Austria nigra und weiter

Ein Sammelband behandelt Aspekte der österreichischen Gegenwartsliteratur

Von Helmut SturmRSS-Newsfeed neuer Artikel von Helmut Sturm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

2002, drei Jahre vor Jelineks Literatur-Nobelpreis, organisierte die Konrad-Adenauer-Stiftung gemeinsam mit dem Kulturforum der Österreichischen Botschaft in der Bundesrepublik Deutsachland ein Symposium über österreichische Gegenwartsliteratur. Es war die erste Veranstaltung der Reihe "Begegnung mit dem Nachbarn". Birgit Lermen und Michael Braun haben in der Schriftenreihe der Stiftung unter dem Titel "Begegnung mit dem Nachbarn. Aspekte österreichischer Gegenwartsliteratur" die Referate der Tagung einem größeren Publikum zugänglich gemacht.

Stand die Veranstaltung ursprünglich unter dem Motto "Erklär' mir Österreich", wurde dieses etwas großspurige Motto (es stammt von Robert Menasse) für den Berichtband fallen gelassen. Dies vielleicht auch unter dem Einfluss von Kurt Bartsch, der in der Vorbemerkung zu seinem Referat, in dem er beschreibt, welches Bild österreichische Autoren im Jahr 1995 von Österreich zeichnen, festhält, dass es sich bei seinem Beitrag "um einen eingeschränkten Blickwinkel und um ein Konstrukt handelt". Als markante Punkte im Bild der Schriftsteller von Österreich wählt der Grazer Germanist aus Texten von Christoph Ransmayr, Elfriede Jelinek und Norbert Gstrein "die Negativerfahrung des einschränkenden, eingeschränkten Horizonts" aus, aus der "das Lebendig-Totsein in diesem Land, das erbarmungslos Grausame und das Fehlen eines menschlichen Miteinanders" resultiere. Bartsch hält Ingeborg Bachmanns Formel "Unter Irren und Mördern" für eine zutreffende Charakterisierung von so unterschiedlichen Werken wie Jelineks "Kinder der Toten", Josef Haslingers "Opernball", Gstreins "Der Kommerzialrat" oder Lilian Faschingers "Magdalena Sünderin".

Österreichische Autoren seien, so Bartsch, gegen die Gefährdung "nationalen Fixiertseins" nicht gefeit. Neben Ransmayr und Faschinger habe aber vor allem Michael Scharang in "Das Jüngste Gericht des Michelangelo Spatz" diese Fixierung durchbrochen.

Diese Fixierung auf das kleine Land stellt Monica Fröhlich in ihrem Beitrag über "Europadiskurs im Werk Christoph Ransmayrs" auch als Defizit der österreichischen Literaturwissenschaft fest. Sie nennt dafür zwei Gründe. Die Sicht, "dass Europa primär als rückwärtsgewandte Utopie" existiert, verstelle zusammen mit der Bemühung um eine Profilbildung gegenüber Deutschland den Blick für einen weiteren Horizont. "Tendenzen zu einer europäischen Weiterung" erkennt Monica Fröhlich bei Josef Haslinger, Robert Menasse und Christoph Ransmayr. Von Thomas Bernhard und Jelinek behauptet sie, dass "die sogar da noch Österreich meinen, wo sie von anderen Dingen reden", zitiert aber im gleichen Absatz Wendelin Schmidt-Dengler, nach dem bei diesen Autoren Österreich für etwas steht, das über Österreich hinaus Gültigkeit besitzt.

Von Schmidt-Dengler stammt das einleitende Referat über "Die literarische Szene der Gegenwart in Österreich". Er postuliert zunächst die Eigenständigkeit der österreichischen Literatur, da die Rahmenbedingungen in Österreich "grundverschieden von denen in Deutschland" seien. Zu fragen ist in diesem Zusammenhang freilich welcher Nationalliteratur dann jene Autorinnen und Autoren zuzurechnen sind, die jahre-, jahrzehntelang im "Ausland" leben und arbeiten. Problematisch erscheint Schmidt-Denglers Argumentation nicht nur bei Autoren wie Peter Handke und Christoph Ransmayr. Bezeichnend, dass in seinem sehr informativen Überblick Norbert Gstrein, Raoul Schrott oder Anna Mitgutsch nicht erwähnt werden. Auf sie alle (wie auch auf Josef Haslinger) treffen neben den österreichischen Rahmenbedingungen wohl noch ganz andere Konditionen zu.

Jürgen Hein gibt eine Übersicht über "Heimat-Ansichten in der österreichischen Kurzprosa nach 1945" und Sigrid Schmid-Bortenschlager untersucht "Juden" und "Jüdisches" in der österreichischen Literatur nach 1945". Die Salzburger Germanistin versucht in ihrer Darstellung, Phasen der Auseinandersetzung mit Judenverfolgung und -vernichtung zu unterscheiden. Sie stellt dabei beträchtliche Unterschiede zwischen Österreich und Deutschland fest und formuliert die anregende Hypothese, "dass sich in den Werken der Schriftsteller - und vor allem auch in ihrem Publikumserfolg - unbewusste kollektive Strategien des Umgangs mit der Thematik des Holocaust feststellen lassen".

Schließlich enthält der Tagungsbericht noch eine kurze Einführung von Volker Neuhaus in die "Austria nigra" der Detektivromane von Wolf Haas und die Vorstellung Birgit Lermens von Josef Haslinger, der auf der Konferenz gelesen hat. Eine leicht gekürzte Fassung seines Essays "Europa der Liegestühle" beendet den Berichtband.

Der Generalsekretär der Konrad-Adenauer-Stiftung wünscht in seinem Grußwort dem Band nicht nur ein fachwissenschaftliches Publikum. Tatsächlich liegt hier ein Heft vor, das sich vorzüglich für einen ersten Überblick und die Begegnung mit wichtigen Aspekten österreichischer Gegenwartsliteratur eignet. Begünstigt wird solch ein Kennenlernen durch die gute Lesbarkeit der Beiträge und ihre durchwegs elegante sprachliche Formulierung.

Titelbild

Michael Braun / Birgit Lermen (Hg.): Begegnung mit dem Nachbarn. Aspekte österreichischer Gegenwartsliteratur.
Konrad-Adenauer-Stiftung e.V, Sankt Augustin 2003.
153 Seiten,
ISBN-10: 3933714729

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