Bilanz philologischer Mühen

Über die Edition der Werke von Arnold Zweig, Else Lasker-Schüler und Arthur Schnitzler

Von Geret LuhrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Geret Luhr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In der DDR galt er als Klassiker, in der BRD nahm man ihn nicht ernst. Der Schriftsteller Arnold Zweig hat es schwer gehabt in den vergangenen Jahrzehnten. Zwar hat der S. Fischer Verlag seit vielen Jahren eine 17bändige Taschenbuchausgabe der Werke Zweigs in seinem Programm, gelesen aber wurde der deutsch-jüdische Autor gleichwohl nicht. Mit der auf 19 Bände angelegten "Berliner Ausgabe" hat der Aufbau Verlag sich vorgenommen, diesen Zustand zu ändern. Das bislang nur unvollständig und entstellt vorliegende Werk - so konnten in der DDR die Schriften Zweigs zum Judentum und zur Psychoanalyse nicht in ihrer ursprünglichen Form erscheinen - sollte nun insgesamt zugänglich gemacht und zugleich rehabilitiert werden.

Nach einigen der besten Romane Zweigs ("De Vriendt kehrt heim", "Das Beil von Wandsbek") und der wissenschaftsgeschichtlich interessanten "Freundschaft mit Freud" ist jetzt - verlagspolitisch eine weitere Wiedergutmachung - die lang vergessene "Bilanz der deutschen Judenheit 1933" an der Reihe gewesen. Noch unter dem Schock der Machtergreifung und der ersten Anti-Judengesetze stehend, hatte Zweig mit seinem Großessay 1934 eine "Kampfschrift" vorgelegt, die die vorangegangenen anderthalb Jahrhunderte der deutsch-jüdischen Geschichte bilanziert. Ob man in der künstlerischen und wissenschaftlichen Erfolgsgeschichte der deutsch-jüdischen Symbiose, die Zweig beschreibt, nun mit Gershom Scholem einen Mythos sehen will oder nicht: die Daten bleiben beeindruckend. Nach einer Analyse der historischen und kulturellen Lage von 1933 und der Klärung allgemeinerer Fragen das Judentum betreffend erörtert Zweig über mehr als hundert Seiten hinweg systematisch die Leistungen deutscher Juden in sämtlichen gesellschaftlichen, kulturellen und wissenschaftlichen Bereichen. Zweig verfolgt dabei das anspruchsvolle dialektische Ziel, mit der Niederlage der deutschen Juden zugleich die Niederlage der deutschen Kultur darzustellen. Ob ihm das gelungen ist, darüber läßt sich streiten. Problematische Thesen finden sich jedoch einige in dem Essay: So trägt etwa das deutsch-jüdische Bürgertum nach Zweig eine deutliche Mitverantwortung an der Machtergreifung, weil es sich vor dem Ersten Weltkrieg, als der militaristische Faschismus sich zu entwickeln begann, zu staatstragend verhalten habe. Auch hat sich Zweigs optimistische und sein Buch motivierende Hoffnung, daß die Zukunft der "menschlichen Einsicht" gehören werde, nicht bestätigt. Doch gerade in dieser Fehleinschätzung, die als eine Unterschätzung des Antisemitismus unter zahlreichen profilierten jüdischen Intellektuellen der Zeit verbreitet war, spiegelt sich die tragische Lage der deutsch-jüdischen Existenz Anfang der dreißiger Jahre wider.

Der Bedeutung, die das Buch für die Beschäftigung mit der deutsch-jüdischen Geschichte besitzt, entspricht die philologische Sorgfalt der vorliegenden Edition. Wie bei den anderen Bänden der von der Humboldt-Universität zu Berlin und der Akademie der Künste herausgegebenen Werke finden sich auch im Anhang der "Bilanz"-Schrift sämtliche Entwürfe, Notizen und ausgesonderten Kapitel sowie die Vor- und Nachworte Zweigs zu den verschiedenen Ausgaben des Buches. Der sorgfältig erstellte Kommentar enthält sinnvoll ausgewählte und für das Verständnis notwendige Textanmerkungen sowie in einem Nachwort wichtige Ausführungen zur Entstehungs-, Text- und Wirkungsgeschichte. Hier läßt sich nachlesen, welche Schwierigkeiten sich einem in den Weg stellten, wollte man im geteilten Deutschland ein Werk dieses Sujets veröffentlichen.

