Was wäre gewesen, wenn…

Philip Roths kontrafaktische "Verschwörung gegen Amerika”

Von Jürgen PelzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jürgen Pelzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Großen Wirbel um diesen jüngsten Roman von Philip Roth gab es schon vor der Veröffentlichung des Originals, kurz vor den amerikanischen Präsidentschaftswahlen im Herbst 2004. Titel und Story versprachen einen kritischen - wenn auch verschlüsselten - Kommentar zur aktuellen politischen Lage in den USA, wobei die einen wohl an die terroristische Bedrohung von außen, andere an die teils offene, teils klandestine Unterminierung liberaler Freiheiten durch die Bush-Regierung dachten. Der Autor, gewieft im Umgang mit der Presse und vorschnelle Etikettierungen verabscheuend, griff noch vor Erscheinen seines Romans selbst ein und beschrieb in einer Art Selbstrezension Anlass und Anliegen seines neuen Buches: Die Inspiration verdanke er einem einzigen Satz, einer nebenbei geäußerten Spekulation in der Autobiografie Arthur Schlesingers, derzufolge einige Republikaner 1940 mit der Idee gespielt hätten, den Aviator, Antisemiten und Isolationisten Charles Lindbergh als Präsidentschaftskandidaten zu nominieren, um so eine dritte Amtsperiode Franklin Roosevelts und den drohenden Kriegseintritt der USA zu verhindern. "Was wäre gewesen, wenn..." - dies war also die vergangenheitsbezogene Ausgangshypothese. Roth sah folglich sein Hauptziel darin, eine bestimmte Phase der Geschichte, nämlich die turbulenten und weltgeschichtlich entscheidenden Jahre 1940 bis 1942, so exakt wie möglich als Hintergrund zu rekonstruieren. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen und Zeitgenossen oder vorschnelle Identifizierungen waren demnach nicht beabsichtigt.

Es handelt sich also um einen kontrafaktischen Geschichtsroman, der souverän und gekonnt, auf der Basis der historischen Fakten, aber durch kalkulierte, glaubhaft gemachte Veränderungen einen neuen Geschichtsverlauf präsentiert; und gleichzeitig ist das Buch auch eine alternative Autobiografie, denn von Anfang an koppelt Roth die politische Geschichte dieser Jahre mit der privaten: Erzählt wird aus der Perspektive des jungen Philip Roth, der 1940 sieben Jahre alt ist (wie der Autor selbst), in der Stadt Newark aufwächst und jetzt nicht nur die üblichen Schrecken der Kindheit auszuhalten hat, sondern aufgrund der höchst ungewissen politischen Bedingungen "ständige Angst" verspürt. "Doch ich frage mich", so heißt es gleich zu Beginn, "ob ich als Kind nicht weniger Angst gehabt hätte, wenn Lindbergh nicht Präsident gewesen oder ich nicht das Kind von Juden gewesen wäre." Mit diesem brillanten Einstieg sorgt Roth dafür, dass die Leser und Leserinnen gleich mitten drin sind in der historischen, sozusagen autobiografisch unterminierten Fiktion, und obendrein sind auch schon sämtliche Hauptthemen angerissen.

Lindbergh ist als zentrale politische Figur geschickt gewählt, da er seit den 20er Jahren über enorme Popularität verfügte und in seinem sportlich-eleganten, aber zugleich bescheidenen Auftreten sowie durch seine Technologiegläubigkeit in den USA geradezu Kultstatus erlangte. Wie sein Freund und Fan Henry Ford war Lindbergh freilich auch bekannt für seinen nordisch-arischen Rassismus, seinen rabiaten Antisemitismus, seine Hitler-Begeisterung und seine unbedingte Ablehnung eines amerikanischen Kriegseintritts. Berühmt-berüchtigt sind seine Aktivitäten im isolationistischen "America First" Komitee und seine diversen Reden, in denen er die Juden unentwegt beschuldigte, aus Eigeninteresse das Land in den Krieg zu treiben. Eine dieser Reden, die Lindbergh 1941 in Des Moines gehalten hat und die im dokumentarischen Anhang des Romans abgedruckt ist, verlegt Roth kurzerhand ins Jahr 1940, so dass Lindbergh sich mit ihr auf dem republikanischen Parteitag als Gegenkandidat zu Roosevelt qualifizieren kann. Und was zunächst, aufgrund von Roosevelts Prestige und Statur, als undenkbar galt, was im Nachhinein aber erstaunlich schnell akzeptiert wird: Im November des Jahres besiegt Lindbergh den Präsidenten des New Deal. In seiner kurzen Amtszeit verfolgt Lindbergh tatsächlich eine konsequent isolationistische und faschismusfreundliche Politik. Mit Hitler schließt er auf Island einen Nicht-Angriffspakt, den Japanern überlässt er Asien. Amerika hält sich aus den Kriegen heraus, im Kampf gegen den internationalen Kommunismus erweisen sich Deutschland und Japan als erfolgreiche Juniorpartner. In den USA selbst wird die jüdisch-amerikanische Bevölkerung zwar nicht in Konzentrationslager verschlept oder ermordet, sondern mit raffiniert aufgezogenen Kinderlandverschickungsprogrammen (mit sinnigen Bezeichnungen wie "Land und Leute", auf Englisch: "Just Folks") oder Umsiedlungsprogrammen traktiert, um sie aus den großen Städten, wo sie, wie in New York oder Newark große Minderheiten bilden und das kulturelle Leben beeinflussen, zu vertreiben und besser in die Gesellschaft "einzugliedern".

