Aus dem Dunkel der Literaturgeschichte

Ein Sammelband versucht, ,vergessene' Autoren zu rehabilitieren

Von Andy HahnemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andy Hahnemann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Schatten der Literaturgeschichte ist lang. Dort tummeln sich die zahllosen poetae minores, Dilettanten und verkannten Genies. Sie warten darauf, die Aufmerksamkeit zu erfahren, die ihnen zeitlebens oder postum verwährt blieb. Ab und an, so geht die (Forschungs-)Geschichte bekanntermaßen weiter, macht sich eine mutige literaturwissenschaftliche Expedition auf in dieses unbekannte Land und trägt Licht ins Dunkel, holt die Vergessenen zurück ans Tageslicht.

So auch der Anspruch und die Gründungslegende des niederländisch-deutschen Expeditionsteams um Jattie Enklaar und Hans Ester, das in dem Sammelband: "Im Schatten der Literaturgeschichte" einige Autoren mitsamt ihren Werken wieder entdecken möchte, die "unter dem Staub eines Jahrhunderts" noch auf so manchem Dachboden schlummern. Es geht ihnen um die einstigen Repräsentanten einer bürgerlichen Lesekultur, die sich dem kollektiven Gedächtnis entzogen haben; um ein "Plädoyer gegen das Vergessen", so der engagierte Untertitel des Buches.

Das Ergebnis ist, das sei vorweg gesagt, enttäuschend. Nicht nur lässt das viel zu kurze (und teils arg pathetische) Vorwort eine genauere Konzeption und jede weitergehende Überlegung zu wissenschaftlichen Kanonisierungsprozessen oder kollektiver Gedächtnisleistung vermissen, auch die Auswahl der besprochenen Autoren ist alles andere als konsistent. Den Leser erwartet eine undurchsichtige Mischung aus Portraits recht bekannter und zumindest leidlich gut beforschter Autoren (Karl Ferdinand Gutzkow, Karl Emil Franzos), einstiger ErfolgsschriftstellerInnen (Johanna Spyri, Waldemar Bonsels) und tatsächlich unbekannterer Namen (Sophie van Leer, Wilhelm Runge).

Ebenso heterogen ist die Qualität und Ausrichtung der einzelnen Beiträge; mal wird feuilletonistisch verknappt das Lebenswerk gewürdigt, mal steht die Biografie der Autoren im Zentrum, dann wieder einzelne Werke. Nicht selten wird die aktuelle Forschungsliteratur gar nicht zur Kenntnis genommen. Das erklärte Ziel, nämlich eine erneute Beschäftigung mit einzelnen Autoren anzuregen, wird nur in wenigen Fällen erreicht, und warum man ausgerechnet einen Dichter wieder lesen sollte, dessen Schlüsselbegriffe "Freiheit, Deutschtum, Schwabentum und Heimat" sind (Guillaume van Gemert über Adam Müller-Guttenbrunn) oder eine "Besinnung auf Felix Dahn" (Peter Rietbergen) Not tut, kann dem Leser nicht so richtig plausibel gemacht werden.

Nun ist es ja durchaus möglich und sinnvoll, in Dahns "Kampf um Rom" etwas anderes zu sehen als "protzig-bürgerliche Butzenscheibenromantik in Goldschnittbändchen", nur sollten dazu auch neue Lektüren angeboten werden, um ungewohnte Perspektiven zu eröffnen. Allzu oft wird dagegen nur Interessantheit behauptet anstatt Interesse zu wecken. Letzteres gelingt nur in wenigen Artikeln. Hervorzuheben sind deshalb die Beiträge von Lars Koch, der in Friedo Lampes "Am Rande der Nacht" einen filmästhetischen Existenzialismus ausmacht oder Julia Bertschik, die für eine Neubewertung Vicky Baums plädiert, indem sie ihr, gestützt auf gender- und mediengeschichtliche Kontextualisierungen, ein ironisches Spiel mit massenkulturellen Schemata attestiert.

Beide sind freilich der Forschung nicht ganz unbekannt; eine wirkliche Neuentdeckung macht Kerstin Schoor mit ihrem gelungenen Portrait des jüdischen Publizisten und Schriftstellers Leo Hirsch.

Titelbild

Jattie Enklaar / Hans Ester (Hg.): Im Schatten der Literaturgeschichte. Autoren, die keiner mehr kennt? Plädoyer gegen das Vergessen.
Rodopi Verlag, Amsterdam 2005.
358 Seiten, 70,00 EUR.
ISBN-10: 9042019158

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