Grausame Träume

Vier neue Hörbücher beim Lübbe Audio-Verlag nach Geschichten von Edgar Allen Poe

Von Wolfgang HaanRSS-Newsfeed neuer Artikel von Wolfgang Haan

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Aus den Lautsprechern dringt eine Geräuschkulisse ans Ohr, die an Gänsehaut erzeugende Friedhofszenen aus Horrorfilmen erinnert. Nach einigen Sekunden erklingt aus dem rechten Lautsprecher die Stimme eines Mannes, der einen Satz aus Edgar Allen Poe's Kurzgeschichte "Hopp-Frosch" flüstert. Dann wandert das Signal unterbrechungsfrei auf den linken Lautsprecher, aus dem mit einer elektronisch verzerrten Stimme der englische Originaltext vorgetragen wird.

Dies geschieht mehrmals, bis der Nachhall der folgenden Zeilen in einer an "Das Phantom der Oper" erinnernden Erkennungsmelodie untergeht: "...Die Körper hingen nur noch als eine rauchende, übel riechende Masse in ihren Ketten..."
"...The corpses swung in their chains, a fetid, blackened, hideous, and indistinguishable mass..."

Was hier auf dem Papier beim Leser vermutlich nicht unbedingt zu dem gewünschten Gruseleffekt führt, hat beim Hören mittels einer handelsüblichen Surround-Anlage oder - Kopfhörern eine ganz andere Wirkung. Die verwendeten Soundeffekte sind qualitativ sehr hochwertig und tragen, wie von guten Kino-Filmen gewöhnt, erheblich zur Spannungssteigerung bei.

Untermalt von melancholischen Violinenklängen oder zögernd anklingenden Spinettanschlägen beginnt Ulrich Pleitgen, der Sprecher des Protagonisten der mittlerweile zwölf CDs umfassenden Hörbuch-Reihe, mit einer bedrückenden, ja stellenweise Verzweiflung spiegelnden Stimme, eine kurze Zusammenfassung der bisherigen Ereignisse. Denn anders als sonstige bekannte Hörbuchfassungen sind die Geschichten von Edgar Allen Poe in eine wirklich spannende Kriminalgeschichte eingebunden, deren Tempo sich allerdings bei den nun vorliegenden Teilen 9 - 12 deutlich verlangsamt.

Unser Protagonist erwacht im ersten Teil der Erzählung in einer Anstalt für geistig Kranke, in die er nach einem Unfall eingeliefert wurde. Trotz der Bemühungen der Ärzte gelingt es nicht, ihn von seinem Gedächtnisschwund zu heilen oder an Hand der bei dem Patienten gefundenen Gegenstände seine Identität festzustellen. Nach einem Jahr wird er entlassen, nimmt den fiktiven Namen "Edgar Allen Poe" an und begibt sich auf Reisen, um Hinweise auf seine tatsächliche Identität zu finden.

Die Geschichten von Edgar Allen Poe fließen häufig als Albträume, unter denen der Protagonist seit seinem Unfall leidet, in die Rahmenhandlung ein, die sich von CD zu CD immer weiter entwickelt. Auf der CD "Hopp-Frosch" verwandelt sich der Erzähler in einen Hofnarren, der an seinem König und den Ministern grausame Rache für die Misshandlung und Demütigung seiner Freundin nimmt.

Edgar Allen Poe Kenner werden schon bei den obigen Zeilen Worten festgestellt haben, dass bereits bei den Zitaten aus "Hopp-Frosch" kleinere Änderungen vorgenommen wurden. Im Originaltext heißt es "...The eight corpses..." wohingegen Lübbe Audio die Zahl der Opfer auf vier verringert hat.

Allerdings sind diese Änderungen marginal, betrachtet man die nächste CD "Das ovale Porträt". Hier wird aus dem Schloss der Originalerzählung das Haus von Dr. Templeton, des Arztes der Heilanstalt, in das sich der Erzähler gewaltsamen Zugang verschafft. Das Porträt stellt jetzt Lucie Monahahn dar, die zu Beginn der Rahmenhandlung Selbstmord beging und deren Rolle immer noch unklar ist.

