Wie lernt man „den aufrechten Gang“?

Peter Trawny analysiert die politische Ethik Hannah Arendts

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Fragt man nach den ersten Versuchen des Nachdenkens über den Genozid an den Juden, dann muss man sich auf die Suche nach den intellektuellen Randgängern machen. Also nach solchen Geistern, die sich den allgemeinen wissenschaftlichen Diskusregeln nicht anpassen wollten, weil sie von einem Ereignis so tief erschüttert waren, das für die meisten Beobachter unsichtbar blieb. Man muss also, um mit Walter Benjamin zu sprechen, „die Geschichte gegen den Strich bürsten“ und ein von den Zeitgenossen unbeachtet gebliebenes Fragment der vergangenen Kultur untersuchen, eine Reaktion auf ein Ereignis herausarbeiten, das ansonsten, als es stattfand, weder Protest noch Empörung auslöste, das keinen Anstoß zum Nachdenken gab, sondern bei der überwiegenden Mehrzahl der Rezipienten auf Verständnislosigkeit, Ungläubigkeit oder Gleichgültigkeit stieß, deren Resultat das Schweigen war.

Zu den wenigen Parias und Lumpensammlern des Geistes, die keine Angst hatten, sich schmutzig zu machen, gehört Hannah Arendt, deren kritisches Denken seit dem Ende der 30er Jahre den Folgen des Nationalsozialismus für die Juden und für Europa galt. Sie ging von ihrer eigenen Paria-Situation aus – der einer exilierten und staatenlosen Jüdin. In einer wichtigen Passage ihres Buches „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“, das im amerikanischen Original 1951 erschien und gewissermaßen die erste Etappe der Reflexion über die Shoah abschließt, heißt es: „Die Nazis haben mit der ihnen eigenen Gründlichkeit im Falle der Juden einen solchen langwierigen Prozeß der Präparierung für die Ausrottung von Menschen aller Welt vorgeführt; er begann mit der Erklärung, daß Juden Staatsbürger zweiter Klasse sind, ging über den Entzug der Staatsbürgerschaft auf dem Wege der Deportation in die Ghettos und Konzentrationslager, von wo sie nochmals, nun bereits als absolut Rechtlose, aller Welt öffentlich angeboten wurden, um zu sehen, ob sich einer fände, der sie reklamiere; erst als ihre ‚Überflüssigkeit‘ oder Standlosigkeit in der gesamten Menschenwelt als erwiesen gelten konnte, ging man dazu über, sie auszurotten“.

Für das historisch neuartige Phänomen einer großen Schicht von „überflüssigen“, halt- und staatenlosen Individuen war Arendt besonders sensibilisiert. Während des Zweiten Weltkriegs machte die Ausrottungspolitik der Nationalsozialisten auf unheilvolle Weise deutlich, wie eine „Lösung“ des Problems der modernen Paria-Massen im Rahmen des Totalitarismus aussehen könnte. In permanenter Auseinandersetzung mit dieser Diskurs-Konstellation durchlief Arendts Denken über Auschwitz drei Phasen. Zunächst stand in einer ersten Phase zwischen 1944 und 1946 der Genozid an den Juden im Mittelpunkt ihrer Analyse des Nationalsozialismus. In den „Todesfabriken“ der Konzentrationslager, die allerdings nicht von den Vernichtungslagern der Nationalsozialisten geschieden werden, sah sie das tragische Endergebnis der infernalischen Allianz, die Nationalsozialismus und Antisemitismus mit der modernen Technik eingegangen waren. In diesen Überlegungen finden sich nicht wenige Berührungspunkte zu Martin Heideggers Kritik entfesselter Technikgläubigkeit, die dieser – zumindest anfänglich – als Kontrapunkt zur Politik der Nationalsozialisten wahrnahm. An der Wende von den 40er zu den 50er Jahren machte Arendt sich den Totalitarismus-Begriff zu eigen und versuchte, die „organisierte Hölle“ [von Auschwitz], von deren Existenz sie noch während des Krieges Kenntnis genommen hatte, aus der Geschichte heraus verständlich zu machen. Ihr Interesse verlagerte sich vom Genozid an den Juden auf den von David Rousset bereits 1945 detailliert beschriebenen Univers concentrationnaire. Zehn Jahre später kam Hannah Arendt schließlich, anlässlich des Prozesses gegen Adolf Eichmann in Jerusalem, auf den Genozid der Juden zurück, dessen Organisation sie nun mit Hilfe einer umfangreichen wissenschaftlichen Literatur rekonstruieren konnte. Die in diesem Zusammenhang geprägte Formel von der „Banalität des Bösen“, wie Eichmann sie ihr zufolge verkörperte, enthüllte den routinemäßigen, administrativen, „rationellen“ Charakter des Massakers, dessen eigentliche Bedeutung darin lag, dass es sich dabei um „einen Angriff auf die menschliche Mannigfaltigkeit als solche“ handelte. Auschwitz stand also am Anfang und am Ende von Arendts Untersuchung des Totalitarismus. Sie erkannte als eine der ersten Intellektuellen überhaupt, dass mit Auschwitz etwas völlig Neues und Unvorstellbares geschehen war, indem sie den Genozid nicht als weitere Etappe in der Geschichte der Judenmassaker deutet, sondern als Ereignis von universaler Tragweite, das die Menschheit mit neuen Perspektiven konfrontiert. Und sie versucht, seine Besonderheit zu denken. Doch inwiefern ist die Shoah überhaupt denkbar?

