Krieg und Nachkrieg

Jo Jong-Raes historischer Roman über die koreanische Gegenwart

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kann man mit dem Telefon töten? Fast drei Jahrzehnte nach Ende des Koreakriegs zerstört ein einziger Anruf das Lügensystem des erfolgreichen Seouler Unternehmers Hwang. Immer wieder fragt der Mann am anderen Ende der Leitung: "Herr Bae Jeomsu, glauben Sie nicht, dass Sie schon zu lange gelebt haben?"

Die Stimme wird Hwang die letzten Tage seines Lebens verfolgen, und zuletzt noch, als er nach einem Zusammenbruch halbbewusst im Krankenhaus dahindämmert, das Klingeln des Apparats. Doch warum? Der Anrufer hat die Wahrheit über sein Vorleben herausgefunden. Statt als Abkömmling einer vornehmen Familie und Widerstandskämpfer gegen die Kommunisten aus dem Norden geflohen zu sein, war Hwang als der Bauernsohn und Schmied Bae in einem kleinen Dorf im Süden aufgewachsen und hatte zu Kriegsbeginn auf Seiten der Linken seine blutige Rolle gespielt: Er hatte die Speere hergestellt, mit denen die Aufständischen bewaffnet waren, und er selbst hatte 38 Angehörige des Clans der Shin, die die Gegend beherrschten, erstochen.

Der entschlossene Mann, der mit neuer Identität eine Firma aus dem Nichts aufgebaut und mit harter Hand beherrscht hat, ist schnell am Ende seiner Kraft. Was immer die Gerichte dreißig Jahre später urteilen mögen: Es ist klar, dass die Wahrheit nicht nur ihn selbst geschäftlich und gesellschaftlich ruinieren, sondern auch seine ganze Familie ins Nichts reißen würde.

Nicht von der Spannung auf diesen Ausgang lebt Jos Roman, sondern von den zahlreichen Rückblenden in die Kriegszeit und von der Schilderung, wie Hwangs ältester Sohn, der ebenfalls bald von Anrufen geplagt wird, die Geschichte seines Vaters erfährt.

Der Koreakrieg erscheint plastisch nicht als das Hin und Her der großen Armeen, wie es in historischen Überblicken leicht zu schildern ist, sondern als Bürgerkrieg im Kleinen. Jo schildert ihn multiperspektivisch. Anschaulich wird, wie die Bauern nicht nur ausgebeutet und misshandelt, sondern auch gedemütigt werden und so bereits vor dem ersten Speerstich feststeht, dass der Konflikt zu Gewalt führen muss. Genauso anschaulich wird die Perspektive der Shins, die sich bei alledem noch als patriarchale Wohltäter fühlen und das "Gesindel" kaum als Menschen ansehen. Man liest, wie auch sie leiden und wie später ihre Rache die Gewalt der Kommunisten noch übertrifft.

Jo schreibt einen umfassenden Gesellschaftsroman schon dadurch, indem er zeigt, wie die Kombination politischer Konflikte, individueller Erfahrungen und konfuzianischer Familienordnung das Zusammenleben zerstört. Er zeigt weiter, wie die Zentralstellung der Familie den Krieg noch in die nächste Generation trägt. "Das Spiel mit dem Feuer", im Original 1982 erschienen, ist denn auch weniger ein historischer Roman als ein gegenwartsbezogener; das unterscheidet das Buch von dem Kurzroman "Land der Verbannung" (1981), der auf Deutsch im vergangenen Jahr ebenfalls bei der Edition Peperkorn erschienen ist und sich nun wie eine Vorstudie zu dem umfassenderen Werk liest. Die südkoreanische Rechte hat das Engagement Jos sehr gut begriffen und den Autor in den 70er und 80er Jahren, als jedes Verständnis auch für Kommunisten als nationaler Verrat galt, verfolgt.

