Vom mittelalterlichen Zorn zur modernen Verlegenheit

Über "Fehltritt", Schamgefühl und "Manieren"

Von Alexandra PontzenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexandra Pontzen und Robert MöllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Robert Möller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Fehltritt" bezeichnet heute, laut Euphemismus-Datenbank, in beschönigender Weise eine "Straftat". Der "Königliche Fehltritt" (Prinz Harry "schockt" im Nazi-Kostüm) oder der "'Fremdarbeiter'-Fehltritt" (Oskar Lafontaine vergreift sich "im Ton") legen allerdings nahe, dass als "Fehltritt" firmiert, was nicht eindeutig als Gesetzesverstoß zu ahnden ist, sondern als Verletzung des guten Geschmacks und/oder der 'political correctness'. So sprechen Politiker von "Fehlern" und "Versehen", wo eigentlich "Vergehen" gemeint sind, und Ex-Staatssekretär Holger Pfahls findet es im nachhinein "peinlich", Schmiergeld in Millionenhöhe angenommen zu haben - "peinlich", nicht etwa illegal, schändlich oder niederträchtig.

Verharmlosung, Verschleierung, Verlagerung des (moralisch) Verwerflichen zum (gesellschaftlich) Anstößigen: "Fehltritt"- und "Peinlichkeits"-Rhetorik operieren in einer Sphäre, die zwar von (höheren) moralischen Bezugssystemen grundiert sein mag, ihre Maßstäbe aber an sehr diesseitigen Regeln des sozialen Umgangs und Auftretens ausrichtet. 'Schöner Schein', 'äußerer Eindruck' und die abzugebende 'gute Figur' sind hier die ausschlaggebenden Instanzen, sie überlagern jene der Moral oder des "Gewissens".

Eben diese Überschneidung von böse, falsch, unschön oder schlicht sozial unangemessen (und peinlich) lässt den "Fehltritt" als Terminus wie als Phänomen oszillieren. Das illustriert seine Verwendung als Euphemismus wie als Metapher etwa für den Ehebruch (der Frau), letzteres übrigens mit sehr langfristigem Erfolg.

Die Gegenwart nutzt die Grauzone von ethischem und (gesellschafts-) ästhetischem Diskurs. Für Epochen wie die 'Vormoderne', in der moralische, soziale und innerpsychische Normen eng verwoben waren, gilt die Überblendung beider Kategorien gar als konstitutiv - ein Grund für Historiker, Literaturwissenschaftler und Soziologen unter der Ägide von Peter von Moos, dem ehemaligen Leiter des Seminars für Mittellateinische Philologie an der Universität Münster, sich den Phänomenen und Diskursen des Regelverstoßes in Mittelalter und Früher Neuzeit zuzuwenden.

Das Interesse gilt dabei vor allem dem "Fehltritt" als der "unabsichtlichen Fehlanwendung einer grundsätzlich akzeptierten und bekannten Regel eines gruppeninternen Codes durch ein zugehöriges Individuum", in der "rituellen Entgleisung". Als "Rituale" werden die "Geltungsquellen eines durch gemeinsame Wiederholung stabilisierten Alltagsverhaltens" verstanden, "deren Code sich durch Erklärungsunbedürftigkeit auszeichnet, weil sie Normalität beanspruchen." Der Rekurs auf den zumindest explizit wertneutralen Normalitäts-Begriff, der mit Clifford Geertz als sich-selbst-erklärend gesetzt wird, erlaubt es, Handlungen und Ereignisse in den Blick zu nehmen, die gegen Regeln unterschiedlichster Provenienz verstoßen, denen indes ihre 'Selbstverständlichkeit' gemeinsam ist. Da es zu deren Implikationen gehört, im allgemeinen weder kodifiziert noch thematisiert zu werden, verspricht die Beschäftigung mit den Überschreitungen auch die "Rekonstruktion unsichtbarer Systeme aus sichtbaren Störungen".

