Erfreuliche Einmischung

Die Fortsetzung von Brian Boyds Biografie zu Vladimir Nabokov

Von Thilo RissingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thilo Rissing

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Um es zusammenzufassen: Die einzig vernünftige und künstlerische Art, die Geschichte eines Individuums von so trüber Art, wie ich es bin, zu schreiben (dessen einzige menschliche und unterhaltsame Seite die Gabe ist, Wolken, Burgen und Seen zu erfinden), wäre es, seiner Entwicklung als Schriftsteller zu folgen, und zwar von seinen ersten undurchsichtigen Gedichten bis hin zu 'Durchsichtige Dinge' [...]."

Diesem Auftrag ist Brian Boyd auch im zweiten Teil seiner Biografie zu Vladimir Nabokov in gekonnter Weise nachgekommen. Auch wenn das Werk eines Schriftstellers meist im Zentrum des Interesses steht, so ist es doch oft ebenso spannend, dem Lebensweg eines Schriftstellerlebens auf die Spur zu kommen, noch dazu dann, wenn es sich um ein Leben wie das Vladimir Nabokovs handelt: verwoben mit den politischen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts, verankert in der russischen ebenso wie in der amerikanischen Sprache und oszillierend zwischen Literatur und Schmetterlingsforschung.

"Vladimir Nabokov. Die amerikanischen Jahre 1940-1977" ist ein nicht nur informatives, sondern überaus anregendes Buch über Nabokovs Leben. Das liegt sicher zum einen daran, dass Nabokov - entgegen seiner Selbstcharakterisierung - nicht zu den Schriftstellern gehört, deren Welt sich allein auf die Fiktion ihrer Werke beschränkt, sondern auf vielerlei Geschehnisse und Interessen bezogen ist, die auch heutige Leser noch faszinieren. Das hängt zum anderen aber auch damit zusammen, dass Nabokov selbst nur die erste Hälfte seines Lebens in einer Autobiografie namens "Erinnerung, sprich" festgehalten hat, deren zweiter Teil zwar schon angedacht war, aber nicht mehr verwirklicht werden konnte. Nach misslichen Erfahrungen mit Biografen hätte Nabokov nur allzu gern eine Fortsetzung zu "Erinnerung, sprich" geschrieben, schon allein, um sachlichen Fehlern und Fehlinterpretationen künftiger Biographen vorzubeugen. Dementsprechend verwundert auch nicht Nabokovs abschließendes Fazit zum Thema "Lebensbeschreibung": "Ich hasse es, mich in die kostbaren Leben großer Schriftsteller einzumischen, und ich hasse es, über den Zaun dieser Leben zu spähen - ich hasse die Vulgarität 'menschlichen Interesses', ich hasse das Geraschel von Röcken und das Kichern in den Korridoren der Zeit - und kein Biograph wird je einen Blick auf mein Privatleben werfen."

Dennoch ist es Brian Boyd gelungen, Licht ins abgeschirmte Dunkel des Nabokov'schen Privatissimum zu werfen, indem er die "amerikanischen Jahre" bis 1959 und die letzten Lebensjahrzehnte im schweizerischen Montreux bis 1977 unter die Lupe nimmt. Sein Buch bildet damit die Fortsetzung des ersten Bands der Nabokov-Biografie, in der die Zeit in Russland und Europa bis zur Emigration 1940 in die USA erzählt wurde. Es bietet insgesamt eine ausgewogene Mischung aus Beschreibung einzelner Lebensstationen von Vladimir und Véra Nabokov sowie die ausführliche Darstellung der in dieser Zeit verfassten Werke (z.B. "Lolita", "Pnin", "Ada", "Fahles Feuer"), wobei neben dem Inhalt der Bücher stets ihre Entstehungs- und Wirkungsgeschichte mit in den Blick genommen wird.

Außerdem kommt unter der Feder Boyds zum Vorschein, dass Nabokov nicht nur ein herausragender Schriftsteller war, der neben seinen weltberühmten Romanen auch Erzählungen, Gedichte und literaturwissenschaftliche Werke zu Gogol und Puschkin verfasst hat, sondern dass er auch als ein hochangesehener Schmetterlingsforscher galt, zu dessen Ehren sogar eine Schmetterlingsart nach ihm benannt wurde. Die lepidopterologische Forschung war eine Leidenschaft, die Nabokov zeitlebens mindestens so faszinierte wie das Schreiben. Zum Schreiben und der Faszination für Schmetterlinge gesellte sich als dritte Beschäftigung überdies die Erfindung von Schachrätseln, die in Fachkreisen wegen ihrer Eleganz und ihrem Esprit geschätzt wurden.

