Ein Gespräch des Historikers mit sich selbst

Jörg Baberowskis wissenschaftshistorische Reflexion über "Den Sinn der Geschichte"

Von Arne De WindeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Arne De Winde

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Wie sind Multiperspektivität und Uneindeutigkeit mit gesichertem Wissen über die Vergangenheit vereinbar?": Dieses die Geschichte der Historiografie seit ihren Anfängen begleitende Dilemma bildet die thematische Richtschnur von Jörg Baberowskis "kleine[r] Einführung" in die Geschichtsphilosophie. Bereits der Titel dieses Handbuchs, "Der Sinn der Geschichte", und das von Hans-Georg Gadamer entlehnte Motto illustrieren, wie der Professor für Osteuropäische Geschichte an der Humboldt-Universität Berlin diese zentrale metatheoretische Frage aus neohermeneutischer Perspektive in die seit den 80er Jahren entbrannte Kontroverse zwischen der Historischen Sozialwissenschaft und der "neuen Kulturgeschichte" einbringt. Meist unterschwellig, aber manchmal auch explizit wirft Baberowski der Wehler'schen "Gesellschaftsgeschichte" eine zu enge Auffassung von Wirklichkeit und eine methodische Selbstbeschränkung vor: So habe sie nicht nur systematisch die nichtökonomischen Bestandteile der Wirklichkeit negiert, sondern lasse auch außer Acht, "daß nicht die Strukturen, sondern die Menschen, die mit diesen Strukturen leben, das eigentliche Objekt der historischen Forschung sind".

Wie Baberowski sich diese Wiederkehr der Subjekte oder diese Anthropologisierung der Geschichtswissenschaft vorstellt, formuliert er im ersten Kapitel des Buchs, das seinen (meta-)theoretischen Rahmen und die zentralen Themen des Gesamtbuchs absteckt. Baberowskis Kulturbegriff ist im wesentlichen semiotisch, das heißt dass er den Menschen als "animal symbolicum" betrachtet, als "ein Wesen, das in selbstgesponnene Bedeutungsgewebe verstrickt ist" (Geertz). Es ist vor allem diese dialektische Spannung zwischen Aktivität und Passivität, die Baberowski fasziniert. Der Mensch steht in überindivuellen Sinnzusammenhängen, denen er sich nicht entziehen kann, die er aber auch produziert: Einerseits ist der Mensch also Produkt der Gesellschaft (was der Autor mehrmals in dem fast inkantatorischen Schrei "Leben ist Zwang" beschwört), andererseits ist auch die Gesellschaft Produkt des Menschen. Da gesellschaftliche Wirklichkeit in diesem Sinne durch Symbolisierungsverfahren und Repräsentationen nicht abgebildet, sondern konstituiert wird, "hat es der Historiker nicht mit der Vergangenheit zu tun, sondern immer nur mit ihrer Interpretation". Wenn Geschichtschreibung also im Grunde Hermeneutik oder Interpretation von Interpretationen ist, soll auch der Historiker selbst sich seiner Gegenwartsbezogenheit und seines entsprechenden Deutungshorizonts bewusst sein. Das "Mitdenken" der eigenen Geschichtlichkeit impliziert, dass der Historiker weiß, dass seine historische Erkenntnis nicht 'Rekonstruktion', sondern 'Konstruktion' ist und dass sie durch kulturell bedingte Fragestellungen sowie durch Selektions-, Narrativisierungs- und Konzeptualisierungsstrategien hervorgebracht wird. Nach Baberowski muss dieser Perspektivismus jedoch nicht notwendigerweise zu einem subjektivistischen Relativismus führen, denn die Wissenschaftlichkeit oder 'Objektivität' seiner Disziplin liegt seiner Meinung nach erstens in der fachlichen Methodizität und Materialbezogenheit, die eine intersubjektive und verifikatorische Diskussion ermöglichen, und zweitens auch in der metatheoretischen Selbstreflexivität selbst begründet. Zwar ist Baberowskis Betonung des kreativen und dynamischen Potenzials der Gegenwartsbezogenheit des Historikers und seine Redefinition von Geschichtswissenschaft als einer "empirisch gestützten Hypothesenwissenschaft" (Oexle) aufschlussreich, es muss jedoch betont werden, dass - außer bei radikalen Positivisten - die Auffassung der Konstruiertheit der Geschichte inzwischen Allgemeingut geworden ist und dass sie, wenn zu oft wiederholt, zu einer Binsenwahrheit ohne innovative oder erkenntniserschließende Funktion zu verkommen droht.

Wenn das Gespräch des Historikers mit sich selbst vor allem ein Überdenken der eigenen Geschichtlichkeit und Traditionsgebundenheit darstellt, ist Historiographiegeschichte ein integraler Bestandteil der Geschichtswissenschaft. In diesem Sinne bietet Baberowskis Buch in zehn Kapiteln einen informativen Überblick über wichtige Denker und Strömungen der (Geschichts-)Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts, der insbesondere Studierenden eine erste Orientierung ermöglicht. Natürlich kann man im Falle von Überblicksdarstellungen immer über die Auswahl diskutieren und Ergänzungsvorschläge machen: So werden z. B. Nietzsche, Spengler oder Benjamin namentlich überhaupt nicht erwähnt. Sind Baberowskis Selektionskriterien auch nicht transparent, zeugt seine Auswahl doch von einem breiten Spektrum sowohl in zeitlicher als auch in thematisch-disziplinarischer Hinsicht. Folgende Denker und Strömungen werden als Lieferanten unausgeschöpfter Erkenntnisse und noch immer aktueller Fragestellungen evaluiert: Der objektivistische bzw. subjektivistische Historismus (Ranke bzw. Droysen) und vor allem dessen Hermeneutisierung der historischen Methode mittels einer "Historischen Ideenlehre"; Karl Marx als Begründer einer Gesellschafts- oder Sozialgeschichte; die Hermeneutik und mehr spezifisch Gadamers Theorie der "Horizontverschmelzung"; Max Weber und dessen "Idealtypen"-Lehre; die französische Schule der "Annales" wegen ihrer starken Berücksichtigung kollektiver menschlicher Verhaltensweisen und ihres interdisziplinären Zugriffs auf die Geschichte; Halbwachs als Theoriker des kollektiven oder kulturellen Gedächtnisses; Clifford Geertz, dessen Ethnologie von Baberowski als "radikalisierte Hermeneutik" betrachtet wird; Michel Foucault und die Diskurstheorie und schließlich Hayden White als Vertreter der so genannten "literarischen Wende".