Das sind große Worte, und dass der Band sie eher als (fernen) Horizont denn als Realanspruch verstanden wissen will, entspricht dem sympathischen Verhältnis von grundsätzlicher Neugier und Argumentation mit Augenmaß, das Gesamtkonzept und Einzelbeiträge gleichermaßen auszeichnet; auch das ein Reflex auf die Werkstattgespräche unter dem Motto "weite Thematik - enge Fragstellung", aus denen das Buch hervorgegangen ist.

Der "Fehltritt" interessiert deshalb als Konflikt zwischen individuellem Fehlhandeln und überindividueller Ordnung. In ihm aktualisiere sich das Spannungsverhältnis "von Unbedachtsamkeit und mehr oder weniger gravierender, jedenfalls mit dem geringfügigen Anlaß inkommensurabler Folgelast."

Weil gebunden an die Sphäre repräsentativer Öffentlichkeit gehöre das Phänomen eigentlich der höfischen Gesellschaft der frühen Neuzeit an, doch stelle sich die Frage, "ob die Sache nicht älter sei: ein unbeabsichtigter Verstoß gegen sakrosankte (meist unkodifizierte) Regeln, ein kleiner Lapsus, der die eigene Ehre und das (meist elitäre) gemeinschaftliche Selbstverständnis der Umwelt gefährdet." Verstanden als "Lapsus" gehöre der Fehltritt, freilich avant la lettre, denn der Terminus als solcher ist jüngeren Datums, eher in den "sozialen Ehre- als in den religiösen Sündendiskurs" des volkssprachlichen Mittelalters. Als bloß kurzfristige soziale Kompetenzschwäche unterscheide sich der Fehltritt nämlich vom dauerhaften Kompetenzverlust ebenso wie vom schuldhaften Regelverstoß der Sünde oder des Vergehens, und er wecke beim Fehlenden Gefühle der Verlegenheit, Peinlichkeit und Scham (und eben nicht Gefühle der Schuld).

In der Tat zeigen die Definitionsmerkmale, die von Moos für den Fehltritt im engeren Sinne anführt - Unabsichtlichkeit und Geringfügigkeit einer individuellen Handlung, die innerhalb einer kommunikativen Situation gegen eine ungeschriebene, allseits akzeptierte Verhaltensregel verstößt und den Interaktionspartnern als unangenehm oder kränkend, dem Akteur als beschämend oder rufgefährdend erscheint -, auffallende Übereinstimmung mit denen, die der heutigen Emotionspsychologie zur Bestimmung des Gefühls der Peinlichkeit dienen:

Diese schmerzliche, das Selbstwertgefühl in Frage stellende "Übertretungsemotion" (Roos) setzt kurzfristig ein, wenn unwillkürlich kulturelle Standards und Erwartungen verletzt oder nicht erfüllt werden, und bleibt an die konkrete Auslösersituation gebunden, in der sie sich zudem auf die unbeteiligten Zeugen ausdehnt.

Das Kriterium der Absichts- respektive Schuldlosigkeit und die Ungreifbarkeit des normativen Systems, gegen das verstoßen wird, gelten dem psychologisch-soziologischen Diskurs als wesentliche Voraussetzung zur Entstehung von Peinlichkeit und dienen zu deren Abgrenzung von Gefühlen der Schuld und Scham, die auf die "moralische Integrität der Person" referieren, deren normatives Selbstbild betreffen und ausschließlich auf die Verletzung solcher konventionellen Normen reagieren, die wertgebunden und evaluativ sind. Peinlichkeit hingegen reagiere auf die Verletzung konventioneller Normen ohne solche Füllung, habe ihren Bezugspunkt in der "performativen Identität" des Subjekts und beschädige dessen situative Fremddarstellung (Neckel).