In südkoreanischer Literatur findet sich häufig das Motiv, dass die kriegerische Vergangenheit bis in die Gegenwart weiterwirkt und die Menschen von ihrem Leid nicht fortkommen. Hier nun ist das geläufige und, denkt man auch an neuere deutsche Opferliteratur, triviale Motiv radikalisiert. Vielleicht sind die jüngeren Männer, Hwangs Sohn und der Anrufer, der der Familie Shin entstammt, mehr noch Zentralpersonen als der alte Hwang. Hwang Hyungmin, ein aufstrebender Universitätsdozent, der immer seinen angeblich antikommunistischen Vater bewunderte und auf die Abstammung aus vornehmer Familie stolz war, muss sich völlig neu orientieren; als Sohn eines Schmieds mag er kaum mehr seinen Studenten gegenübertreten. Der Anrufer versichert zwar, nur den Vater treffen zu wollen, doch zwingt er Hyungmin erst zu einer peinvollen Reise in die Heimat des Vaters, dann zum Gespräch mit Überlebenden der Morde und später zu einer Entscheidung, ob das Krankenzimmer des Vaters mit dem Telefon ausgestattet wird, dessen Klingeln den Sterbenden zu Tode erschrecken wird. Gibt Hyungmin der Erpressung nicht nach, so stirbt nicht nur ein Mann, sondern wird die ganze Familie vernichtet.

So muss der unschuldige Sohn zum Mitspieler des Feindes werden. Die Position dessen, der weiß und der durch sein Wissen vernichten kann, scheint dagegen unbeschränkt souverän. Jo aber gibt auch dem jungen Shin eine Geschichte: den Auftrag seiner sterbenden Mutter, die Familie zu rächen, und eine mediokre Existenz, die so gar nicht zur vergangenen Herrlichkeit der Landbesitzer passt. Der Mann, der sich mit viel Schläue als Verkäufer in der Metropole Seoul durchschlägt und dabei nicht einmal unglücklich ist, stellt eine seltsame Kombination aus jener Familientradition dar, die gegen seinen anfänglichen Willen ihn zur Rache bewegt, und einer kalten Moderne; denn er, anders als fast alle Akteure der Kriegszeit, operiert berechnend. Man erfährt seine Gründe, man erfährt seine Taktik, doch kaum sein Gefühl. Im letzten Anruf schweigt er, vieldeutig, und bestätigt so seine Macht - oder dass im Gegenteil die Sprache, mittels der er sich rächte, am Ende doch versagt.

Ein Roman, in dem das Sprechen in solchem Maße Waffe ist, ist in besonderem Maße auf eine sprachlich gelungene Übersetzung angewiesen. In dieser Hinsicht befriedigt das vorliegende Buch nur zum Teil. Es überzeugt in der Wiedergabe mündlicher Rede. Der kalkulierte Auftritt des Anrufers findet ebenso sein adäquates Deutsch, wie hier auch dialektgefärbte mündliche Rede ohne jede anbiedernde Peinlichkeit in Umgangssprache wiedergegeben ist. Letztere Stärke fand sich bereits in Jos "Land der Verbannung" und in Kim Jooyoungs Roman "Ein Fischer bricht das Schilfrohr nicht", die ebenfalls von diesem Übersetzerteam auf Deutsch vorliegen. Manche beschreibende Passage ist hier jedoch deutlich schwächer. Allzu oft finden sich plagend ungelenke Vergleiche und Metaphern, die wie Relikte einer eiligen Bearbeitung wirken - so, als habe ein umfangreicher Text eben bis zur Frankfurter Buchmesse 2005 und Südkoreas Gastlandauftritt fertig sein müssen.

Mit raffinierter Zeitschichtung und durch den Grundeinfall, einen scheinbar allwissenden und tatsächlich allmächtigen Anrufer zum Regisseur des Verlaufs bis zu seinem katastrophalen Ende einzusetzen, baut Jo eine Spannung auf, die den Leser über sprachliche Schwächen hinweggehen lässt. Dennoch fehlen der Übersetzung jene paar Wochen an Arbeit, die die Lektüre zur uneingeschränkten Freude hätten werden und die ein bedeutendes Werk in seinem ganzen Wert hätten zugänglich werden lassen.

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Jo Jong-Rae: Das Spiel mit dem Feuer. Roman.
Übersetzt aus dem Koreanischen von Ki-Hyang Lee und Martin Herbst.
Edition Peperkorn, Thunum/Ostfriesland 2005.
378 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-10: 3929181606

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