Eine unverzichtbare Auswahl

Marion Eggerts Sammlung moderner koreanischer Lyrik

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Deutsche Lyriker können mit Neid auf Südkorea blicken: Dort finden Gedichte nicht nur Verlage, sondern sogar ein viel größeres interessiertes Publikum als hierzulande. Dabei machen es die Dichter ihren Lesern keineswegs immer leicht; gemessen an der Prosa, die meist immer noch traditionellen Erzählmodellen folgt, sind viele Gedichte geradezu experimentell.

Seit einigen Jahren sind immer mehr der wichtigen Autoren - seltener der wichtigen Autorinnen - auch deutschen Lesern in gewisser Weise zugänglich. In gewisser Weise: Diese Einschränkung ist notwendig, arbeiten doch koreanische Dichter häufig nicht nur mit anderen Versmaßen, sondern mit einem völlig anderen Begriff von Metrum. Wie etwa eine wechselnde Anzahl von Silben nach einer bestimmten Abfolge in taktähnliche Einheiten gebracht wird, lässt sich im Deutschen kaum nachbilden. So schwanken die Übersetzer zwischen zwei Gefahren: entweder Formmerkmale ganz wegzulassen und eine Form von Kurzprosa zu geben, die eine unerklärliche Verseinteilung aufweist - oder aber irgendwelche, der Vorlage äußerlichen Formen aus westlicher Lyrik aufzupfropfen.

Diesen Schwierigkeiten entgegen liegen aber doch inzwischen etliche mit Gewinn lesbare Bände vor; hingewiesen sei etwa auf Kim Hyesoons "Die Frau im Wolkenschloss", Kim Hyon-Seungs "Der Mai Koreas", Shin Kyongnims "Mutter, Großmutter - Silhouetten" oder Chong Hyon-Jongs "Unter den Menschen ist eine Insel". Dass die übersetzten Texte fast durchweg in den letzten vierzig Jahren entstanden sind, ist verständlich. Schließlich möchte sich das aktuelle Südkorea den deutschen Lesern vorstellen. Doch gleichzeitig ist die begrenzte Auswahl ein Verlust. Umso mehr ist die erweiterte Neuauflage einer Anthologie zu begrüßen, die die Koreanistin Marion Eggert übersetzt und herausgegeben hat. Sie berücksichtigt auch den Beginn der modernen koreanischen Lyrik, angefangen vom 1879 geborenen Han Yongun über den auf dem Umweg über die Kolonialmacht Japan importierten Modernismus der 30er Jahre bis hin zur nationalen Befreiungslyrik der folgenden Zeit. Einzigartig ist bisher auch der Hinweis auf die scheinbar ahistorische Naturlyrik der Zeit nach dem Koreakrieg, die tatsächlich geschichtlich bedingt die Sehnsucht nach einem unbeschädigten Dasein verkörpert, bei genauerem Hinsehen indessen häufig die Beschädigungen durch Kolonialisierung darstellt.

Allein durch die historische Breite der Auswahl ist die Sammlung auf absehbare Zeit von großer Bedeutung. Sie ist es auch, indem Eggert auf Dichter hinweist, von denen auf Deutsch bislang wenig oder nichts greifbar ist. Besonders in der frühen Moderne scheinen hier noch reiche Schätze zu heben. Zu nennen ist etwa Yun Tongju, gestorben kurz vor der Befreiung 1945 in einem japanischen Gefängnis, dessen knappe, unsentimentale Texte Vergänglichkeit, aber auch Widerstand thematisieren. Sein Gedicht "Im Krankenhaus" etwa verbindet beide Aspekte und repräsentiert zugleich den Typus lyrisch verdichteter Kurprosa, den viele koreanische Dichter bis heute schätzen. Niemand, soweit als deutscher Leser zu überblicken, hat diese Form virtuoser angewandt als Yisang (1910-1937), von dessen exzeptionellem Rang in Deutschland bis vor kurzem nur Übersetzungen seiner Erzählung "Flügel" zeugten. Rechtzeitig zur Buchmesse hat nun der Droschl Literaturverlag eine Auswahlausgabe herausgebracht.

Doch schon bei Eggert wird mit nur vier Texten seine Bedeutung deutlich. "Familie" demontiert bereits in den 30er Jahren unhintergehbar Vorstellungen, die koreanische Konservative heute noch pflegen. Eine intelligentere Ausformung des Spiegelmotivs als in "Spiegel" mit seinen vertrackten Wendungen zwischen Ich und Spiegel-Ich ist schwer vorstellbar, und das "Gedicht Nr. 12" kombiniert eine stringente Motivstruktur mit der Unterminierung jedes Sinnzusammenhangs. Fast ebenso beeindruckt die konzise, trockene Lyrik des im Koreakrieg verschollenen Chong Chiyong.

Opfer der Politik wie Chong und Yun und wie Yisang, der jung ebenfalls an den Folgen japanischer Haft starb, war unter den Neueren auch Kim Namju (1946-1994), der viele Jahre in südkoreanischen Gefängnissen verbringen musste. Kim ist politischer Lyriker. Neben den in Deutschland bekannteren Kim Chiha und Ko Un repräsentiert er jenen Abschnitt der koreanischen Lyrik, der besonders in den 70er und 80er Jahren vom Kampf gegen die Militärdiktatur gekennzeichnet war. Kim Namju ist, soweit die hier vertretenen Gedichte einen Schluss erlauben, gleichzeitig reflektierter und radikaler als die beiden anderen. Ihm unterläuft kein Befreiungspathos, vor allem aber verklärt er weder Nation noch Volk. Gerade dadurch gelingt es ihm, komplexe gesellschaftliche Widersprüche zu gestalten. Seine Kämpfer sind keine ungebrochenen Helden; in "Requiem" ist der Verrat dessen, der gefoltert wurde, thematisiert. Der Zusammenhang von "Blut" und "Blüte", den Kim in "Aschenhaufen" herstellt, ist denn auch fern von jedem Opferpathos, in sich vielfach gebrochen, gerade dadurch aber am Ende als Zukunftsperspektive überzeugend.

