Scharf im Wolfspelz

Anna Katharina Fröhlich bekrittelt in "Wilde Orangen" den schönen Schein

Von Stefan MeschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Mesch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zumindest die Oberfläche ist stimmig. Die herrschaftlichen Ländereien, die sich hinter den Panoramafenstern erstrecken, funkeln im Morgenlicht. Auf der kostbaren Seidentapete flattern Fabelvögel durchs kräftige Grün, nur hier und da behindert durch die prunkvollen Gemälde in ihren Goldrahmen. Hausdiener Viktor hat Satie aufgelegt. Johannes Graf von Lahnstein, der gestrenge, aber warmherzige Patriarch betritt den Salon, in dem bereits diverse - teils illegitime - Sprösslinge das Frühstück einnehmen. Am Kopfende der Tafel bleibt er stehen, die Kamera zoomt auf sein Gesicht, und plötzlich wird offenbar, dass die Idylle trügt. Das blaue Blut des Grafen kocht. Hat er doch soeben erfahren, dass ihn Cecile, das blutjunge Ding, das er vor kaum einem Jahr geheiratet hat, mit seinem eigenen Sohn betrügt. Satie verstummt, düstere Bassklänge schwellen dramatisch an... und Schnitt. Fortsetzung folgt.

Manchmal scheint es, als sei die Zeit stehen geblieben. So hölzern stolpern sie durch die Kulisse, die Darsteller der Glamour-Soap "Verbotene Liebe". Unbeholfen und rührend ironiefrei werden Dialoge aufgesagt, in denen sich alles um "Contenance" und "Standesbewusstsein" dreht - als hätte die Welt mit Flaubert und Proust den Höhepunkt ihrer Komplexität erreicht. Und wäre dann einfach stehen geblieben.

"Wilde Orangen", der Erstlingsroman von Anna Katharina Fröhlich, spielt im selben - etwas windschiefen - Paralleluniversum der geschichts- und traditionsbewussten Reichen und Schönen. Ein hübsch ausstaffiertes Universum, in dem Frauen passive Liebchen sind, umflattert von Hermes-Tüchern und umrankt von Glitter und Flitter. Doch ach: Welch wilde Leidenschaften mögen hinter jenem eitlen Tand toben?

Schon beim Betrachten des Einbands stellt sich diese Frage zwischen Sein und Schein. Vor einer Tapete im Grün des von Lahnstein'schen Salons prangt ein dicker Goldrahmen mit Füsslis Bild "Der Nachtmahr". Ein Einband, so kitschig, dass ihn sich selbst Verleger von Groschenromanen verbitten würden. Und ein Gemälde, so over-exposed, dass es schon in den 80ern in Horror-B-Movies parodiert wurde. Das sollte, das darf, das kann nur als ironisches Statement verstanden werden. Hofft man zumindest.

Ein solches Cover ist ein Versprechen. Und es erfüllt sich bereits in der ersten Szene, in der die arg- und namenlose Protagonistin, ein junges Mädchen, am Flughafen sitzt, eingehüllt in einen unpraktischen, weil viel zu dicken Wolfspelz. Mit dieser Staffage will sie ihren Liebhaber beeindrucken, einen ältlichen Schriftsteller, so wohlhabend wie erfolgreich. Das einzige Kapital der gebürtigen Bad Hersfelderin ist ihr Aussehen. Sie will den Schriftsteller unterwerfen, ihn hörig machen. Indem sie Kleidungsstücke wie Fetische einsetzt. Fetische, die ihr weitere Luxusprodukte bescheren sollen: "Das Leben ist schön, wenn man nur die richtigen Schuhe trägt und Gänsestopfleber essen kann. Alles wird dann leichter."

Ein solches Cover ist freilich auch eine Drohung. "Als Gegenstand ging sie durch die Straßen und freute sich, ein Gegenstand zu sein." Wie dick mag sie sein, die Pathosschicht, mit der Fröhlich ihre psychologische Versuchsanordnung umgibt? Und welche neuen Aspekte lassen sich der konsumkritischen Haltung überhaupt noch abgewinnen - ist sie doch längst zur Binsenweisheit degeneriert? 320 Seiten braucht es, bis das Mädchen begreift, dass Geld allein nicht glücklich macht. Am Anfang scheint alles stimmig: Romantische Wochenenden in London und Venedig, unzählige kleine Liebesbeweise, an denen noch das Preisschild pappt und die ihr gerade deshalb so viel bedeuten. Nur leider gibt es eben Dinge, die kann man nicht kaufen.

