Die geheimnisvollen Fotos

Leon de Winters 24 Jahre alter Roman "Place de la Bastille" wurde entdeckt

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist erstaunlich, wie früh der heute 51-jährige Leon de Winter sein literarisches Thema gefunden hat, denn der nun erschienene, schmale Roman "Place de la Bastille" stammt aus dem Jahr 1981 und präsentiert uns den Niederländer als ausgesprochen frühreifen Autor.

Wie in fast allen nachfolgenden Werken geht es um die Identitätssuche eines elternlos aufgewachsenen Juden, der in Amsterdam lebt und den seine Rolle als Vater von zwei Töchtern mindestens ebenso stark frustet wie sein Job als Geschichtslehrer. Jener Paul de Wit hält die "Vergangenheit für versiegelt" - und das in doppelter Hinsicht. Von seinen Eltern, die in Auschwitz umkamen, blieb ihm nichts - kein Foto, kein Brief. Er taucht gedanklich in eine ferne Zeit ein und arbeitet an einem Buch über die missglückte Flucht Ludwigs XVI. im Jahr 1791. De Wit versucht angestrengt, Geschichte zu rekonstruieren und Möglichkeiten zu imaginieren, wie der Lauf der Dinge eine andere Richtung hätte nehmen können. Autor Leon de Winter, der momentan an einem Roman arbeitet, der im Israel des Jahres 2024 spielt, entwirft ein faszinierendes Gedankenspiel, wie es uns in ähnlicher Form in Philip Roths neuem Roman begegnet, in dem der Amerikaner Charles Lindbergh zum US-Präsidenten macht.

Bei beiden Autoren spielt das Erforschen der "jüdischen Seele" eine zentrale Rolle, ebenso das Verarbeiten von Ängsten, und im neuen, "alten" de Winter-Roman macht die biografische Wurzellosigkeit dem Protagonisten arg zu schaffen. Paul de Wit ist bei Pflegeeltern groß geworden und bekam irgendwann einen wenig konkreten Hinweis über die Existenz eines Zwillingsbruders.

Diese vage Andeutung hat er viele Jahre verdrängt - ob aus Absicht unbewusst sei dahin gestellt. De Wit flieht allzu leichtfertig vor den Problemen und betäubt seinen eigentlich wachen Geist zunehmend durch den übermäßigen Konsum seichter TV-Programme. Irgendwann tritt er dann auch die räumliche Flucht an, zieht nach Paris, um dort (es ist wohl eher ein Vorwand) für sein Buch zu recherchieren. Er lernt die junge Pauline, eine aus Polen stammende jüdische Studentin kennen, an deren Seite er kurzzeitig aufblüht. Doch es droht neues Ungemach, das sich zu einem handfesten Trauma auswächst. Auf den Fotos, die er von Pauline auf dem Place de la Bastille gemacht hat, taucht eine Person auf, die ihm selbst zum verwechseln ähnlich sieht. Ist es eine Sinnestäuschung, oder verbirgt sich dahinter doch sein Zwillingsbruder Philip, den er nie kennen gelernt hat?

Der junge Leon de Winter hat diesen Roman in einem ernsten, aber dennoch unangestrengten Tonfall erzählt, der noch völlig frei ist von den ironischen Brechungen seiner späteren Werke. Die Gabe, einen anspruchsvollen Stoff spannend zu inszenieren, scheint Leon de Winter in die Wiege gelegt worden zu sein. Dank gebührt dem Diogenes Verlag für die späte Veröffentlichung von "Place de la Bastille" - ein schmales Jugendwerk, das aber nur auf der Waage das Nachsehen gegenüber Leon de Winters opulenten Erfolgsromanen ("Hoffmanns Hunger", "Leo Kaplan", "Malibu") hat.

Titelbild

Leon de Winter: Place de la Bastille. Roman.
Übersetzt aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers.
Diogenes Verlag, Zürich 2005.
158 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3257064969

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