Für eine Edition, die nicht beansprucht, im eigentlichen Sinne "kritisch" zu sein, sind die schön gestalteten Bände der "Berliner Ausgabe" somit in jeder Hinsicht vorbildlich. Das gilt auch für das zuletzt in der Reihe erschienene Werk, für den Roman "Junge Frau von 1914" aus dem Zyklus "Der große Krieg der weißen Männer". In der ihm eigenen Mischung aus Momentanspannung und epischer Breite schildert Zweig, der 1914 selbst faschistoid zu nennende Kriegspropaganda verfaßt hatte, die ernüchternden Erlebnisse eines Soldaten im Ersten Weltkrieg und seine Liebe zu einem Mädchen aus dem deutsch-jüdischem Großbürgertum. Zweigs Anspruch, ein unermüdlicher Kämpfer um das Recht des Menschen in all seinen Lebensbezügen zu sein, beweist sich hier noch darin, daß er die Diskussion um den § 218 in seine Darstellung des Kriegsgeschehens mit einbezieht. Ohne Frage war Zweig in die Zeitgeschichte stark verstrickt. So ließe sich auch hier das Fazit ziehen: Was ihn als Denker problematisch macht, das macht ihn als Chronisten um so interessanter.

Gegenüber einer sorgfältig erstellten Studienausgabe hat es die historisch-kritische Edition meist schwer. Sie muß zwar gemeinhin keine ökonomischen Rücksichten nehmen, in den Augen der Fach- und der Leserwelt jedoch arbeitet sie häufig entweder nicht genau genug, oder sie arbeitet zu genau. Zu genau scheint man es mit der "Kritischen Ausgabe" der "Werke und Briefe" Else Lasker-Schülers gemeint zu haben. Schon dem ersten Band, der die Lyrik der Dichterin enthält, hatte die Kritik vorgeworfen, zu viele Texte doppelt wiedergegeben zu haben: als Erstdrucke, wie sie in Zeitungen und Zeitschriften erschienen waren, und als Fassungen innerhalb der Buchzyklen. Die wenigen Veränderungen, die die Gedichte von Else Lasker-Schülers Hand mit der Zeit erfuhren, hätten sich jedoch - so die gängige Meinung - ohne Erkenntnisverlust auch in einem kritischen Apparat wiedergeben lassen. Ein ähnliches Problem liegt mit dem dritten Band der Ausgabe vor, der die "Prosa 1903-1920" in sich vereinigt. Auch hier hat man sich dazu entschlossen, etwa die "Briefe und Bilder" an den Maler Franz Marc wie auch deren Buchfassung, "Der Malik", jeweils vollständig abzudrucken. Ob das notwendig war, oder ob es nicht wiederum genügt hätte, die Varianten anzuführen, mag dahingestellt bleiben. Umständlich ist jedoch auf jeden Fall, daß man nun bei der Lektüre des "Malik" stets zwischen den Anmerkungen zu zwei (nur scheinbar) verschiedenen Texten hin- und herspringen muß.

Der Verdacht, daß man mit dem vollständigen Abdruck von nahezu identischen Fassungen lediglich das ansonsten etwas dünne Material für den stattlichen Band vermehren wollte, liegt nahe. Zwar wurde der Umfang der Texte gegenüber der älteren Ausgabe von Friedhelm Kemp um einige Skizzen und essayistische Entwürfe erweitert, eine editionsphilologische Sensation oder doch einen bedeutenden literarischen Fund kann die "Prosa 1903-1920" aber nicht für sich in Anspruch nehmen. Auch die Anmerkungen könnten auf den ersten Blick Anlaß zu Kritik geben. Sie scheinen einerseits viel Überflüssiges anzuführen - wer z. B. möchte sich unbedingt darüber belehren lassen, wer "Faust" und "Mephistopheles" sind oder was ein "bengalisches Feuer" ist -, dafür aber andererseits interpretatorische Fragen, die man innerhalb des Textes nicht an einen Namen oder eine auffällige Eigenschaft knüpfen kann, offen zu lassen. Letztlich jedoch bieten die Anmerkungen, von einigen Ausnahmen abgesehen, insgesamt eine gute, wenn nicht sogar wichtige Lese- und Verständnishilfe: Ob diese allein allerdings schon den sehr hohen Preis der Ausgabe rechtfertigt, mag bezweifelt werden.