Mit viel Liebe zum Detail charakterisiert Boyd auch Nabokovs Person: sein Äußeres, aber auch seinen Charakter, der sich durch Witz, Unangepasstheit und Selbstbewusstsein auszeichnete. Dabei räumt Boyd mit vielen Vorurteilen über die Unnahbarkeit und Arroganz Nabokovs auf, indem er Quellen und Anekdoten anführt, die zeigen, wie angenehm und höflich Nabokov im Umgang mit Freunden und Fremden sein konnte. Auch wird deutlich, dass die Nabokovs - seine Frau Véra und sein Sohn Dimitri - ein Dreigespann bildeten, das durch die Koordinaten von Nabokovs Hauptinteressen (Schreiben und Schmetterlingsjagd) bestimmt wurde.

Die zweite Lebenshälfte Vladimir Nabokovs ist zunächst durch seine Lehrtätigkeit als Russischdozent an diversen amerikanischen Universitäten geprägt. Mit anwachsendem Ruhm als Schriftsteller wurde er aber schließlich finanziell unabhängig und war nicht mehr auf Lehrverträge angewiesen. Boyd legt viel Wert auf eine detaillierte Beschreibung des Lehrstils von Nabokov: Aus Angst, während der Vorlesung den Faden zu verlieren oder wichtige Aspekte zu vergessen, las Nabokov den vorzutragenden Text, den ihm Véra zumeist ausformuliert hatte, direkt vom Blatt ab, kaschierte das aber mit lebhaften Blicken ins Auditorium. Die Detailversessenheit, die er der Gestaltung seiner eigenen Romane und Erzählungen zukommen ließ, forderte Nabokov auch vom Leser. Aus diesem Grund wollte er die Studenten in seinen Kursen insbesondere zu genauem Lesen erziehen, wobei sich die Aufmerksamkeit noch auf das unscheinbarste Randphänomen erstrecken sollte. Jeder gelungene Roman war für Nabokov Ausdruck einer kleinen Welt in sich, sodass sein Ziel im Unterricht die Erprobung immer neuer Herangehens- und Blickweisen an den Text war.

Anderen Autoren gegenüber war sein Urteil dabei zwar durchweg eindeutig, aber nicht immer gerecht: Neben seinen Favoriten Shakespeare, Puschkin, Cechov, Proust, Kafka und Joyce, die er zu Leitsternen seines schriftstellerischen Universums erkor, gab es auch allgemein anerkannte Autoren wie Thomas Mann, Sartre, Dostojewskij und Pasternak, die Nabokov offen und nicht selten herabwürdigend kritisierte. Sein scharfes Urteil erfolgte zudem meistens ohne Begründung, sodass seine Einschätzung als Ausdruck seines persönlichen Geschmacks erschien. Studenten, die Schriften unter Zuhilfenahme Freud'scher Psychoanalyse zu interpretieren gedachten, riskierten sogar einen Ausschluss aus seinem Seminar, da Nabokov Freud nicht mochte.

In der Öffentlichkeit erschien Nabokov durch seine klare Abgrenzung von hoher und niederer Literatur als ein überaus selbstbewusster - wenn nicht arroganter - Autor, dessen Hauptanliegen zu sein schien, seinen Platz auf dem Olymp der Weltliteratur zu behaupten. Das war auch einer der Gründe, warum er mit keinem anderen Autor, egal ob lebend oder schon verstorben, verglichen werden wollte. Die Schmähung bestimmter Kollegen gehörte also zur eigenen Positionierung als Schriftsteller.

Des weiteren schildert Boyd eindrücklich die einzigartige Meisterschaft Nabokovs, von seiner Muttersprache, dem Russischen, zum Englischen zu wechseln. Nabokov selbst hat diesen durch das Exil erzwungenen Wechsel vom Russischen zum Englischen immer als einen schmerzhaften Einschnitt beschrieben. Nachdem er in seiner Muttersprache einen eigenen Schreibstil gefunden hatte, der ihm in seiner Heimat und unter Exilrussen Anerkennung eingetragen hatte, musste er in Amerika neu beginnen. Umso erstaunlicher, dass er spätestens seit "Lolita" zu einem der stilsichersten und sprachlich umfassendsten englischsprachigen Schriftsteller avancierte, der nicht unbeträchtlichen Einfluss auf die nachfolgende jüngere Autorengeneration wie John Updike, Thomas Pynchon oder John Barth entwickelte.

Dank seiner genauen Beobachtungsgabe und seines kompositorischen Talents gelang Nabokov in seinen Geschichten und Romanen überdies die sprachliche Verzauberung des Alltäglichen. Seine Aufmerksamkeit für das kleinste Detail, dessen monadologische Stellung innerhalb des gesamten Textes und seine Betonung der Differenz und Individualität waren dem Anliegen geschuldet, die Kunst durch verkomplizierende Komposition gegen Gleichschaltung und politische Verzweckung zu immunisieren und so ihre Autonomie zu bewahren. Jede Form von Durchschnittlichkeit, Ideologie und Zensur innerhalb des Bereichs der Kunst war Nabokov ein Gräuel, das ihn an die Zeiten des Totalitarismus in der UdSSR und Europa erinnerte. Kaum ein Schriftsteller war derart auf Individualität aus wie Nabokov. Aus diesem Grund lehnte er auch alle ihm angetragenen Mitgliedschaften, sogar Ehrendoktorwürden, ab. Massenveranstaltungen, politische Agitationen, Vermischungen von Kunst und Politik wie in der "engagierten Literatur" Sartres waren ihm nicht nur fremd, sondern zuwider. Erst zum Ende seines Lebens legte sich diese strikte Haltung ein wenig, da er sich nunmehr verpflichtet fühlte, sich für verfolgte Schriftsteller seiner Heimat (wie z. B. Joseph Brodskij) einzusetzen.

