Harry Potter und die Folgen

Cornelia Funke setzt mit "Tintenblut" ihren Bestseller "Tintenherz" fort

Von Stefan NeuhausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Neuhaus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vielleicht wird ja irgendwann mal jemand einen Essay über die aktuelle Fantasy-Welle schreiben. Er könnte ihm den Titel geben: Harry Potter und die Folgen. Joanne K. Rowlings Figur erblickte 1997 das Licht der Welt und ist bekanntlich soeben in die sechste Runde gegen den bösen Zauberer Lord Voldemort gegangen. Wer das düstere Spiel gewinnt, ist nicht wirklich offen und wird mit dem siebten Band entschieden sein. Die Spannung erzeugt eher die Frage, wie Harry seinen Widersacher besiegen wird und welche Figuren vorher noch auf der Strecke bleiben müssen. Rowling hat nicht nur Zauberschüler erfunden, sie hat auch selbst als Autorin viele gefunden - Bestseller im Gefolge des Harry-Potter-Hungers wurden beispielsweise Eoin Colfers "Artemis Fowl" oder Philip Pullmans "His Dark Materials", beides ebenfalls Fortsetzungsgeschichten. Auch in der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur, die nicht gerade arm an fantastischen Stoffen war, wimmelte es plötzlich nur so von Hexen, Zauberern und anderen Fabelwesen, die Fähigkeiten besitzen, die ihre Leser auch gerne hätten. Auf zauberhafte Weise sorgen sie in einer unüberschaubaren Welt für Orientierung, was allerdings auch ein Grund ist, ihnen mit einer Portion gesunden Misstrauens zu begegnen.

Vor zwei Jahren erschien Cornelia Funkes "Tintenherz" und wurde auf Anhieb ein Bestseller. Funke wurde nicht zu Unrecht als "deutsche J. K. Rowling" apostrophiert. Auch bei Funke geht es um eine Parallelwelt, die durch Schleusen zugänglich ist; bei Rowling können dies Wände oder Schornsteine sein, bei Funke sind es Bücher. Das überrascht nicht, wenn man sich die deutsche Genre-Tradition vor Augen hält. Michel Endes "Die unendliche Geschichte" von 1979 machte bereits das Buch zum strukturbildenden Motiv, durch einen Kinderroman gleichen Namens ging der Protagonist Bastian Balthasar Bux in die Zauberwelt des Reiches Phantásien ein. So ist es auch bei Funke, die verschiedene Genre-Traditionen amalgamiert.

Wie Bastian ist das Mädchen Meggie eine Halbwaise, und beiden bleibt nur der Vater; wie Bastian wird sie in das Zauberreich des Buchs im Buch eingehen ("Tintenblut" heißt das Produkt eines Autors namens Fenoglio), wie Bastian wird auch sie diesen Schritt erst im zweiten Teil wagen. "Die unendliche Geschichte" war, obwohl ein Band, in zwei Teile gegliedert, im ersten Teil liest Bastian aus der "unendlichen Geschichte", im zweiten Teil geht er in sie ein und kehrt am Ende wieder nach Hause zurück. Für diese Rückkehr hat Funke allerdings einen weiteren, dritten Teil aufgespart. Funke übernimmt das Muster eben nicht 1:1, das war auch nicht zu erwarten. So ist es ein netter und etwas trivialer Zug von ihr, dass sie Meggie ihre Mutter wiederfinden lässt, die in dem Buch "Tintenherz" verschollen war. Funke scheint zu wissen, dass es Leser kosten kann, wenn man Harmoniebedürfnisse ignoriert. Zwischen Nervenkitzel und Harmonie verläuft der schmale Grat, auf dem sie wandelt.

Funkes zentraler Einfall lautet, dass manche Figuren die Fähigkeit besitzen, so lebendig vorzulesen, dass Figuren aus Büchern heraustreten und Zuhörer in Bücher hineingezogen werden. Es findet ein physischer Austausch zwischen Lesern und Büchern statt. Im zweiten Band wird dies relativiert, offenbar hängt es von den Fähigkeiten des Vorlesers ab zu bestimmen, ob jemand und wer hineingeht beziehungsweise ob jemand und wer herauskommt.