Daß jetzt eine kritisch gesicherte Textgrundlage und die Analyse der Überlieferungsträger vorliegt, bleibt dennoch zu begrüßen. Eine historisch-kritische Ausgabe nämlich ist neben der Ehrung und historischen Anerkennung, die sie einem Autor oder einer Autorin zukommen läßt, immer auch Ansporn für die Wissenschaft, mit dem mühsam aufbereiteten Material denn nun auch etwas Sinnvolles anzufangen. Und die Auseinandersetzung mit dem irritierenden Prosa-Werk, das so fernab von allen Konventionen steht, weil es seiner Verfasserin in keinem Moment gelingt, einmal ganz prosaisch von ihrem verunsicherten Ich abzusehen, ist eine wichtige Aufgabe für die Forschung zu Else Lasker-Schüler und zur Konstitution der deutsch-jüdischen Identität im Allgemeinen. Denn das verzweifelte Festhalten Else Lasker-Schülers an ihren erst ekstatischen und dann orientalisch aufgeplusterten Ich-Masken vom Peter Hille-Buch bis zum "Prinz von Theben" führt zu einem grundsätzlichen Scheitern an der Form, das einer Zeit, die diese Form mit soviel avantgardistischer Absicht wie Aufwand mühsam zu zerstören trachtete, weit voraus war.

Zu dem Aufgabenbereich der Forschung, die sich den deutsch-jüdischen Identitätsmustern annimmt, gehört zweifelsohne auch Schnitzlers Roman "Der Weg ins Freie", der unlängst in der von Heinz Ludwig Arnold herausgegebenen, achtbändigen Werkauswahl erschienen ist. Das Panorama der deutsch-jüdischen Sozialisierungsformen, das sich in dem äußerst unterhaltsamen Roman um die nicht-jüdische Perspektivfigur Georg von Wergenthin herum entfaltet, ist längst ein verbreiteter Gegenstand des wissenschaftlichen Nachdenkens. Die eigentlich Leistung Schnitzlers jedoch scheint noch nicht hinreichend gewürdigt worden zu sein: Die Tatsache, daß sein gesellschaftspsychologischer Scharfsinn es ihm offenbar verboten hat, für sein Tableau eindimensionale Typen zu konzipieren. Entsprechend der Mach'schen Ich-Psychologie nämlich lösen die deutsch-jüdischen Identitätsmuster der einzelnen Figuren sich ineinander auf.

Der Textstand des Romans folgt der im Taschenbuch vorliegenden Gesamtausgabe der Werke Schnitzlers. Ein kleines Nachwort ist dem Band beigegeben, das zwar die allgemeine Bedeutung des Romans erläutert, den in ihm verhandelten deutsch-jüdischen Diskurs jedoch mehr oder weniger vernachlässigt. Hier wäre also viel zu tun, zumal für eine überfällige, kommentierte Studienausgabe des Werks genügend Material (vor allem aus Schnitzlers Tagebüchern und der interessanten Rezeptionsgeschichte) bereit läge. Sicher hat diese ordentliche Leseausgabe den trotz der gebundenen Form günstigen Preis für sich. Sie kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß der S. Fischer Verlag besser daran täte, nicht immer wieder neue Auswahlausgaben vorzulegen, sondern lieber ein einziges mal sich auf eine Weise verlegerisch zu engagieren, die der Bedeutung Schnitzlers entspräche und sein Werk endlich in einer dem Leser und der Wissenschaft nützlichen Form zur Verfügung stellen würde. Man muß es ja nicht gar so genau nehmen, wie die Editoren der Werke Else Lasker-Schülers.

Titelbild

Arnold Zweig: Bilanz der deutschen Judenheit 1933. Ein Versuch. Bearbeitet von Thomas Taterka.
Aufbau Verlag, Berlin 1998.
441 Seiten, 34,80 EUR.
ISBN-10: 3351034237

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Else Lasker-Schüler: Werke und Briefe. Kritische Ausgabe. Bd. 3, 1 u. 2. Prosa 1903-1920. 2 Teilbände. 2 Bände.
Jüdischer Verlag, Frankfurt a. M. 1998.
99,99 EUR.
ISBN-10: 3633541489

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Titelbild

Arthur Schnitzler: Der Weg ins Freie.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 1999.
400 Seiten, 22,50 EUR.
ISBN-10: 3100735552

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Titelbild

Arnold Zweig: Junge Frau von 1914.
Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin 1999.
450 Seiten, 34,80 EUR.
ISBN-10: 3351034032

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