Allerdings lösten seine als autonome Kunst gedachten Romane dennoch politische Konsequenzen aus. Seine in der Betonung des Individuums und der menschlichen Freiheit dezidiert totalitarismuskritischen Romane durften lange Zeit innerhalb der UdSSR nicht gedruckt und gelesen werden. In seinem Werk und seinen Lehrveranstaltungen war er überdies bestrebt, Selbstverständlichkeiten aufzulösen, Differenzierungen in ihrer ganzen Tragweite wahrzunehmen und aufzuschlüsseln, auf welche Weise es Weltliteratur gelingt, die Magie des Gegenwärtigen zu vermitteln. Die großen Themen seiner Werke sind entsprechend: die Individualität, die Erinnerung, die Vielgestaltigkeit der Zeitwahrnehmung und die Verästelungen des Lebens und der Liebe. Boyd zeigt sehr detailliert und klar, wie Nabokov in seinen späten Hauptwerken diese Themen literarisch entfaltet. Neben der inhaltlichen Strenge der Komposition beleuchtet Boyd dabei auch Nabokovs stilistische Perfektion, die sich in seiner chamäleonartigen Stilmimikry als Hommage an andere Schriftsteller wie Bunin, aber auch als Parodie (z. B. in bezug auf Anna Achmatowa) zum Ausdruck bringt. Nabokov selbst sah sich als ein um jedes Wort ringenden Schriftsteller, als einen Autor, der "mehr Radiergummis verbraucht als Bleistifte" (so Nabokov selbst).

Insgesamt schildert Boyd Nabokovs Existenz als ein exemplarisches Leben des letzten Jahrhunderts. Wichtige historische Ereignisse, die Russische Revolution von 1917, der Zweite Weltkrieg und der sich anschließende "Kalte Krieg" zwischen den beiden Großmächten USA und UdSSR finden ihren Widerhall in Nabokovs Leben. In seinem Lebensweg als international angesehener Schriftsteller russischer Herkunft, der nach langem Aufenthalt in Europa schließlich in den USA seine zweite Heimat fand, um zuletzt im schweizerischen Montreux sein Leben zu beschließen, spiegelt sich - und das macht die Schilderungen Boyds besonders interessant - eine ganze Epoche. Nabokovs allergische Reaktion auf jegliche Form von Totalitarismus lässt sich aus den Erfahrungen von Flucht und Vertreibung aus Russland und Europa ableiten, seine strikte Unterstützung der amerikanischen Demokratie resultierte aus der Erkenntnis, dass nur unter demokratischen Bedingungen Literatur in ihrer autonomen Form möglich ist. Diese Erfahrungen waren für Nabokov so bestimmend, dass er sich weigerte, Länder, mit denen er eine totalitäre Vergangenheit oder Gegenwart verband (Deutschland, die UdSSR) zu besuchen. Das Recht auf Individualität, jenseits der Interessen des Gemeinwohls, verknüpfte sich dabei mit einer weitestgehend neutralen Haltung den Alltagsereignissen gegenüber, was schließlich auch bei der Wahl seines letzten Aufenthaltsorts entscheidend war: einer Hotelsuite in Montreux in der politisch neutralen Schweiz.

Zum Schluss ist festzuhalten, dass Brian Boyd mit seiner Biografie eine beeindruckende Darstellung des Lebens und Œuvres von Vladimir Nabokov gelungen ist. Sowohl die einzelnen Lebensstationen als auch die in dieser Zeit geschriebenen Werke werden vorgestellt und in ihren Gesamtkontext eingebettet. In einigen Passagen könnten zwar Kürzungen vorgenommen werden (beispielsweise im Kapitel über Nabokovs "Eugen Onegin", wo die verschiedenen Übersetzungs-Optionen verglichen werden), aber insgesamt erfährt man überaus viel über den Dichter, sein Umfeld und seine Zeit. Das größte Lob, das man dieser Biografie aussprechen kann, ist jedoch, dass sie den Leser zur Relektüre des Werks von Nabokov anstiftet, womit eine der Intentionen Brian Boyds wohl erreicht ist.

Titelbild

Brian Boyd: Vladimir Nabokov. Die amerikanischen Jahre 1940-1977.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Ursula Locke-Groß und Hans Wolf.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2005.
1132 Seiten, 49,90 EUR.
ISBN-10: 3498005650

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