In "Der entwendete Brief" trifft Edgar Allen Poe, wieder in einem wirren Traum, auf August Dupin, der seinen ersten Auftritt bereits in der Geschichte "Mord in der Rue Morgue" hatte. Der Detektiv findet durch Kombinationsgabe einen kompromittierenden Brief einer Prinzessin an einen hohen Minister. Auch in der Rahmenhandlung geht es um einen wichtigen Brief, der verschwunden ist. Die letzte Geschichte, "Eleonora", ist wieder in einen Traum eingebettet und hält sich weitestgehend an die Originalvorlage.

Bei allen bisher zwölf veröffentlichten Geschichten gibt es Abweichungen zu den Originaltexten, die um so stärker hervortreten, desto weiter die Rahmenhandlung fortschreitet. Den Höhepunkt der Verfremdung stellt bisher die Geschichte "Das ovale Portrait" dar. Vielleicht sollte auf der CD-Rückseite hier kenntlich gemacht werden, dass es sich um "Geschichten, frei nach Edgar Allen Poe" handelt.

Die Rahmenhandlung, die bei CD acht mit einem furiosen Finale endete, dreht sich bei den vier weiteren Geschichten weitestgehend im Kreis. Es werden zwar einige bisher lose Enden geknüpft, allerdings bleibt die Identität des Protagonisten auch nach der 12. CD ungeklärt. Es bleibt abzuwarten, ob nach Abschluss der Reihe alle Rätsel gelöst sind, um hier eine endgültige Wertung abgeben zu können.

Was besonders auffällt, ist die Thematisierung des Traumes, der Traumdeutung sowie des Unbewussten, die sich wie ein roter Faden durch alle bisher veröffentlichten Titel zieht. Dies wirkt bei Geschichten, die auf Grund der erwähnten Fortbewegungs-, Informations- und Beleuchtungsmittel ca. 1800 - 1830 spielen, merkwürdig, da zu dieser Zeit die psychoanalytische Traumdeutung zu therapeutischen Zwecken noch völlig unbekannt war. Diese wurde erst im Jahre 1900 durch die Veröffentlichung von Sigmund Freuds "Die Traumdeutung" in die akademische Diskussion eingeführt.

Für sich betrachtet scheint dieser Umstand nicht allzu schwer zu wiegen und könnte der künstlerischen Freiheit zu geordnet werden. Betrachtet man jedoch die enormen Wechselwirkungen, die die geträumte Wirklichkeit auf die realen Handlungen des Protagonisten hat, so fällt dieser Kritikpunkt im Laufe von bisher zwölf Geschichten erheblich ins Gewicht, da ohne diesen Punkt die gesamte Rahmenhandlung in sich zusammenfallen würde wie ein Kartenhaus. Schade, dass hier nicht noch weitere Komponenten eine größere Rolle spielen wie z.B. die Kombination von mathematisch-analytischen Fähigkeiten mit zeitgenössischen kriminaltechnischen Verfahren. Das dies möglich wäre, beweisen die beiden Folgen "Doppelmord in der Rue Morgue" und "Der entwendete Brief".

Witzig ist der Einfall, dass sich unser gedächtnisloser Freund als Pseudonym ausgerechnet den Namen "Edgar Allen Poe" zulegt.

Alle zwölf CDs bieten auf Grund der hervorragenden technischen Umsetzung, den sehr gut besetzten Sprechern und dem sich ständig dem Geschehen anpassenden dynamischen Klassik-Soundtrack Hörgenuss von der ersten bis zur letzten Minute, den sich kein Fan von klassischen Horrorstories entgehen lassen sollte. Außerdem ist der Preis für eine sich auf diesem hohen Niveau präsentierende Reihe äußerst moderat.

Titelbild

Edgar Allan Poe: Das ovale Portrait. Audio CD.
Lübbe WortArt, Bergisch Gladbach 2005.
7,95 EUR.
ISBN-10: 3785730624

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Edgar Allan Poe: Der entwendete Brief. Audio CD.
Lübbe WortArt, Bergisch Gladbach 2005.
7,95 EUR.
ISBN-10: 3785730632

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Edgar Allan Poe: Eleonora. Audio CD.
Lübbe WortArt, Bergisch Gladbach 2005.
7,95 EUR.
ISBN-10: 3785730640

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Edgar Allan Poe: Hopp-Frosch. Audio CD.
Lübbe WortArt, Bergisch Gladbach 2005.
7,95 EUR.
ISBN-10: 3785730616

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