Geschichte der antiken Philosophie in Anekdoten

Zu einer langerwarteten Neuübersetzung des Diogenes Laertios

Von Stefan SchornRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Schorn

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine neue deutsche Gesamtübersetzung von Diogenes Laertios' philosophiegeschichtlichem Werk, das wohl den Titel "Leben und Meinungen der bedeutenden Denker und Sammlung der Lehren der philosophischen Richtungen" trägt, ist seit vielen Jahren ein Desiderat. Während seit 1925 die englische Übersetzung von R. D. Hicks und seit 1962 die italienische von Marcello Gigante gute Dienste leisten, muss man im deutschen Sprachraum auf die Übertragung Otto Apelts (zuerst 1921) zurückgreifen, deren gestelztes Übersetzungsdeutsch bisweilen nur durch einen Blick in das griechische Original verständlich wird. Nun liegt dank Fritz Jürß eine zeitgemäße Übertragung eines Werkes vor, das nicht nur eine unserer wichtigsten Quellen für die antike Philosophie darstellt, sondern auch zu den kurzweiligsten und amüsantesten Texten gehört, die uns die Antike hinterlassen hat.

In der knappen Einleitung, die so konzipiert ist, dass sie auch für den Nichtfachmann gut verständlich ist, stellt Jürß Überlegungen an zur Philosophiegeschichtsschreibung als einem hermeneutischem Problem: Wie können die Gedanken eines antiken Menschen heute "nachgedacht" werden? Ist es überhaupt möglich, das Denken der Antike, einer entfernten, fremden Kultur, zu verstehen? Was kann das Ziel der modernen Philosophiegeschichtsschreibung sein? Die antike Philosophiegeschichtsschreibung hatte ihren Ursprung in der Schule des Aristoteles und entwickelte sich von Anfang an in zwei Richtungen, in eine doxographische und eine biographische. In doxographischen Werken wurden die Lösungsvorschläge einzelner Philosophen für bestimmte Probleme gesammelt und erörtert, ohne im Besonderen auf die Persönlichkeit des Philosophen einzugehen (so etwa in Theophrasts "Meinungen der Naturphilosophen"), während in der biographischen Philosophiegeschichtsschreibung die Lehren oft in den Hintergrund traten und das Leben einzelner Philosophen in teils polemischer, teils panegyrischer Art beschrieben wurde. Schon von Anfang an (Aristoxenos, circa 370 - 300 v. Chr.) war diese Gattung meist durch Pikanterien, Anekdoten, Bonmots und Klatsch charakterisiert. Die Einzigartigkeit der zehn Bücher des Diogenes Laertios liegt darin, wie Jürß zurecht betont, dass nur hier die beiden Stränge vereint sind und dieses Werk als "biodoxographisch" zu bezeichnen ist.

Im Abschnitt über "Autor und Werk" diskutiert Jürß das Wenige, das wir vom Autor wissen. Er datiert ihn mit Zurückhaltung ins dritte nachchristliche Jahrhundert und deutet eine kontrovers diskutierte Stelle (IX 109) in seinem Werk als möglichen Hinweis auf seine Herkunft aus Bithynien. Letzteres erscheint zweifelhaft. Er skizziert kurz den Aufbau des Gesamtwerkes sowie der einzelnen Lebensbeschreibungen und versucht, Diogenes als Autor gerecht zu werden. Charakteristisch für Diogenes` Werk, wie Jürß ausführt, ist seine Buntscheckigkeit. Neben zuverlässigen Sachinformationen über Leben und Lehre der Philosophen finden wir Anekdoten, Klatsch, Verwechslungen und eindeutige Fehlinformationen, und alles dies in einer derart chaotischen Form, dass oft die Vermutung geäußert wurde, Diogenes habe nur eine Art Zettelkasten oder Exzerptensammlung zu einem Buch zusammengefaßt. Jürß erklärt diese Form damit, dass dem Buch eine letzte Überarbeitung fehle und es in der überlieferten Form erst einer Rohdisposition des Werkes entspreche, die postum ediert worden sei - eine These, die einige Wahrscheinlichkeit für sich hat. Als Hinweis auf Diogenes' "Gespür für produktionsästhetische Belange" verweist er auf die Reste seiner Epigrammsammlung "Pammetron" ("Gedichte in allerlei Versmaßen"); aber gerade von diesen Gedichten, die zum Uninspiriertesten gehören, was aus der Antike bekannt ist, auf einen Sinn für Ästhetik zu schließen, erscheint bedenklich.