Am auffälligsten und gründlichsten ist aber Baberowskis Kapitel über Hegel mit dem expliziten Ziel einer Rehabilitierung von Hegel innerhalb der Kulturgeschichte als dem "Begründer einer ,begriffenen' Geschichte, die den modernen Kulturwissenschaften nähersteht, als manche glauben". Dass Hegel ein Steckenpferd von Baberowski ist, zeigt sich schon allein darin, dass ihm mehr als 30 Seiten gewidmet sind, während die meisten anderen Denker oder Strömungen nur mit der Hälfte davon auskommen müssen. Statt einer materialistischen Überwindung plädiert der Autor für "eine Entmystifizierung des Hegelschen Idealismus", die dessen erstaunlich kulturalistischen Kern bloßlege: Auch Hegel betrachte nämlich Menschen als "Produkte ihrer selbst hergestellten Symbolwelten" und Freiheit als die Erkenntnis, einer Ordnung zu zugehören, die einem entspricht. Auffällig ist allerdings Baberowskis schablonenhafte Kritik an der Aufklärungshistorie, bereitete diese doch in vielerlei Hinsicht den Weg für eine (post-)moderne Kulturgeschichte. Denn, gerade in der (Spät-)Aufklärung wurde Theorie oder Selbstreflexivität zu einem wissenschaftskonstitutiven Moment erhoben. Entgegen Baberowskis Meinung waren sich die Aufklärer als Parteimänner der Vernunft durchaus der Standortabhängigkeit oder lebensweltlichen Verwurzelung der historischen Erkenntnis bewusst und darüber hinaus betrachteten auch sie diese Perspektivität nicht als Hindernis, sondern gerade als Begründung des Wissenschaftsanspruchs der Geschichte. Historiker der Spätaufklärung, wie Chladenius und Gatterer, erkannten, dass "wahrheits"-fähige Aussagen der intersubjektiven Prüfung standhalten sollten und dass diese Konsensfähigkeit vor allem auf der mittels narrativer und typologisierender Verfahren kreierten Kohärenz basierte. Baberowskis pauschales "Am Anfang war Hegel" muss also vielleicht doch nuanziert werden.

Es ist Baberowskis Absicht, die genannten Denker und Strömungen nach ihrer Anregungskraft und Anwendungsmöglichkeit für die gegenwärtige, d. h. kulturwissenschaftliche Geschichtsforschung zu befragen. Leider handelt es sich meistens nicht um eine weiterführende oder kritische Aneignung, sondern vielmehr um eine summarische und manchmal simplifizierende Bestandsaufnahme. Exemplarisch sei hier vor allem Baberowskis Analyse des Ranke'schen Historismus und der Foucault'schen Diskurstheorie erwähnt. Einerseits liegt dieses Manko sicher in der Herkunft des Manuskripts - es basiert nämlich auf einer Vorlesungsreihe, was wahrscheinlich auch eine Erklärung für das schulische Auflisten von manchmal irrelevanten biografischen Informationen und die Unschärfe oder Banalität von Aussagen wie "Verstehen heißt lesen, was da steht. Doch der Sinn steht keinesfalls einfach da" ist. Andererseits kann die Komplexitätsreduktion aber auch auf die eigene Perspektivität des Autors zurückgeführt werden: Manchmal droht nämlich die Partikularität der individuellen Denker Baberowskis kulturhistorischem Theoriemodell zum Opfer zu fallen. Symptomatisch für diese Tendenz ist seine äußerst schematische Lektüre Heideggers und seine eigen-sinnige Interpretation des titelgebenden Anfangszitats aus Otto Vosslers "Geschichte als Sinn", dessen Namen übrigens sowohl im Text wie im Register falsch geschrieben steht.

Trotz solcher Defizite, die natürlich auch aus der räumlichen Beschränkung resultieren, liefert diese kaleidoskopische Einführung in die Geschichtstheorie durchaus übersichtliche und informative Darstellungen, die auch von ausführlichen Bibliografien begleitet werden. Zwar darf von einer Einführung in die Geschichtstheorie, die sich vor allem an Studenten dieses Faches richtet, keine bilderstürmerische Innovativität erwartet werden - schließlich soll sie vor allem als zugänglicher Sprungbrett für weiterführende Reflexionen und Lektüre dienen - , manchmal ist die Grenze zwischen didaktischer Zugänglichkeit und ungerechter Komplexitätsreduktion jedoch schwer zu ziehen.

Titelbild

Jörg Baberowski: Der Sinn der Geschichte. Geschichtstheorien von Hegel bis Foucault.
Verlag C.H.Beck, München 2005.
250 Seiten, 12,90 EUR.
ISBN-10: 3406527930

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