Insofern scheint es naheliegend, wenn von Moos und mehrere der Beiträger Peinlichkeit implizit als emotionspsychologisches Korrelat zum "Ereignis und anthropologischen Diskursgegenstand des Fehltritts" begreifen. Das heuristische Verfahren erscheint hier analog zu der im Vorwort beschriebenen Tradition, seit dem Römischen Recht unentwegt das Erröten als untechnischen Indizienbeweis zu werten und als "Lügendetektor des Fehltritts, ja oft selbst [als] eine Art von Fehltritt" einzusetzen.

Die Suche der Autoren nach "Fehltritten" in der mittelalterlichen Literatur geht deswegen einher mit der nach peinlichen Situationen. Das überzeugt - es wird aber umso problematischer, je literarisch konkreter es wird. Denn während die Autoren des Sammelbands "Fehltritt" als durchaus "intendierten heuristischen Anachronismus" verwenden (und so auch produktiv nutzen und reflektieren), scheint ihnen "Peinlichkeit" als Begriff und Konzept eher zu unterlaufen. Und so öffnet sich die Schere zwischen der Beschreibung von literarischen Situationen, die, wie es scheint, schlüssig von den Autoren als "peinlich" charakterisiert werden, und der poetisch-literarischen Gestaltung und Wirkung dieser Texte, die nicht zufällig beim heutigen Leser eigentlich keine Peinlichkeit aufkommen lassen. Gerade darin liegt ein Erkenntnisgewinn des "Fehltritt"-Bandes, den dieser allerdings gar nicht aufgreift oder eigens analysiert. Deshalb seien zentrale Textzeugen etwas eingehender betrachtet:

Die Etikettierung als "peinlich" erscheint zunächst angesichts der referierten Situationen unmittelbar passend. In Kurzerzählungen des Strickers und anderer Autoren des 13. bis 15. Jhs. (Beitrag von R. Schnell) geht es etwa um einen schwitzenden Ritter, dem in einem Überschwang gastgeberischer Höflichkeit und gegen seinen erbitterten Widerstand der Überrock abgenommen wird - mit überraschendem Ergebnis:

Dâ wart der gast beroubet / durch die grôzen minne / der êren und der sinne: /er saz, dô er wart âne roc, / als ein beschelter stoc - / âne bruoch und âne hemede, /diu wâren im beidiu vremede. ("Der nackte Ritter" (64-70): Dieser große Liebesdienst raubte dem Gast Ehre und Verstand: Ohne Überrock saß er da wie ein geschälter Stock - ohne Unterhose und ohne Untergewand, denn beide fehlten ihm.)

Es geht anderenorts um einen Boten, der (vermeintlich situationsangemessen) ohne Kleidung ein fremdes Badehaus betritt, in dem aber die gesamte Familie einschließlich der Damen bekleidet zusammensitzt ("Der nackte Bote"), oder um einen Ritter beim Tanz, der seinen Knappen anweist, sein verrutschtes Unterkleid zurechtzurücken, durch dessen Ungeschick aber ganz entblößt dasteht ("Der Ritter im Hemd"). Die Beschreibung der versehentlichen und unpassenden Entblößung - Inbegriff der peinlichen Situation - liefert jeweils Mittelpunkt und Erzählanlass der Texte. In dieser Fokussierung sind die Geschichten nach heutigem Verständnis so zweifellos unter "Peinlichkeit" zu verbuchen, dass die Frage der historischen Angemessenheit dieses Begriffs sich gar nicht zu stellen scheint - anders als beim "Fehltritt", der, wie gesagt, als Anachronismus ja bewusst gewählt ist.

Auch die charakteristischen Reaktionen der Übertretenden, die sich ihres Fehltritts bewusst werden, scheinen zeitlos. Sie stimmen mit den (seit Darwin) von Biologen und Psychologen dokumentierten psycho-physischen Reaktionen überein: Fluchtwunsch, das Gefühl sozialen Vernichtetseins und vor allem der unkontrollierbare vegetative Reflex des Errötens, der im Mittelhochdeutschen wie vorher schon im Lateinischen stellvertretend und gleichbedeutend für das Schämen selbst stehen kann (erubesco - nach Yeandle (2001) das häufigste lateinische Äquivalent für althochddeutsch scamên). Diese Kennzeichen teilen Scham und Peinlichkeit freilich.