Abschließend gibt die Einleitung Aufschluß über die Überlieferungs- und Editionsgeschichte des Werkes. Man erhält einen Eindruck von Jürß' übersetzerischer Leistung und versteht, warum es so wenige Übertragungen des Diogenes gibt: Kaum ein antiker Autor ist in einem so schlechten Zustand überliefert wie Diogenes. Zahlreiche Passagen sind schwer verständlich, an kaum zu zählenden Stellen hat die moderne Kritik versucht, den überlieferten Text mittels Konjektur zu verbessern. Bis heute gibt es keine zufriedenstellende kritische Ausgabe. In zahlreichen Anmerkungen zum Text erläutert Jürß seine Übersetzung, erörtert textkritische Probleme und gibt Hinweise auf Parallelstellen bei anderen Autoren. Weiterhin hat er selbst zwei der wichtigsten Kodizes (B und F) im Hinblick auf problematische Stellen eingesehen, außerdem die Kollationen Peter von der Mühls für eine geplante Ausgabe des Diogenes. Jürß hat hier weit mehr Arbeit geleistet, als man vom Übersetzer eines antiken Textes billigerweise fordern kann. So ist auch das Literaturverzeichnis am Ende des Buches vorbildlich.

Die Übersetzung ist recht frei, dafür jedoch sehr gut lesbar. Sie ist - soweit eine Überprüfung in Stichproben ergeben hat - weitgehend zuverlässig. Die von Diogenes angeführten, sprachlich bisweilen sehr schwierigen Verspartien hätte Jürß besser in Prosa wiedergeben sollen. In seinen metrischen Übersetzungen fallen viele sprachliche Feinheiten des Originals unter den Tisch. Kein antiker Autor zitiert so viele seiner Vorgänger wie Diogenes, obwohl er sicherlich die wenigsten davon gelesen hat. Er hat wohl nur einige wenige Handbücher zu einem einzigen kompiliert, wobei bisweilen schwer zu erkennen ist, wo ein Zitat endet und worauf sich eine Angabe bezieht. Hier müssen sich bei der Übersetzung Fehler einschleichen. Der Grund für Fehler in diesem Punkt zur Überraschung des Rezensenten scheint darin zu bestehen, daß Jürß bisweilen von überholten Fassungen des griechischen Textes ausgeht (z.B. VI 80). Verwirrend ist ferner, wie Jürß die von Diogenes zitierten Werke angibt, da nicht deutlich wird, ob die bisweilen in Klammern angeführten Werktitel von Diogenes selbst stammen oder Zusatzinformationen des Übersetzers darstellen.

Eine Reihe kleinerer Ungenauigkeiten in der Übersetzung könnten hier noch angeführt werden. Es soll indes nicht der Eindruck entstehen, dass durch kleinliches Mäkeln die große übersetzerische Leistung von Jürß geschmälert wird, zumal Diogenes Laertios ein Autor ist, der wohl nie zur vollsten Zufriedenheit aller ediert und übersetzt werden kann. Es bleibt zu wünschen, dass durch diese Übertragung das Werk des Diogenes auch außerhalb der Alterumswissenschaft an Bekanntheit gewinnt.

Für alle, die Diogenes Laertios (noch) nicht kennen, eine kleine Kostprobe: "Bei der Begegnung mit einem erfolglosen Ringkämpfer, der nun als Arzt praktizierte, bemerkte er (Diogenes der Kyniker): "Was denn, will er etwa, die ihn früher besiegten, nun doch noch umbringen?" Beim Anblick eines Hetärensprößlings, der einen Stein in die Menge warf, meinte er: "Paß auf, daß du nicht deinen Vater triffst."

Titelbild

Diogenes Laertius: Leben und Lehre der Philosophen. Eingel., komm. und übersetzt von F. Jürss.
Reclam Verlag, Stuttgart 1998.
584 Seiten, 11,20 EUR.
ISBN-10: 3150096693

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