Totengespräche

Heiner Müllers Re-Visionen Sophokleischer Texte

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Heiner Müllers Arbeit an und mit Texten ist kaum abzulösen vom Ort des Theaters. Immer wieder hat er in seinen Dramen, theoretischen Texten oder in den Um-Schriften von Vorgängertexten die Grenzen und Möglichkeiten dieses Spielraums ausgelotet, durch seine Texte auf die Probe gestellt, einem bisweilen anatomischen Blick ausgesetzt. Aber daraus resultierte - anders als bei Bertolt Brecht - kein normatives Denken oder gar eine kohärente Theorie, was oder wie Theater zu sein hätte.

Stattdessen manifestieren seine Texte die Einsicht, dass nur ein Denken, das sich der institutionalisierten Verwaltung und Erstarrung von Wissen entzieht, der Bewegung folgen könne, mit der sich die Theater-Avantgarden in den zwanziger wie auch seit den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts gegen die jeweils dominierenden Konventionen gewandt haben. 1983 hat Müller in einem Interview diese 'dekonstruktivistische' Dramaturgie im Umgang mit altem Material zugleich als Vorgriff auf die Zukunft der eigenen Texte begründet: "Man kann die Nachwelt auch in der Vergangenheit haben [...]. Jeder neue Text steht in Beziehung zu einer ganzen Menge älterer Texte, von anderen Autoren, und verändert auch den Blick auf sie. Mein Umgang mit alten Stoffen und Texten ist auch ein Umgang mit einer Nachwelt. Es ist, wenn Sie so wollen, ein Dialog mit Toten".

Dem entspricht bei Müller eine Schreibpraxis, die sich weder bloß dem Augenblick noch einer zeitlosen Ewigkeit verpflichtet sieht. Indem er seine Übersetzung, Bearbeitung und "Übermalung" klassischer Texte mit Kommentaren versieht (u.a. zu Sophokles' "Philoktet" und "König Ödipus"), in eigene Stücke "Kommentartexte" einbaut, die den jeweiligen Zeithorizont und Handlungsrahmen sprengen und mit der gegenseitigen Kommentierung heterogener Textteile und Szenen als Kompositionsprinzip experimentiert (u.a. bei "Germania Tod in Berlin"), setzt er eine Vielzahl diverser Schreib-Prozesse in Gang, in denen sich der Autor Müller in den alten Text einschreibt, allerdings nicht im Sinne konservierender Überlieferung, sondern als Strategie der Aushöhlung, Entstellung und Entgrenzung. Übrig bleiben Bruchstücke, Fragmente, in denen sich ein neues, fremdes Leben angesiedelt hat.

Gleichermaßen allegorisch und gespenstisch sind die Gestalten, die Müller antike Texte annehmen lässt, befinden sie sich doch stets im "Dialog mit Toten". Nach Ansicht Müllers bedarf das überlieferte Werk der Anreicherung mit einer gegenwärtigen, auch körperlichen Erfahrung des Schreckens, um nicht in harmloser Klassizität zu erstarren. Müllers Verfahren der Ein-Schrift verfolgt Aufklärung und Rationalität der klassischen Texte bis an den Punkt, an dem sie ihrerseits in Barbarei, Krieg, Folter und Zerstörung umschlagen. Den Toten im Plural eine Stimme zu geben, ihre körperlichen Leiden und Entstellungen darzustellen, heißt bei Müller vor allem, der Erfahrung Raum zu geben, Opfer und Täter zugleich zu sein.