Das Mittelhochdeutsche kannte denn auch die sprachliche Differenzierung beider Gefühle noch nicht. Es kannte jedoch ein breites Spektrum von Spielarten der schame. David N. Yeandle hat in seiner Monographie zu schame (2001) die Entfaltung eines ethischen, verinnerlichten schame-Begriffs im Sinne einer verhaltenssteuernden Tugend festgestellt, eine zunehmende Bedeutung der "positiven vorausblickenden Eigenscham" insbesondere im Werk Wolframs von Eschenbach und im Anschluss daran. Peinlichkeit als Reaktion auf die Beschädigung der Fremddarstellung durch einen unvorhergesehenen Vorfall, ohne ethische Dimension, wäre am gegenüberliegenden Pol zu verorten und müsste zu dem gehören, was in Yeandles Klassifikation unter "zurückblickender negativer Fremdscham" firmiert. Schon Yeandles Belege für diese Kategorie stellen aber eigentlich nie wirkliche Beispiele für die Darstellung von "Peinlichkeit" dar. Zunächst einmal sind die entsprechenden Normverstöße nicht "geringfügig" genug. Dieses Definitionskriterium wird allerdings auch im "Fehltritt"-Band von zwei Beiträgern in Frage gestellt: J. D. Müller betont in seiner Untersuchung der "Kleinen Katastrophen" bei Neidhart von Reuental das Gewicht von scheinbar Banalem bzw. die Unanwendbarkeit moderner Werthierarchien auf den höfischen Verhaltenskodex; R. Schnell ist der Ansicht, dass in bestimmten Konstellationen in der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Mären-Literatur umgekehrt auch Ehebruch als Fauxpas statt als schwerwiegendes moralisches Fehlverhalten gewertet wird.

Für die Anwendbarkeit des Begriffs "Peinlichkeit" ist das Missverhältnis zwischen Nichtigkeit des Anlasses und sozialen Folgen jedoch unabdingbar.

Darüber hinaus impliziert Peinlichkeit, dass das Leiden unter der peinlichen Situation allen Anwesenden gemeinsam ist, auch eventuellen "Opfern" des Fehltritts und unbeteiligten Zeugen. Dies jedoch, das empathische Peinlich-Berührt-Sein der eigentlich Unbetroffenen, fehlt in den mittelalterlichen Textbeispielen. Das gilt auch für die von Yeandle versammelten Belege für das mittelhochdeutsche schame: Dort schämt sich in der Regel nur einer, nämlich derjenige, dem - schuldhaft oder unverschuldet - Ehrverlust widerfährt (und selbst bei dem, was Yeandle "Identifikationsscham" nennt, geht es allenfalls um eine äußerlich vorgegebene Identifikation mit Angehörigen, und nicht um eine durch den schamauslösenden Vorfall erst erzeugte Empathie). Dasselbe gilt in den hier und im Beitrag von Schnell präsentierten Fällen, die nicht das subjektive (oder zumindest individuell verschieden stark ausgeprägte) Gefühl der schame, sondern das objektive Faktum der unbeabsichtigten Normverletzung eint: In der literarischen Gestaltung dieser Szenen kommt das für Peinlichkeit konstitutive Phänomen der emotionalen Involvierung des reinen Beobachters nicht vor. Auch der heutige Leser empfindet bei der Lektüre keine Peinlichkeit, weil die fiktiven Zeugen im Text dies nicht tun und weil die literarästhetische Präsentation nicht auf die Evokation dieses Gefühls abzielt.