Während das Land im Allgemeinen kooperiert, Roosevelt sich auf seinen Landsitz zurückgezogen hat und die politische Opposition schwach und vereinzelt bleibt, leidet die große Mehrheit der jüdischen Bevölkerung. Roth konzentriert sich auf Newark und seine Familie, samt Eltern, Vetter, Tante, Onkel usw. Einige wenige kollaborieren, wie der opportunistische Rabbi Bengelsdorf, der Ehemann in spe von Philips Tante, der sogar zum Berater Lindberghs aufsteigt, um so dessen anti-jüdische Politik "koscher zu machen". Wiederum andere, wie Philips älterer Bruder lassen sich vom Optimismus, von der Naturverbundenheit und Sportbegeisterung der Kinderlandverschickung anstecken. Die Mehrzahl fühlt sich freilich an "uralte Ängste" erinnert, die man längst überwunden glaubte, und es sind gerade Kinder wie Philip und sein ungeliebter Freund Seldon, die dies spüren, wobei vor allem Seldon zur - etwas zu pathetisch geratenen - Leidensfigur des Buches wird. Andere ziehen freiwillig in den Krieg, um in der kanadischen Armee gegen Hitler zu kämpfen (und kehren, wie Philips Vetter, verbittert und mit amputiertem Bein zurück) oder sie kämpfen zumindest verbal, in dem sie, wie Philips Vater Herman, bei jeder Gelegenheit Position beziehen und die Flucht nach Kanada zwar erwägen, aber letztlich ablehnen.

Bevor der "Spuk" der Lindbergh-Jahre vorbei ist - der Präsident verschwindet in seinem zweiten Amtsjahr in seinem Flugzeug, löst sich buchstäblich in Luft auf - kommt es zu bürgerkriegs- und pogromartigen Zuständen. Ein jüdischer Gegenkandidat zu Lindbergh wird ermordet, der antisemitische Mob holt zum Schlag aus, und im Weißen Haus spielt der demokratische Vizepräsident ein paar Tage Diktator. Doch dann ist der Spuk unwiderruflich vorbei: Roosevelt kehrt zurück, gewinnt die Wahl, und ab 1942 setzen die USA den geschichtsbekannten Kurs fort, d. h. sie treten, nach einem im Dezember 1942 erfolgten Pearl Harbour, in den Krieg ein.

Interessant - und nicht unproblematisch - ist, dass Roth zwar den kontrafaktischen Rahmen so weit, so fundiert und weitgehend glaubhaft spannt, dann aber das Ganze als "Spuk" enden lässt. Die internationalen Verflechtungen der amerikanischen Politik, während und nach der Lindbergh-Episode, kommen deshalb nicht in den Blick. Ebenso wenig die sozialen und innenpolitischen Auswirkungen in den USA. Was Lindberghs weiteres Schicksal betrifft, so bietet Roth lediglich eine Reihe höchst abenteuerlicher Gerüchte und Vermutungen an. Offensichtlich will der Autor an dieser Stelle das kontrafaktische Geschichtsexeperiment abbrechen, denn es hat seine Hauptaufgabe erfüllt, nämlich zu testen, wie sich die Amerikaner und namentlich die amerikanischen Juden unter einer historisch denkbaren Lindbergh-Regierung verhalten hätten. Die eigentlichen Helden dieses Buches sind die verzweifelt kämpfenden Eltern des jungen Philip, die mit je eigenen Mitteln ihre politischen und persönlichen Ideale, ihre Autorität und Lebenspraxis zu retten versuchen, die Tag für Tag mit der alle Lebensbereiche vergiftenden "ständigen Angst" zu tun haben und dabei am Ende fast scheitern. Es bleiben zwei abschließende Fragen: zum einen die nach der Intention von Roths in die Vergangenheit verlagertem Experiment des "Was wäre gewesen, wenn...?". Denn anders als eine Dystopie (wie etwa George Orwells "1984") wird eine in die Vergangenheit zurückprojizierte Geschichtsvision durch den tatsächlichen historischen Verlauf widerlegt. Die Schreckensvision erweist sich als vorübergehender Alptraum. Die furchtbare Möglichkeit einer anderen Geschichte, die im Roman in ihrer vermeintlichen Zufälligkeit und Bedrohlichkeit kurz sichtbar gemacht wird, mündet zurück in historische Tatsachen. Doch wieso eigentlich? Welche Kräfte waren für diesen gnädigeren Verlauf der Ereignisse verantwortlich? Da Roth das Verhalten der nicht-jüdischen Mehrheit des Landes weitgehend ausklammert, fragt man sich, wie einige wenige, namentlich Roosevelt und seine Mitstreiter, den Umschwung letztlich überhaupt schaffen konnten.

Titelbild

Philip Roth: Verschwörung gegen Amerika. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Werner Schmitz.
Carl Hanser Verlag, München 2005.
432 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3446206620

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