Alle anderen zählt Fröhlich munter auf. In umständlichen, pseudokultivierten Sätzen, strotzend vor belanglos-hinderlich-irritierenden Adjektiven. Hübsch hat man's hinter diesem Einband, nur leider nicht sehr bequem. Die Sprache ist angestaubt, die Figuren haben keine Konturen, und irgendwann ist es auch egal, ob Fröhlichs Erzählperspektive ironisch verstanden werden will oder nicht - man will nur noch raus. Raus aus einer Welt, in der alle Figuren darüber charakterisiert werden, ob und wie sehr sie Proust verehren. Was nicht bedeuten muss, dass auch nur eine von ihnen Proust gelesen hat.

Schnitt. "Wilde Orangen" will mehr sein als eine rüschig-antiquierte Leichenfledderei (oder Reanimation?) des modernen französischen Romans. Trotz allem spielt die Handlung in der Gegenwart. Und deshalb gibt es in Fröhlichs Welt durchaus auch gepiercte Passanten, "Walkmänner" oder eine zweiseitige Hasstirade gegen Jette-Joop-Kostüme und Cluburlaub: "Es ist nicht leicht, in unseren Städten, Kleinstädten und Dörfern anderes zu träumen als Reklamebilder." Und weil das Mädchen nur Nebenfrau ist, hat es auch einen Alltag. Dieser Alltag stellt den Gegenentwurf zur Welt des Schriftstellers da. Hier kann sie mehr sein als ein bloßer Zaungast.

"Verbotene Liebe" hat noch weitere Kulissen. Zum Beispiel eine stets latent überbewohnte WG, in der sich die jugendliche Prolette Coco mit ihrem Freund zofft. Der findest es nämlich nicht gut, dass seine kleine Schwester neuerdings auf den Strich geht, um sich Designerkleidung leisten zu können. Soap-Autoren nennen das "soziale Realität". Auch Fröhlich tappt in diese Falle: Der "Alltag" ihrer Heldin ist nicht minder fantastisch als die Welt des Schriftstellers. In der ländlich-romantischen Idylle des Gardasees bewirtschaftet die Mutter der Hauptfigur ein altes Herrenhaus. Das Mädchen lebt in einem Reklamebild, bekannt aus den Spots zu Bertolli-Olvienöl.

Diese Rahmenhandlung kann kein Gegenentwurf sein. Sie ist zu süßlich, zu versponnen. Und passt weder thematisch noch stilistisch zum Rest des Romans. Das einzige Bindeglied ist das Mädchen, und selbst das erscheint in diesen Sequenzen wie eine ganz andere Figur. Als hätte Fröhlich einfach zwei Novellen miteinander verschnitten. Die Gardasee-Handlung ist dabei der uninteressantere Teil. Anstrengend und krude ist jedoch das gesamte Buch.

"Wilde Orangen" ist ein Kuriosum. Es überträgt die Konsumkritik der Popliteratur in die Welt des französischen Romans. Nicht als postmodernes Spiel, als clevere Hommage. Sondern, indem Fröhlich ihre blutarmen Gestalten vor eine Fototapete mit Proust- und Flaubert-Motiven stellt. Nur, dass jene alten Meister das alles viel besser konnten: Ihre Helden zwischen Sein und Schein aufzureiben, genüsslich deren Lebenslügen zu demontieren. Auf eine Madame Verdurin oder eine Emma Bovary hofft man bei Fröhlich vergebens. Ihre Figuren sind Kleiderständer, statisch und flach. Und die Seidentapete klebt, ganz wie bei den von Lahnsteins, auf Pressspanplatten. Sieht man genau hin, ist also nicht einmal die Oberfläche stimmig.

Titelbild

Anna Katharina Fröhlich: Wilde Orangen. Roman.
DuMont Buchverlag, Köln 2004.
312 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3832178759

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