Der wohlmeinende Gastgeber, der seinem Gast den Überrock und damit, wie sich herausstellt, die gesamte Kleidung abnimmt, ist zwar ebenso entsetzt wie der Entblößte, aber nicht als Zeuge, sondern als Urheber dieser Situation; interessanterweise wird die Frage, wer anschließend wem für immer böse ist und ob die vom Erzähler aus dem Vorfall gezogene Lehre auf den übereifrigen Gastgeber oder eigentlich eher auf den blenderischen (?) Gast gemünzt ist, von der Forschung verschieden beantwortet. Der Text ist hier nicht ganz eindeutig, es spricht aber doch einiges für die erstere Version, nach der der Übereifrige sich ein Fehlverhalten hat zuschulden kommen lassen. Der Schreck der anwesenden Töchter des Hausherrn rührt dagegen nicht vom Mitgefühl mit dem im wörtlichen Sinne Bloßgestellten her, sondern von dem erlittenen Anblick eines nackten Mannes.

Wenn die Reaktion wirklich unbeteiligter Zeugen überhaupt vorkommt, dann markiert sie nicht unwillkürliche Involviertheit in eine "peinliche" Situation, sondern das Sich-Identifizieren mit der verletzten Norm und die daraus abgeleitete Ausgrenzung des "Normverletzers". Die Mittänzerinnen des Ritters mit der verrutschten Unterwäsche reagieren mit Gelächter, so dass ununterscheidbar bleibt, ob der Ausschluss aus der Gesellschaft - in ganzer Härte: der Entblößte geht, vielleicht für immer, außer Landes - sich für ihn bereits zwangsläufig aus dem Vorfall selbst ergibt oder erst aus der anschließenden öffentlichen Verspottung.

Spott, nicht Peinlichkeit, droht übrigens mittelalterlichen Tischzuchten zufolge auch demjenigen, der sich daneben benimmt, indem er z.B. bei Tisch das Brot falsch schneidet.

Die andere mögliche Reaktion auf Normverletzung in den mittelhochdeutschen Texten ist Wut. Die Frage, ob ein normwidriges Verhalten zu verlachen oder als - nicht für den Agierenden, sondern für die Zugegenen! - ehrverletzende Provokation zu ahnden ist, stellt offensichtlich ein wichtiges Problem des mittelalterlichen Umgangs mit derartigen Vorfällen dar. Erst die "städtisch-höfische Pazifizierung der Adelsgesellschaft [im 17. Jh.] durch das Distinktionskriterium umfassender Affektkontrolle [...], das sowohl Aggressionsverzicht als auch Aggressionstoleranz verlangt und sogar den bloßen Verdacht indirekter Beleidigung als hinterwäldlerisch stigmatisiert", entbindet den eventuell Beleidigten vom kriegerischen Ehrenkodex, unbedingt "Ehrverletzungen, und seien sie noch so verkappt und zweideutig, als solche wahrzunehmen und sichtbar zu vergelten" (v. Moos).

Als wesentliches Unterscheidungskriterium führt die Erzählung vom "nackten Boten" in didaktischer Ausführlichkeit die Unabsichtlichkeit der Handlung vor: Im Zentrum steht hier eigentlich nicht die "Peinlichkeit", dass der Knappe - nach einer relativ aufwendig konstruierten Verkettung von Missverständnissen und Zufällen - nackt und obendrein rückwärts in einen Raum eintritt, in dem sich fremde bekleidete Damen befinden, sondern die Aufklärung des vermeintlichen Affronts als unabsichtlichen Fauxpas. Sie gelingt in letzter Minute, bewahrt vor heftiger Vergeltung und führt zur sofortigen Beilegung des Konflikts:

sit iz dar umbe ist getan, / so wil ich iwer friunt wesen. / ir sult wol vor mir genesen. / ez was min angest und min wan /ez wære zelaster mir getan. ("Der nackte Bote" 198-202. Wenn das der Grund war, will ich Euer Freund sein und Euch nichts tun. Ich befürchtete, es wäre geschehen, um mich in meiner Ehre zu kränken.)