Die Frage nach dem Ort des Körpers in Müllers Theater führt auf seine in der Forschung viel zu wenig beachtete Auseinandersetzung mit Antonin Artaud und dessen "Theater der Grausamkeit", der seinerseits die Metaphysik und die Grausamkeit ebenso wie die Pest als Double und höhere Realität des Theaters sah. In dem extrem verdichteten Text "Artaud, die Sprache der Qual" (1977) nähert sich Müllers Vorstellung von Grausamkeit als einer Erfahrung von Schrecken und Schmerz, Leiden des Körpers und Spaltung des Bewusstseins, aber auch als Potential einer poetischen Sprache und einer historischen Erfahrung. Was Artaud für Müllers Theater so wichtig macht, ist die Spannung zwischen dem Impuls, das Theater vom Körper her zu denken, und andererseits die Bewegung eines Entzugs, einer Verunmöglichung des Theaters durch Schreibweisen der Destruktion, durch die Ein-Schrift des Körpers in den Text. Von Artaud her formuliert Müller Visionen, die sich der realen Bühne, dem realen Spiel entziehen, um das bestehende Theater zu stören und unabhängig von jeder Zwecksetzung den Spielraum für ein Theater offen zu halten, das sich nur im Kopf abspielt. So bleibt vor allem die in Müllers Dramen oft anzutreffende 'dunkle' Vision von Körper-Erfahrungen, die Schmerz, Ekel, Schrecken und Tod einschließen, eine politische Funktion der Ein-Schrift des Autors in den Text gerade insofern, als sie die institutionalisierten Formen der Literatur und des Theaters überschreitet und nachhaltig verstört.

Diese in Müllers Vorstellung vom Theater als Fest des Todes und der Verwandlung zentrierte negative Pädagogik, die Brechts Gedanken eines Lernens durch Schrecken wieder an das aristotelische Katharsisdenken heranführt und den antiken Tragödienbegriff der marxistischen Geschichtsphilosophie annähert, lässt sich vor allem in den Um-Schriften der beiden Sophokleischen Tragödien "Philoktet" und "König Ödipus" beobachten. Müller unterlegt dem Aspekt des historischen Übergangs in seinen Texten eine chiastische Struktur, nach der sich die in der Antike begonnene Entwicklung in der Moderne umkehre: In der Antike führe der Übergang von der "clanorientierten Gesellschaft zur Klassengesellschaft", in der Moderne hingegen von der Klassengesellschaft zur klassenlosen Gesellschaft. Insofern erhalten die Konflikte und Kollisionen der griechischen Tragödie eine aktuelle Dimension. In diesem Zusammenhang verwundert es daher nicht, dass Müllers Variationen auf Sophokles' Tragödien als Antikriegsstücke, als innermarxistische Parabeln auf tragische Konflikte der kommunistischen Politik, als Geschichten, die das Thema der Verfemung und der Rehabilitierung von Kommunisten in der Stalinzeit betrifft, gelesen wurden.

So geht es in Müllers "Philoktet" um die Vermittlung eines inneren Erlebnisses des Politischen und der Macht von Politik als ein den modernen Menschen treffendes und von ihm selbst bereitetes Schicksal. Und um die - von Georges Bataille bereits 1943 so überzeugend beschriebene - "expérience intérieure" des Konflikts zwischen der politischen Kraft des Logos und der von ihr getroffenen Wirklichkeit des menschlichen Körpers. Deshalb setzt Müller auf die Organisation eines "Widerstand[s] des Körpers gegen den Text", die vor allem die "Tragödie" der Odysseus-Figur "lesbar" machen soll. Das, wodurch sich politisches Theater entfalten kann, ist nach Müller nicht der Konflikt zwischen der Politik und den Körpern (der Schauspieler), in denen der Text der Politik "sich einschriebt und verliert".

Das grausame Spiel mit dem Text des Politischen wird vollzogen durch ein Subjekt, das seinen Körper als von diesem verschieden erfährt. Durch eine selbstreflexive Performance holt der Körper des Schauspielers Geschichte in die Gegenwart, macht sie gleichsam zur Theater-Gegenwart. Kunst will nicht ein Anderes der Politik sein, sondern der Ort, wo die Logik des Politischen ihrer Grenzen innewird. Folglich ist Odysseus nach Müller "eine Figur der Grenzüberschreitung" im Batailleschen Sinne: Theater stellt die 'imperiale' Struktur des Politischen aus, um sie in ihrer Unmöglichkeit performativ erfahrbar zu machen. Ansichtig wird ein Theater-Spiel, wo das Denken anderer Optionen des Politischen möglich wird. Als "eine Übersetzung des Sophokles ins Römische", hat Müller das Stück bezeichnet, "eine staatlichere Version. Die Maschine schneidet tiefer ins Lebendige und hat auch die Toten noch im Griff".