Die allmähliche Demokratisierung seit den 90er Jahren lässt überkommene Frontstellungen als obsolet erscheinen. Zwar sind Einkommens- und Besitzunterschiede nach wie vor groß, doch die einfache Konfrontation eines Wir gegen den Feind, die die Diktatur erlaubte, ist scheinbar unpersönlichen Strukturen gewichen. Erscheinungen von Entfremdung drängen sich in dieser Lage thematisch in den Vordergrund - einer haltlosen Existenz vor allem in der Großstadt Seoul, in deren Bereich fast die Hälfte der Bevölkerung lebt. Es leiden die materiellen Gewinner, zumindest jene, die Not oder Zwölfstundentage nicht kennen müssen; es klagt also die Schicht der Autoren und ihrer potenziellen Leser. Dem Verlust einer gesamtgesellschaftlichen Repräsentanz der Literatur, verschärft durch eine nachwachsende Generation, die andere Medien bevorzugt, steht ein Gewinn gegenüber: Ein genauerer Blick aufs Detail, auch auf die Einzelheit, die sich dem Ganzen nicht fügt, ist erst jenseits des notwendigen Kampfes möglich. Zum Spott über den Feind kann nun Ironie treten, sogar Selbstironie.

Etwas kurz handelt Eggert die neueste Dichtung ab. Erneut überzeugt hier vor allem Kim Hyesoon, besonders ihr Gedicht "Schwindelgefühle", das die Ich-Fixierung der neueren Literatur gleichzeitig bis zum möglichen Endpunkt steigert und kritisiert. Wieder handelt es sich um ein Spiegelgedicht: Jedes Objekt wird dem Ich zum Spiegel, was aber nicht Triumph, sondern Gefangenschaft bedeutet.

Aus neuester Zeit, wenn auch hier noch kein Kanon gebildet ist, hätte man gerne mehr gelesen - nur zwei in den 60er Jahren geborene Autoren sind vertreten, jüngere gar nicht. Unter den älteren, den in den 30er und 40er Jahren Geborenen, von denen relativ viel übersetzt ist, fehlen wichtige Dichter, etwa Hwang Tong-Gyu, dessen Zyklus "Windbestattung" in einer unverdient schwachen deutschen Fassung vorliegt, oder Chong Hyon-Jong. Doch sind solche Lücken wohl Schicksal jeder Anthologie, zumal jede Sammlung gliedern, periodisieren muss. Marion Eggert orientiert sich vor allem an politischen Einschnitten, für einen ersten Überblick zu Recht. Hätte sie die Entstehungsdaten der einzelnen Gedichte verraten, wäre freilich ein komplexeres Bild entstanden, würde vielleicht deutlicher, dass Trends sich schon vor dem gesellschaftlichen Wandel vorbereiten, der ihnen zum Durchbruch verhilft, und dass es Nachzügler gibt, die sich nicht der Hauptströmung anpassen.

Doch ist Periodisierung nötig, ebenso wie Kriterien der Auswahl. Neben der Repräsentativität orientiert sich Eggert auch, wie sie schreibt, an der "Übersetzbarkeit der Gedichte". So ist Kim Sowol, als bedeutender und bislang sonst nicht übersetzter Dichter, mit nur einem Text vertreten, weil seine Lyrik ihre Wirkung vor allem durch klangliche und grammatische Eigentümlichkeiten des Koreanischen erzielt. Nun ist die Wirkung des Begrifflichen leichter zu übertragen als die des Lautlichen; und Marion Eggerts Sammlung bevorzugt eine an der Ratio orientierte Dichtung. So entsteht einerseits eine vielleicht einseitige Auswahl, zudem in einer Sprache, die wohl den Gedanken korrekt wiedergibt, aber dichterische Wagnisse konsequent vermeidet, etwas gleichförmig wirkt.

Doch ist es andererseits gerade angesichts der oben skizzierten lyrikspezifischen Probleme wohl zuviel von einer einzelnen Übersetzerin verlangt, 33 Dichtern 33 unterschiedliche Töne zu verleihen; insofern repräsentiert die Sammlung die bessere koreanische Lyrik, als vage kompensatorische Naturgedichte ebenso fehlen wie platt nationales Volkspathos, zu dem der demokratische Kampf verleitete und wie er auf Deutsch etwa in manchen, aber bei weitem nicht allen Gedichten Ko Uns zu lesen ist. Auf jeden Fall bietet Eggert wichtige Texte und schließt empfindliche Lücken, die bislang zu beklagen waren.

Titelbild

Marion Eggert (Hg.): Wind und Gras. Moderne koreanische Lyrik.
Herausgegeben und übersetzt aus dem Koreanischen von Marion Eggert.
dtv Verlag, München 2005.
153 Seiten, 8,50 EUR.
ISBN-10: 3423133805

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