Die dramatische Handlung des ersten Teils der Trilogie, also von "Tintenherz", besteht im Verschwinden und Wiederfinden von Meggies Mutter einerseits und in dem Kampf gegen eine in die 'wirkliche' Welt eingetretene Räuberbande andererseits. Der Handlungsort ist Norditalien, dies dürfte dem internationalen Erfolg nicht geschadet haben (laut Verlag wird "Tintenherz" in Hollywood verfilmt). Meggie und ihr Vater Mortimer haben englisch klingende Namen und scheinen doch eher in Deutschland zu wohnen. Sprach- und sonstige Grenzen der Wirklichkeit spielen weiter keine Rolle, das Unbestimmbare ist Teil des Erfolgsprogramms. Dazu gehört auch die Überschreitung der Genre-Grenzen hin zum Kriminalroman. In "Tintenherz" wird der grausame und gewissenlose Ober-Räuber besiegt, in "Tintenblut" werden gleich ein paar neue eingeführt.

Was geschieht also in "Tintenblut", in dem, wie der Verlag es vollmundig nennt, "Buchereignis im Herbst"? Meggie, ihre Mutter und ihr Vater sind wieder vereint, alle wohnen bei Tante Elinor. Meggie kann die Erzählungen der Mutter von deren Leben im Buch "Tintenherz" nicht vergessen und möchte diese wunderbare Welt ebenfalls kennen lernen. Da sie die Fähigkeit ihres Vaters geerbt hat, liest sie sich hinein. Währenddessen gehen der noch in der diesseitigen Welt verbliebende Räuber Basta und die Mutter des toten Oberräubers Capricorn auf die Suche nach einem Vorleser, sie finden Orpheus. Die mythischen Konnotationen sind nicht zufällig, zugleich könnte Funke den Namen von der erfolgreichen "Matrix"-Filmtrilogie übernommen haben, in der es schließlich auch um Parallelwelten ging.

Wie bei Harry Potter gibt es auch in "Tintenblut" Figuren, die überleben müssen, und solche, die dem Gruselbedürfnis des Lesepublikums geopfert werden können. Funke lässt zum Schluss eine nicht unwichtige Figur sterben, es bleibt aber offen, ob deren Tod wirklich irreversibel ist. Meggies Familie ist zumindest wieder vereint, Meggies Mutter hat sogar ihre Sprache wieder gewonnen. Doch ist alles auf Fortsetzung angelegt, Meggie und die Eltern bleiben in der "Tintenwelt" (so wird die Parallelwelt im Roman genannt), während sich die glücklich von Orpheus befreite Tante Elinor Sorgen macht. Funke hat in einem vervielfältigten Brief, der den Rezensionsexemplaren beiliegt, deutlich gemacht, dass sie bereits an dem dritten Teil schreibt. Erfolg macht hungrig nach mehr, und man muss es ihr danken, dass sie ihre Leser nur noch einmal auf die Folter spannt.

Cornelia Funke weiß, wie man erfolgreiche Bücher für Kinder schreibt, sie praktiziert es bereits seit eineinhalb Jahrzehnten, mal mit mehr und mal mit weniger fantastischem Inhalt. Dass "Tintenherz" und aller Voraussicht nach auch "Tintenblut" einen so herausragenden Erfolg hat, ist ohne Harry Potter dennoch nicht zu erklären. Die Handlung der beiden Romanteile variiert Altbekanntes, nur bei einzelnen neuen Figuren wie dem Glasmann Rosenquarz und in Teilen der Handlung von "Tintenblut" gelingt es ihr, sich von den üblichen Mustern abzusetzen. Die Frage, welchen Sinn ihre "Tintenwelt"-Fiktion hat, sollte man sich lieber nicht stellen. Selbst die sich aufdrängende selbstreferenzielle Lesart (der Text thematisiert sich selbst als Text, erzeugt so Distanz und das Nachdenken über das Geschriebene) läuft ins Leere, es sei denn, Funke will die Gefahren des Lesens und Schreibens in existenzielle Bilder fassen.

Rowling hat Harry Potter zum Helden einer Reihe von Bildungs- und Entwicklungsromanen gemacht, die das Fantastische als Einkleidung nutzen, um der Realität der Leser einen ironischen Spiegel vorzuhalten. Dagegen ist Funkes "Tintenwelt" eine schöne, schillernde Seifenblase, die beim näheren Hinsehen ohne nennenswerte Rückstände zerplatzt. Aber vielleicht tut man ihr Unrecht, sie am englischen Vorbild zu messen. Für sich genommen ist dies eine spannende Unterhaltungslektüre für ältere Kinder - aber wohl kaum "das Buchereignis im Herbst", wie es uns der Verlag weismachen will. So dramatisch wird es um die deutschsprachige Kinder- und Jugendliteratur hoffentlich nicht bestellt sein.

Titelbild

Cornelia Funke: Tintenblut. Mit Illustrationen der Autorin.
Dressler Verlag, Hamburg 2005.
715 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-10: 3791504673

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