Wilfried Barner hat in einem Aufsatz über Heiner Müllers Re-Vision des Sophokleischen "Philoktet" (in:

Dem Band "Mythen in nachmythischer Zeit. Die Antike in der deutschsprachigen Literatur der Gegenwart") die Interdependenz von Politik und Körper pointiert und deutlich gemacht, wie Müllers 'Arbeit am Mythos' als 'Arbeit an der Differenz' funktioniert: Ein erster Aspekt rekurriert auf die 'Naturhaftigkeit' des Helden, der "aus der Geschichte ausgestoßen ist" und "ikonisch als Inkarnation des Schmerzes" erscheint, was bereits bei der Lektüre des Sophokleischen Stücks deutlich wird. Auch Müller akzentuiert das massive körperliche Leiden des im doppelten Sinne verletzten Philoktet, des von den Griechen als 'unverträglich' auf der Insel Ausgesetzten, dessen physische Qualen in aller Deutlichkeit auch szenisch vorgeführt werden. Der zweite wichtige Aspekt des Textes, das mythisch Theriomorphe, durchzieht ebenfalls das ganze Drama bis in die Schlussszene hinein. Philoktet ist während seiner Inselexistenz den Geiern ausgeliefert; selbst nach seiner Tötung sammelt sich "das Volk der Geier" zur "letzten Arbeit" am Körper des Toten. Schließlich deutet Wilfried Barner die Körperlichkeit und das physische Leiden des Philoktet als zentrale Momente für Heiner Müllers Menschen- und Theaterverständnis: "Von Eiter, stinkender Wunde und von Gebrüll ist die Rede, Philoktet ist leidender, verwundeter Körper. Das bildet seine Identität". Konzediert man die Nähe Müllers zu Euripides und Artaud, dann wird deutlich, dass seinem 'Theater der Grausamkeit' nach Barner "alles 'humanistisch' Bemühte [fehlt], aber auch sich explizierender 'antihumanistischer' Affekt im Umgang mit dem Stück des 'Klassikers' Sophokles - außer der Entschlossenheit, den klassischen Text als 'Material' zu nutzen".

Heiner Müller selbst hat in einem Gespräch mit Ulrich Dietzel aus dem Jahr 1985 seinen Ansatz zur Um-Schrift des Sophokles folgendermaßen erläutert: "Es war eigentlich nicht die Wiederkehr des Gleichen, sondern unter ganz anderen Umständen die Wiederkehr des Gleichen und dadurch auch die Wiederkehr des Gleichen als ein Anderes. Das wäre eine Differenz. Mein Interesse an der Wiederkehr des Gleichen ist ein Interesse an der Sprengung des Kontinuums, auch an Literatur als Sprengsatz und Potential von Revolution". Dementsprechend mobilisiert Müller in seinen Dramen gegen die Ästhetik des Vergessens, die er zeitweise polemisch der Postmoderne unterschob, immer wieder das Gedächtnis des (schmerzenden, stinkenden, ekelhaften) Körpers. Auf diese Weise sollte ein Verständnis von Theater vermittelt werden, das keine Denkresultate formuliert, sondern in seiner Performativität erfahrbar wird, indem es Denkprozesse eröffnet, die unabschließbar sind.

Titelbild

Bernd Seidensticker / Martin Vöhl (Hg.): Mythen in nachmythischer Zeit. Die Antike in der deutschsprachigen Literatur der Gegenwart.
De Gruyter, München 2002.
378 Seiten, 34,95 EUR.
ISBN-10: 3110168693

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Titelbild

Heiner Müller: Die Stücke 4. Bearbeitungen, Hörspiele, Szenen. Werke. Band 6.
Herausgegeben von Frank Hörnigk.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2003.
561 Seiten, 27,80 EUR.
ISBN-10: 3518408984

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