Für Peter Trawny basiert der „Verwaltungsmassenmord“ auf einem „Denken im Unterschied von Gut und Böse“. In seiner Untersuchung zur politischen Ethik Hannah Arendts geht er mit Arendt davon aus, dass es vor allem „Gedankenlosigkeit“ war, die Eichmann zum Funktionär der Vernichtung werden ließ. Gedankenlosigkeit darf jedoch nicht mit Nicht-Denken gleichgesetzt werden, vielmehr ist sie eine bestimmte Weise des Denkens. Als Musterbeispiel eines solchen leidenschaftlichen Denkers, der sich in einer bestimmten Phase seines Denkens der Gedankenlosigkeit hingab, kann nach Meinung Hannah Arendts ihr Mentor, Lehrer und Liebhaber Martin Heidegger gelten. In ihrem Aufsatz „Martin Heidegger ist achtzig Jahre alt“ (in: Merkur 23 [1969], 893-902) führt sie aus: „Heidegger hat in dieser, erst von einem bohrenden Denken erschlossenen Tiefendimension ein großes Netz solcher Denkpfade angelegt; und das einzige unmittelbare Resultat, das verständlicherweise beachtet worden ist und Schule gemacht hat, ist, daß er das Gebäude der überkommenen Metaphysik, in dem sich ohnehin schon geraume Zeit niemand so recht wohl fühlte, so zum Einsturz gebracht hat, wie eben unterirdische Gänge und Wühlarbeiten das zum Einsturz bringen, dessen Fundamente nicht tief genug abgesichert sind.“ Doch gerade diese Leidenschaftlichkeit des Denkens war nach Ansicht Arendts für Heideggers große „Gedankenlosigkeit“ verantwortlich, die ihn während der Zeit des Nationalsozialismus dazu veranlasste, der Versuchung nachzugeben und seinen „Wohnsitz“ des Denkens zu ändern. Resümierend bemerkt sie: „Wir, die wir die Denker ehren wollen, wenn auch unser Wohnsitz mitten in der Welt liegt, können schwerlich umhin, es auffallend und vielleicht ärgerlich zu finden, daß Plato wie Heidegger, als sie sich auf die menschlichen Angelegenheiten einließen, ihre Zuflucht zu Tyrannen und Führern nahmen. Dies dürfte nicht nur den jeweiligen Zeitumständen und noch weniger einem vorgeformten Charakter, sondern eher dem geschuldet sein, was die Franzosen eine déformation professionelle nennen“.

Dementsprechend steht nach Ansicht Trawnys mit der Shoah „nicht nur die allgemeine Gedankenlosigkeit, sondern auch das entschiedene Denken, steht auch die Wissenschaft und die Philosophie auf dem Prüfstand“. Seiner Meinung nach ist die Shoah „das Kriterium für die ethische Verfassung des Denkens, und wenn dieses sich als immoralisch erweist und sich damit jenseits von Gut und Böse befinden will, besteht noch die Möglichkeit, daß gerade das immoralische Denken die Technik des Holocaust ist“. Trawny arbeitet überzeugend heraus, dass sich in Arendts Texten zweifelsohne ein ethischer Impuls erkennen lasse. Seine Deutung der Texte Hannah Arendts als vom „Geschichtszeichen“ der Shoah imprägniert, eröffnet neue und interessante Perspektiven für den Versuch, über Auschwitz nachzudenken. Letztlich heißt dies, die „Geschichte zu moralisieren“, damit die Besiegten nicht vergessen werden und die Menschheit schließlich, mit Ernst Bloch zu sprechen, „den aufrechten Gang“ lernt.

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Peter Trawny: Denkbarer Holocaust. Die politische Ethik Hannah Arendts.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2005.
180 Seiten, 22,80 EUR.
ISBN-10: 3826030826

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