Es ist insofern überzeugend, wenn nach Schnells Analyse der "Literarischen Spielregeln für die Inszenierung und Wertung von Fehltritten" in den Mären Absichtslosigkeit sowie die Einsicht, dass jedem ein solcher Fehltritt unterlaufen kann, zu den wesentlichen Kriterien für die Wertung eines Fehltritts als lässlich (d. h.: lächerlich) gehören. Die zentrale, pragmatische Handlungsmaxime lautet nach Schnell grundsätzlich, wie am besten Ansehensverlust für Zeugen/Opfer des Fehltritts vermieden werden kann. Die "dialektische Distribuierung von Lächerlichkeit und Provokation" (Schnell), die sich übrigens auch in der höfischen Literatur findet (vgl. den Beitrag von W. Röcke zur Rolle von Keie, dem "enfant terrible" der Artusrunde), bedeutet dabei, dass in jedem Fall genau eine Seite von Ehrverlust betroffen ist: entweder die Adressaten einer absichtlichen Provokation oder der Urheber einer versehentlichen Normverletzung, der gerade im Falle der absichts-, also schuldlosen Übertretung sein Ansehen verliert. Dass Letzteres auch für moderne Peinlichkeit noch gilt, zeigt (einmal mehr), dass die "Ununterscheidbarkeit von Schuld und Versehen" (v. Moos) des mittelalterlichen Ehrenkodex nicht gänzlich überholt ist. Wenn die öffentliche Dokumentation des Ansehensverlustes und der Distanzierung vom "Täter" durch Verlachen sich in eine emotionale Involvierung in die peinliche Situation verwandelt hat, so bleibt der Ansehensverlust als solcher doch unverändert und einseitig.

Die Absichtslosigkeit des Fehlverhaltens, die unabdingbar zur dadurch ausgelösten Peinlichkeit gehört, ist jedenfalls in der mittelalterlichen Literatur schon im Blickfeld - aber gerade darin, dass es noch nötig scheint, sie ausgiebig zu thematisieren, zeigt sich ein grundlegender Unterschied zwischen der literarischen Gestaltung von "Fehltritten" in der mittelalterlichen Literatur und der späteren Darstellung von echter Peinlichkeit. Letztere setzt nicht nur die Selbstverständlichkeit der verletzten Norm für alle Anwesenden voraus, was in der aristokratischen Gesellschaft des Mittelalters vielleicht schon gegeben war, allerdings nur dort, wie sich in der didaktischen Literatur zeigt: "Daß gerade im stadtbürgerlichen Milieu die aristokratische Distinktionssemantik gepflegt, ja explizit kodifiziert wurde, zeigt eine Orientierungsunsicherheit gegenüber ungeschriebenen Konventionsgesetzen" (v. Moos). Peinlichkeit verlangt darüber hinaus, dass die Norm allgemein derart internalisiert ist, dass es undenkbar scheint, sie aus Unwissen oder Absicht zu verletzen und somit Konsens darin herrscht, einen abweichenden Vorfall fraglos als versehentlich und beschämend für den Urheber einzustufen. Das Mitleiden der Unbetroffenen rührt auch aus der unerbittlichen Zwangsläufigkeit dieses Vorgangs.

Von Moos erklärt die Ablösung von Spott oder Zorn durch Betretenheit bei den Zeugen moderner Fehltritt-Situationen - also eigentlich die Herausbildung der Peinlichkeit - als reine Abschwächung der Sanktion; sie gründe in der geringeren Verbindlichkeit heutiger Normen: "Je formeller eine Gesellschaft ritualisiert ist, desto seltener, aber auch unerhörter und verurteilungswürdiger der Fehltritt; je informeller man zusammenlebt, desto alltäglicher und darum auch verzeihlicher wird er." Es fragt sich, ob nicht eher, in der Argumentationslinie von Norbert Elias, die innere Vorwegnahme der Sanktion durch den "Täter" in Laufe des Zivilisationsprozesses selbstverständlicher geworden ist und die explizite Sanktion ersetzt, und zwar so sehr, dass sogar das beredte Hinwegsehen über einen peinlichen Vorfall, als besonders typisches und die Selbstverständlichkeit der verletzten Regel betonendes Reaktionsmuster, für den Urheber des Vorfalls schmerzlicher sein kann als Spott oder Zurechtweisung.

