Uneindeutige Wirklichkeit

Ein endlich wieder neu aufgelegter Roman Ernst Augustins: "Eastend".

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eigentlich läuft alles ganz gut für den Schriftsteller Almund Grau. Na gut, sein letzter Roman wurde verrissen. Und dann trifft er auf einer Party auch noch einen seiner Kritiker, der es nicht lassen kann, ihn darauf anzusprechen und spitze Bemerkungen zu machen, bis er von Almunds Frau Kerrie mit einem Kugelschreiber spitz in den Hintern gestochen wird. Aber dann schlägt Kerrie vor, dass man gemeinsam in eine Gruppentherapie gehen sollte. Almund geht mit, obwohl er eigentlich lieber auf seinem Sofa sitzen bleiben und Orest lesen wollte. Trotzdem macht er einen Fehler, wie er später einsieht: "Es war meine Schuld, weil ich die Sache nicht ernst genommen habe - ich hätte es besser wissen müssen."

Denn in dieser Therapiegruppe bricht alles auf und auseinander. Der Therapeutenguru spielt seine Macht aus, die Gruppenmitglieder lassen sich zu den absurdesten Spielchen verleiten, die in der Psychoszene allerdings ganz normal sind: Umarmungen, Kommunikations- und Wahrnehmungsspielchen, vor allem aber Machtspielchen, oft gegen Almund. Denn Almund spielt nicht mit. Almund sieht genau, dass er eigentlich nicht reinpasst, dass er nur als Opferlamm da ist, dass sein gesunder Menschenverstand diesen Unsinn eigentlich nicht zulässt. Nach einer Konfrontation mit seiner Frau in der Gruppe fühlt er sich von ihr im Stich gelassen. Er verlässt die Gruppe und versucht sich umzubringen, was grandios misslingt: Er geht in den Schnee hinaus und trinkt Alkohol, doch dann kommt der Föhn und er steigt schwitzend wieder den Berg hinunter.

Dann geht er nach London und versucht wieder zu schreiben. Er lässt sich durch die Stadt treiben, lernt abstruse Menschen, groteske normale Engländer kennen und rettet einem von ihnen sogar das Leben. Nach vielen Erfahrungen kehrt er wieder nach München zurück und will um seine Frau kämpfen. Aber da kommt es anders, als er erwartet hat. Und auch anders als es die Leser erwarten: Denn das Buch, in dem Almund durch die Wirklichkeit mäandert, ist von Ernst Augustin, und der hat immer Überraschungen parat.

Die Wirklichkeit ist, so lautet Augustins Credo, nicht eindeutig: Es sind Wirklichkeiten, die nebeneinander herlaufen "wie die Streifen in einem Tuch". Es ist ein subtiles, korrekturbedürftiges Tuch, changierend, farbenwechselnd, bunt und schillernd. Zusammengehalten wird es in den vielen Romanen Augustins, die jetzt im Beck Verlag endlich alle wieder neu erscheinen, vor allem von der Liebe. Wie in seinem Meisterwerk "Raumlicht" lieben sich auch in "Eastend" die Hauptpersonen so sehr, dass ihre Liebe mehrere Leben zu dauern vermag: Almund erzählt die Geschichte von den Hühnern in Antiochia, die er und seine Frau waren. Die sich erst kurz vor ihrem Tod sahen und sich sofort erkannten: "In diesem Hühnerleben haben wir uns mit unseren gefolterten Augen angesehen und haben den Sprung gemacht. So kurz. Und auf das nächste Mal gehofft."

"Eastend" ist aber auch, und auch das verbindet ihn mit "Raumlicht", eine Geschichte von der eigenen Identität: Da muss Almund Grau erst seine Frau verlieren, in London im armen Eastend leben, den Händler Bannister aus einem zugefallenen Kühlschrank befreien und sterben (metaphorisch), bis er fähig ist, sich "um sich selbst zu verlängern, oder sich wenigstens in die Höhe zu heben". Kurz: sich zu wandeln, zu verändern, sich neu zu erschaffen. Oder sich selbst zu finden, was dasselbe ist. Erst dann findet Grau auch seine Frau wieder. Oder sie ihn. Augustin erzählt von diesem Mann und dieser Liebe in einer fantastischen, ausgefeilten, immerzu richtungswechselnden Geschichte, die gleichzeitig anrührend, weise und witzig ist. Mit vielen Sprüngen, Einfällen und Verblüfftheiten spielt er, springt in den Sätzen ständig zwischen Innen- und Außenwelt, ironisiert die Unsinnigkeiten der Therapieszene (das Buch, 1982 zum ersten Mal erschienen, spielt in den siebziger Jahren) und ist liebevoll, psychologisch stimmig und realistisch zugleich. So eine wirklichkeitsnahe und einfallsreiche Beschreibung von London hat man selten gelesen, und so eine präzise Beschreibung von menschlichen Verhaltensweisen, Irrtümern, Wandlungen und innerer Standhaftigkeit auch. Alles zusammen, die elliptischen Sätze, die von der Beschreibung ins Träumerische gleiten, von der beißenden Kritik in die Liebesfantasie, von der sanften Ironie in reiche, innere Welten, dies alles zusammen ergibt den unnachahmlichen Augustin-Sound. Von dem man nie wieder loskommt.

Titelbild

Ernst Augustin: Eastend. Roman.
Verlag C.H.Beck, München 2005.
328 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-10: 3406535488

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch