Scharf umrissene Gefühle

Peter Demetz versammelt tschechische Erzählungen des "Fin de siècle"

Von Volker StrebelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Strebel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Acht tschechische Novellen und Erzählungen von sieben Autoren eröffnen dem Leser in dem von Peter Demetz herausgegebenen Band einen höchst wundersamen Bilderreigen. - Geschichten, die veranschaulichen, wie es zur Verbreitung des arg strapazierten Mythos eines "Magischen Prag" kommen konnte!

Die tschechische Literatur des "Fin de siècle" im Zeitraum zwischen 1880 und 1920 bildet keine lupenreine Gattung. Dennoch lassen sich gemeinsame stilistische Merkmale finden. Kennzeichnend für die Autoren des tschechischen "Fin de siècle" ist ein ausgeprägter Individualismus und das Ringen um geistige Freiheit. Dabei kann es sich zugleich um Schriftsteller handeln, die einerseits dem Anarchismus, der Dekadenz und der Boheme oder andererseits einem sich neu etablierenden Katholizismus zugehörig fühlten. Entscheidend für das Schreiben in der Literatur des "Fin de siècle" war das Erzählen, befreit von allen oktroyierten Pflichten wie religiöser Erbauung, nationaler Empfindung oder sozialkritischer Analyse.

Gefühle und Motive in der Literatur des "Fin de siècle" sind durch eine starke emotionale Intensität, aber auch ihre Schwankungen gekennzeichnet: Tod und Frivolität, Seelenverzweiflung und Euphorie, Weltschmerz und grenzenlose Lust schließen einander nicht aus. Sexualität wird meist in einer Form sublimierter sinnlicher Erotik aufgelöst. Die intensive Kraft des inneren Erlebnisses eröffnet einem aufgewerteten Subjekt den Weg in die moderne Welt.

So ist zum Beispiel Jakub Arbes' Erzählung "Die letzten Harfenspieler" im Gelände der Prager Jubiläumsausstellung verortet. Doch die laue Abendstimmung täuscht: "Die erleuchteten, aber still gewordenen Pavillons links und rechts in der Mulde und auf dem Hügel erinnern in dieser Mondnacht an die regungslos träumenden und bizarren Gebäudemassen in der Nähe orientalischer Königspaläste in sagenhaften Landstrichen, und doch scheint es, als ob diese anmutig einschläfernde Stille trügerisch wäre - als ob drinnen, in diesen geheimnisvollen Gebäuden, die wildeste Sinnlichkeit ihre betäubend verführerischen Orgien feierte...". Dabei wird in dieser Erzählung der Kontrast einer sich etablierenden Industriegesellschaft mit dem aussterbenden Beruf eines Harfenspielers konfrontiert.

Die Lebhaftigkeit eines inneren Erlebnisses steht auch bei Julius Zeyer im Mittelpunkt. Zeyer war mit Rainer Maria Rilke befreundet und hatte ihm einen neuen Zugang zur tschechischen Tradition vermittelt. Bei Zeyer spielte es keine besondere Rolle, dass das traumhaft-verwirrende Geschehen in der Geschichte "Glückseligkeit im Garten der Pfirsichblüte" im fernen China stattfindet oder mit "Inultus" eine Prager Legende wiedergibt, die etwa zwanzig Jahre nach dem Ende der Schlacht am Weißen Berg (1620) handelt. Inultus war der Name jenes jungen Prager Bettlers, der Donna Flavia Gantini, einer schönen Mailänder Bildhauerin als Modell für den gekreuzigten Christus zur Verfügung steht. Da sich Phantasie und Wirklichkeit untrennbar ineinander vermengen, wird Inultus von dieser mondänen Schönheit gefoltert, um den authentischen Ausdruck wahrer Schmerzlichkeit zu erlangen. Das gelungene Porträt bezahlt Inultus mit seinem Leben - aber selbstverständlich stirbt auch Donna Flavia nicht auf natürliche Weise. Der Tod als "Höhepunkt, Sinn und zugleich Überwindung eines unbefriedigten Lebens", wie Marek Nekula in seinem kundigen Nachwort "Traum vom Tod und Reich des Schönen" anmerkt, bereitet eine Hinwendung zum Katholizismus vor, wie sich bei Miloš Marten oder Otakar Theer zeigen lässt. Theer, der über sich selbst berichtete, dass er sein Leben lang "im Kloster der Kunst" verweilt hatte, fand während des Ersten Weltkriegs zur Erde zurück und verfasste patriotische Gedichte. Jirí Karásek ze Lvovic, im bürgerlichen Beruf ein Postbeamter, inszeniert in seiner "Legende von der ehrwürdigen Maria Electa von Jesus" die in selbstloser Frömmigkeit ermöglichte Überwindung des körperlichen Todes. Eine sinnliche Überhöhung voller Rätsel!

Die meisten Texte dieses Büchleins erscheinen zum ersten Mal in deutscher Sprache. Kristina Kallert, die den Hauptanteil dieser Übersetzungen leistete, gebührt Dank und Anerkennung für ihre hervorragende Übersetzungsarbeit.

Titelbild

Peter Demetz (Hg.): Fin de siècle. Tschechische Novellen und Erzählungen.
Mit einem Vorwort von Peter Demetz und einem Nachwort von Marek Nekula.
Übersetzt aus dem Tschechischen von Kristina Kallert, Peter Demetz, René Wellek; Alexandra Baumrucker, Gerhard Baumrucker.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2005.
266 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3421052514

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