Der offene Brief

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zum ersten Mal wird hier der Offene Brief umfassend untersucht, eine bislang von der Literatur-, Politik- und Geschichtswissenschaft wenig beachtete, gleichwohl traditionsreiche und ebenso häufig wie virtuos genutzte Form publizistischen und literarisch engagierten Schreibens. Das kann verwundern, gehören doch einzelne Texte, allen voran Emile Zolas "J'Accuse" (1898) und Thomas Manns Brief an den Dekan der philosophischen Fakultät der Universität Bonn (1937), zu den folgenreichsten und berühmtesten der Literaturgeschichte. Ob Isokrates, Sallust, Dante, Petrarca, Luther, Kuhlmann, Mendelssohn, Lavater, Heine, die Gebrüder Hart, Klabund, Thomas, Heinrich und Klaus Mann, Benn, Feuchtwanger, Brecht, Schnurre, Seghers, Kant, Adorno, Hochhuth, Böll, Rühmkorf oder Grass - kaum ein Autor verzichtete auf diese Möglichkeit, öffentlich Konflikte, Themen oder Ereignisse zu personalisieren, und das, obwohl sehr oft intendierte Wirkungen ausblieben, unerwartete oder gar unerwünschte eintraten.

Um die Gründe für ihre Beliebtheit sowie Bedeutung und Spezifika der literarischen Form sichtbar zu machen, wird sie systematisch und historisch mit Hilfe von produktions-, rezeptions- und textästhetischen Kriterien untersucht, um für die Nutzung des Offenen Briefes als Quelle verschiedener Wissenschaften ein tragfähiges Fundament zu legen.

Die Gattungsgeschichte wird dabei nicht vom "Strukturwandel der Öffentlichkeit", die literaturgeschichtliche nicht von der politischen Entwicklung und der Autor als Person nicht von der Stellung des Schriftstellers in der Gesellschaft getrennt betrachtet. Vielmehr versteht sich dieses Buch auch als ein Beitrag zu integrierter und interdisziplinärer Erforschung des wechselvollen Verhältnisses von staatlicher und schriftstellerischer Macht, von Intellektuellen, Gesellschaft und Staat im Brennpunkt eines literarischen Genres.

Dem einleitenden Teil mit Arbeitsdefinition und Matrix folgt eine exemplarische Analyse des Offenen Briefes von Isokrates an Philipp von Makedonien, der als Prototyp gelten kann. Ihm schließen sich zehn historische Kapitel an, die sich jeweils eingangs mit dem soziopolitischen Umfeld, vor allem aber mit der Öffentlichkeit beschäftigen, um dann die Ausprägung epistolarer Publizistik allgemein und des Offenen Briefes im besonderen vorzustellen. Der Schwerpunkt der Studie liegt auf politischen Offenen Briefen von Schriftstellern in Deutschland seit der Reformation. Folgenreiche und gattungsgeschichtlich wichtige fremdsprachige Schreiben und solche von Nichtschriftstellern werden ebenfalls berücksichtigt.

Die Behandlung von über 350 Texten zeigt deutlich, daß der Variantenreichtum der Form wesentlich größer ist als angenommen, denn neben Anklage und Appell, die man bislang hautpsächlich mit ihr konnotierte, tritt mindestens ebenso bedeutsam Information, Bekenntnis und Werbung als Wirkungsabsicht.

Rolf-Bernhard Essig

Titelbild

Rolf-Bernhard Essig: Der Offene Brief. Geschichte und Funktion einer publizistischen Form von Isokrates bis Günter Grass.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 1999.
300 Seiten, 34,80 EUR.
ISBN-10: 3826016475

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