Über einen peinlichen Vorfall hinwegzusehen bezeugt indes zwar hohe Sozialkompetenz, aber weniger im Sinne eines erfolgreich erworbenen Regel-Wissens denn als Ausweis von (guten) Manieren. Und "Manieren" sind, so Prinz Asfa-Wossen Asserate, Autor des gleichnamigen Erfolgstitels aus dem Jahr 2003, "der ästhetische Ausdruck der Moral", "das Gewand, in das die Ehre sich auf ihrem Weg durch die Welt kleidet". Nicht nur der Ehrbegriff rekurriert auf ein heute kaum noch geläufiges Konzept eines 'Ansehens', das sowohl äußerlich als auch innerpsychisch das Subjekt als moralisch und sozial integer konstituiert. In diesem historischen und idealtypischen Sinne seien die beiden Grundkomponenten der europäischen Manieren "Anmut und Demut" - also eine Allianz von ästhetischen und ethischen Werten. Zur Anmut gehörten die scheinbare Absichtslosigkeit und die Ungezwungenheit des Verhaltens. Sie habe zur Voraussetzung, dass "die Manieren den Körper vollkommen unter ihre schon gar nicht mehr spürbare Kontrolle genommen haben". Wo diese Kontrolle versage, komme es zu einem "Malheur", und ein "offener Hosenlatz im Salon, ein Loch in der Jacke, eine geplatzte Naht, alles irgendwie Körperliche" gemahnten unfreiwillig "an die animalischen Aspekte der Körperlichkeit". Der Ausdruck "Malheur" bezeichnet in der besseren Gesellschaft des modernen Europas jene "letztlich unschuldigen Bekundungen der natürlichen Existenz des Menschen", die man auch als "Fauxpas" einstufen könnte, schwächt aber den Handlungsaspekt zugunsten des Ereignishaften ab: Während der "Fauxpas" begangen wird, "passiert" das "Malheur". Das Malheur aber wird heute weder als Provokation empfunden noch als handfestes Vergehen, es bedroht vielmehr als "demontierende Peinlichkeit", und zwar vor allem das bürgerliche Selbstbewusstsein.

Die Peinlichkeits-Fixierung der bürgerlichen Gesellschaft gehört zu den zentralen Thesen des aus dem äthiopischen Kaiserhaus stammenden Prinzen Asserate. Kulturvergleich, Vertrautheit mit den großen Werken der zentraleuropäischen Schönen Literatur, historische Aperçus und eigene Beobachtungen in der besseren Gesellschaft legen für den Autor den Schluss nahe, es sei vor allem die "bürgerliche Fraktion, die mit einer gewissen Lüsternheit auf alles irgendwie Peinliche starrt".

Dazu trügen die von dieser Gesellschaftsschicht zu nehmenden kommerziellen Rücksichten ebenso bei wie Statusunsicherheit und Verlustangst des Aufsteigers: "Die Angst vor dem Malheur, der demontierenden Peinlichkeit war etwas Bürgerliches. Bürgerliche Würde und Feierlichkeit schien offenbar gefährdeter als die der Aristokraten." - Die Angst, unangenehm aufzufallen, verleite dazu, Manieren als (lernbare) Lektion auf dem Weg zur sozialen Mimikry zwecks Selbstschutz misszuverstehen und sie verleite die nivellierte und deshalb verunsicherte Mittelklassegesellschaft, Manieren als Katalog subtiler Sozialmarker zu missbrauchen, um diejenigen auszugrenzen, die sie nicht beherrschen. Asserate betrachtet diese Pseudo-Bildung naturgemäß als eine vulgäre Ungezogenheit, die dazu herausfordere, durch dialektischen Umgang mit dem 'guten Ton' zu kontern - eine Art "Hase-und-Igel"-Wettbewerb um die Definitionsmacht des Komments:

"Inzwischen gibt es so viele wirklich vulgäre Menschen, die wissen, dass es spießig ist, 'Guten Appetit' zu sagen, und die sich triumphierend und höhnisch ansehen, wenn dieser Wunsch in ihrer Gegenwart fällt, weil sie dies Wissen als Quintessenz ihres Aufstiegs in höhere Sphären ansehen, dass man geradezu darüber nachdenken müsste, das kuriose 'Guten Appetit' als Abgrenzung gegenüber der falschen Eleganz wieder einzuführen." Je nach Bildungsgrad mag der geneigte Leser nunmehr entscheiden, ob er sich den Ausspruch ab- oder angewöhnt oder ob er ihn schlicht beibehält, dann allerdings als sentimentalischen Reflex.

Die Beispiele dafür, dass vulgäre Menschen Manieren zum sozialen Distinktionsmerkmal reduzieren und sie missbrauchen, um "sich einen interessanten Auftritt zu verschaffen und anderen Menschen Peinlichkeiten zu bereiten", sind zahlreich. Sie bemerkt zu haben, weist den Autor als sensiblen Zeitgenossen aus und attestiert ihm Glaubwürdigkeit, wenn er Manieren gerade nicht als "zu erlernende Formsache", sondern als Ausdruck einer seelischen Disposition verstanden wissen will. Das ist tröstlich in einer Zeit, in der die soziale Verbindlichkeit von Regeln sich verflüchtigt bzw. sich in ihrer Relevanz für immer kleinere Kreise diversifiziert (hier stimmen Asserate und von Moos überein), und sich die Frage stellt: "Wie bleibt man sich treu in Zeiten ohne verbindliches Regelwerk?"

Die Antwort, so bescheidet Asserate, "wird man keinem Buch der Welt entnehmen können." Spätestens mit diesem Schluss entzieht der Autor sein Werk dem Verdacht, eines jener Anstandsbücher zu sein, aus dem die Mittelklassegesellschaft hofft, das richtige Benehmen erlernen zu können. Gleichwohl enthält das Buch vielerlei konkret Hilfreiches, auch wenn zentrale Themen dem gehobenen gesellschaftlichen Leben entnommen sind und nicht sehr viele Leser in die Situation kommen werden, sich aktiv handelnd mit ihren Lesefrüchten zu schmücken. Anwenden lassen sie sich gleichwohl - und sei es bei der Einschätzung historischer oder literarischer Situationen realer oder vermeintlicher Regelverstöße und Peinlichkeiten.

Die Lektion für das gute, und das heißt bei Asserate immer auch 'schöne', Benehmen im Alltag, ist indes eindeutig: "Was anderen peinlich sein könnte, wird auf dezidierte Weise nicht wahrgenommen."


Titelbild

Peter von Moos (Hg.): Der Fehltritt. Vergehen und Versehen in der Vormoderne.
Böhlau Verlag, Köln 2001.
468 Seiten, 55,50 EUR.
ISBN-10: 3412061018

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Titelbild

David N. Yeandle: Schame im Alt- und Mittelhochdeutschen bis um 1210. Eine sprach- und literaturgeschichtliche Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung der Herausbildung einer ethischen Bedeutung.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2001.
264 Seiten, 46,00 EUR.
ISBN-10: 3825311503

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Asfa Wossen Asserate: Manieren.
Eichborn Verlag, Frankfurt a. M. 2003.
388 Seiten, 27,50 EUR.
ISBN-10: 3821845392

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