115 neue Dinge, die man gegen das Erwachsenwerden tun kann

"Wir bleiben in der Nähe" - tiefsinniger Unsinn von Tilman Rammstedt

Von Stefan MeschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Mesch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Wir könnten groß ins Zierfischgeschäft einsteigen. Wir könnten als Erntehelfer anheuern. Wir könnten lange Wanderungen unternehmen, deren Strecke von oben betrachtet eine Nachricht darstellt." Felix steht im Dunkeln und überlegt. Er ist 34 Jahre alt, Kinderarzt, Single. Vor Jahren hat er seine beiden besten Freunde verloren. Denn als aus Katharina und Konrad Katharinaundkonrad wurde, hat er mit Katharina geschlafen, und später haben sich alle zerstritten und sind weggegangen, jeder in eine andere Richtung. Jetzt wird Katharina heiraten. Felix steht vor einem Ferienhaus an der französischen Atlantikküste, Konrad ist drinnen und kocht Muscheln, und oben, im ersten Stock, liegt Katharina und soll gefälligst mal darüber nachdenken, was sie da eigentlich tut mit ihrem Leben. Katharina darf nicht einfach so heiraten, jetzt plötzlich. Deshalb haben Felix und Konrad sie entführt.

"Wir könnten ein Komplott aufdecken. Wir könnten ein Attentat verhindern. Wir könnten schlechte Menschen mit Torten bewerfen." Nach "Erledigungen vor der Feier" (Dumont 2003), einem Band knackiger Kurzprosa, legt Tilman Rammstedt mit "Wir bleiben in der Nähe" seinen ersten Roman vor. Auch dieser scheint wieder im Rammstedt-typischen skurrilen Wohlfühl-Universum zu spielen, in dem sich alle Leute prima finden und trotzdem den ganzen Tag auf Haarspaltereien herumreiten, in dem die Sprache Pirouetten dreht und in endlosen Aufzählungen munter wie ein Hund ihren eigenen Schwanz jagt, in dem alles immer latent seltsam ist und ziemlich chaotisch und trotzdem halb so schlimm. Leichtverdauliche Li-La-Launeliteratur, da dürfen auch mal Frauen entführt werden, denkt sich Felix, und der Leser stimmt freudig zu, wird bestimmt lustig, das alles. Wird es aber nicht.

"Wir könnten uns neue Namen geben. Wir könnten eine gesunde Obsession für tropische Pflanzen entwickeln. Wir könnten in den Untergrund gehen." Felix überlegt, wie es weitergehen soll, er sucht nach Alternativen und findet, über den ganzen Roman verteilt, 115 von ihnen. Keine ist praktikabel. Langsam wird ihm klar, dass die Entführung keine gute Idee war, die Verzweiflungstat ist kein Neuanfang. Sie unterstreicht nur die Orientierungslosigkeit dreier thirtysomethings, die unabsichtlich, aber nicht grundlos auseinander gedriftet sind: eine Pattsituation. Rammstedt ätzt und frotzelt, umkreist die schräge Argumentation seiner Figuren, spielt virtuos mit einer einfachen, aber hochpräzisen Sprache: "Wir bleiben in der Nähe" ist die kongeniale Weiterentwicklung seiner Kurzprosa. Doch je länger die Handlung auf der Stelle tritt, desto bedrückender wird das ständige Aneinander-vorbei-Reden der alternden Freunde, desto beklemmender wird Felix' Ratlosigkeit, desto offensichtlicher wird: Rammstedt meint es verdammt ernst dieses Mal.

"Wir könnten nach Gold graben. Wir könnten fremde Identitäten annehmen. Wir könnten die Fassung bewahren." Felix sucht nach Optionen, nach einem Gegenentwurf zu Katharinas spießigem Neuanfang zwischen Kastanien und Gründerzeitvillen. Ihm fällt nichts ein. Denn der Roman ist kein launiger Text für einen Poetry Slam, sondern ergibt 240 Seiten Charakterstudie, und da gehen die Tastaturen anders. "Wir bleiben in der Nähe" klingt wie der Vorabend auf Pro Sieben und macht dabei so ratlos wie 3sat weit nach Mitternacht. Und doch schmunzelt man sich durch Rammstedts Prosa in einem Rutsch durch, jeder Satz gehört angestrichen, mit Ausrufezeichen versehen, abgetippt und - "Das kenne ich!", "Wem sagt du das?" - an die Wand gehängt. "Wir bleiben in der Nähe" gehört an Kneipentische und an Cafétischchen und an WG-Küchentische sowieso, und drum herum gehören alle Leute, die man prima findet, die dieselbe Sprache sprechen und mit denen man gerne stundenlang auf Haarspaltereien herumreitet, und dann kann man bedenkenlos alle Passagen vortragen und jeder wird nicken und sagen: "Das trifft es."

Nur eine Passage sollte man vielleicht auslassen. Die Passage, an die Felix am stärksten glauben will und der er doch am wenigsten traut. Die Passage, die den 1975 geborenen Rammstedt und seinen Roman dann doch zweifelsfrei als erwachsen entlarvt: "Wir könnten in Kontakt bleiben. Wir könnten in regelmäßigen Abständen telefonieren. Wir könnten gemeinsame Kurzurlaube planen. Wir könnten uns auf dem Laufenden halten. Wir könnten uns bemühen."

Titelbild

Tilman Rammstedt: Wir bleiben in der Nähe.
DuMont Buchverlag, Köln 2005.
237 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3832179399

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