußern sich wesentlich zurückhaltender (vgl. die Rezension in literaturkritik.de 8/9-1999 "Sisters in Science"). Und tatsächlich wird der Optimismus der Autorinnen durch den Anhang relativiert, ja fast dementiert. Dort offenbart sich nämlich, wie eklatant die Naturwissenschaften in der Befragung unterrepräsentiert sind. Unter den 61 interviewten Wissenschaftlerinnen befindet sich beispielsweise nur eine Physikerin und keine Chemikerin. Davon, dass Frauen und Feminismus sich in allen Wissenschaften etabliert haben, kann also kaum die Rede sein. Auch ein jüngst von der "Europäischen Kommission für Chancengleichheit von Frauen in der Wissenschaft" vorgelegter Report zeichnet ein eher düsteres Bild: Nur ein Drittel der Promovenden und gar nur ein Fünftel der Habilitierenden in Europa sind Frauen. Dass es in Österreich, auf das sich die Untersuchung von Ingrisch und Lichtenberger-Fenz beschränkt, um so viel besser bestellt sein soll als im Nachbarland oder in der EU insgesamt, erscheint doch eher unwahrscheinlich. Die im angestaubten Jargon der 70er Jahre vorgetragene Rede von der "kollektiven qualitativen Eroberung der Wissenschaften durch Frauen", klingt angesichts dessen allzu euphorisch.

Neben der Untersuchung des Einflusses von Frauen und Feminismus auf die Wissenschaften widmet sich die Studie einer zweiten Frage: Sie gilt der individuellen Lebensgestaltung von Wissenschaftlerinnen. Für die interviewten Frauen mag es selbstverständlich sein, dass sie ihr Frau-Sein mit ihrem Dasein als Wissenschaftlerin vereinbaren können. Doch daraus eine allgemeine Selbstverständlichkeit abzuleiten, wie die Untersuchung es nahe legen könnte, wäre nicht plausibel. Denn es wurden eben nur Wissenschaftlerinnen interviewt, nicht jedoch Frauen, die zu der vermutlich großen Zahl derjenigen gehören, die auf eine wissenschaftliche Karriere verzichten mussten, eben aufgrund der vielfältigen Hindernisse, die die immer noch patriarchale (Wissenschafts-)Gesellschaft angehenden Wissenschaftlerinnen in den Weg legt.

Dessen ungeachtet handelt es sich bei den zum guten Teil recht ausführlichen Zitaten aus den Interviews oft um die lesenswertesten Passagen des Buches. Etwa, wenn Elisabeth List, die als feministische Philosophieprofessorin vorgestellt wird, erklärt, sie sei keine Wissenschaftlerin sondern Philosophin. In eins übt sie Autoritäts-, Gesellschafts- und Wissenschaftskritik: "Außerdem ist die Aussage, 'ich bin Wissenschaftlerin' immer auch die Erklärung eines Autoritätsanspruchs, denn Wissenschaft gilt als Wissensautorität in unserer Gesellschaft". Feminismus aber bedeutet Kritik, und daher ist der feministische Standpunkt eben keine Wissenschaft, sondern deren Kritik. Für die Philosophin handelt es sich hierbei ganz einfach um eine "Frage der Kohärenz". Ihr zufolge ist eine "feministische Wissenschaft" geradezu eine contradictio in adjecto. Denn der Feminismus analysiert und kritisiert die Wissenschaft, "wie sie als kulturelle Instanz sich etabliert hat", als androzentrisch. "Also", so folgert sie mit feministisch-philosophischem Scharfsinn, "kann Androzentrismuskritik nicht im selben Sinne Wissenschaft sein." Stattdessen spricht sie lieber von "feministischer Wissenschaftskritik". Solche und ähnliche Statements sind es vor allem, die das Buch zur lohnenden Lektüre machen.

Doris Ingrisch und Brigitte Lichtenberger-Fenz:

Titelbild

Doris Ingrisch / Esme Fenz-Lichtenberger: Hinter den Fassaden des Wissens. Frauen, Feminismus und Wissenschaft - eine aktuelle Debatte.
Milena Verlag, Wien 1999.
295 Seiten, 20,30 EUR.
ISBN-10: 3852860652

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch