Ein Bündel nicht geschriebener Erzählungen

Ein böhmischer Erzähler voll rabenschwarzer Zuversicht: Richard Weiner betritt die europäische Bühne

Von Volker StrebelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Strebel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bei Kennern gilt Richard Weiner (1884-1937) als der "tschechische Franz Kafka". Dabei sind neben der Ähnlichkeit einer böhmisch-jüdischen Verwicklung der Biografien vor allem die Art der schriftstellerischen Wahrnehmung ausschlaggebend. Die anonyme Beschreibung und das psychologisierende Erleben ähneln einander. Auf den ersten Blick wirken manche Textexperimente Richard Weiners spröde. Das scheinbar verzettelte, abstrahierende Beschreiben ruft zunächst Befremdung hervor. Eine genauere Sicht hingegen entdeckt feine Strukturen im grauschwarzen Textschiefer, schimmernde Farben im Regenbogenspektrum von Benzin geben sich zu erkennen.

Zu Recht betont die Herausgeberin Steffi Widera Weiners Grundakkord von Verzweiflung, Angst und Schuld - und belegt somit eine weitere Parallele zu Franz Kafka. Von seiner Ausbildung her war Richard Weiner Chemiker. Einige Jahre hatte er auch in diesem Bereich gearbeitet. Ab 1912, Weiner war inzwischen in Paris ansässig, widmete er sich jedoch ganz der Literatur. Seine Teilnahme am Ersten Weltkrieg überlebte er mit einem vollkommenen Nervenzusammenbruch. Im vorliegenden Band wurden neben Kriegsbriefen Weiners auch Texte aufgenommen, die unter dem Eindruck der Fronterlebnisse auf dem Balkan entstanden sind.

In der Erzählung "Der Wagen" wird der Tod als eine dem Menschen übergeordnete Kraft geschildert, die verschiedene Formen annehmen kann. Es ist eine Soldatenerzählung, die das rätselhafte Schicksal eines mit Kindern beladenen Wagens beschreibt, der in einer regennassen Schlucht verschwindet: "Eine Woche schon - schon über eine Woche - kratzte der Regen mit seinen überzarten, langen Beinchen den Boden auf, immer an derselben Stelle, an derselben Stelle". Das Nebeneinander von Grauen, Tod aber auch Hoffnung sorgt für eine befremdliche Mischung, die ungeahnte Befindlichkeiten im Menschen abruft: "Wenn der Tod ist wie Wasser, das in eine Schucht stürzt, maelstrom, in dem es aber wonnevoll ist, sich nicht gegen die Fluten zu wehren, sondern mit ihnen und in ihnen abzustürzen in dumpfer Freude über die Unmöglichkeit der Wiederkehr".

Im vorliegenden Band aufgenommen sind ebenfalls erstmalig in deutscher Sprache Richard Weiners Überlegungen über Judentum und Assimilation "Über mich selbst" sowie "Wo ist mein Platz?". Gedanken, die Weiner ein Leben lang beschäftigt hatten. An seine Eltern hatte Weiner bereits am 18.07.1913 unter anderem geschrieben: "Ich bin weder Jude noch Tscheche, weder Deutscher noch Franzose". Das Motiv der Fremde, aber auch der Topos der Wanderung begleiten Weiners Biografie - wie auch ganz konkret sein Schreiben. Weiners fast lebenslanger Aufenthalt in Paris war nicht nur eine Flucht aus Böhmen, sondern auch die Möglichkeit, sich aus der räumlichen Distanz heraus Sicherheit über die Nähe zur böhmischen Heimat, ihrer Sprache und Geschichte zu verschaffen. Auch an dieser Stelle bewährt sich die Konzeption dieses Bandes, indem Steffi Wideras dazwischengeschalteten Kommentierungen Aufschlüsse über die Hintergründe von Richard Weiners Leben und Werk ermöglichen.

Weiners vielseitiges Schaffen umfasste neben Übersetzungen und Gedichten auch Essayistik sowie Prosa. Böhmen reflektiert er in Essays und Beschreibungen wie "Fragmente historischer Tage", wo er als Augenzeuge in bewußter Weise die Entstehung der ersten tschechoslowakischen Republik in Prag erlebt. Den heißen Atem der Geschichte im Nacken verspürend, zeichnet Weiner wie ein Seismograph Stimmungen, Gefühle und auch Ressentiments auf. Auch in die Gefühlslage der Deutschen versucht er sich hineinzuversetzen. Von einem Bekannten verabschiedete sich Weiner in deutscher Sprache: "'Guten Tag und auf Wiedersehen!' - Er antwortete tschechisch: 'Danke!', und seine Augen sagten, daß sie für mehr als den Gruß dankten."

So sehr Weiners Prosa von Elementen des Surrealismus mit ihrer Problematisierung des Traums und des Wachzustands wie auch der Zersplitterung der menschlichen Persönlichkeit geprägt sind, so hellsichtig sind seine kunstessayistischen wie auch politischen Stellungnahmen. Noch im Jahr 1935 bezeichnete er Dr. Edvard Beneš als einen "eitlen und größenwahnsinningen Diplomaten", der "einen Weißen Berg vorbereitet". Die Katastrophe des Niedergangs der Republik musste der 1937 in Prag verstorbene Weiner nicht mehr erleben.

Diese vorzügliche Auswahl ist der Kompetenz der Herausgeberin zu verdanken, die bereits mit einer klugen Schrift über Richard Weiner hervorgetreten ist. Schade aber bleibt, daß keine Gedichte aufgenommen wurden.


Titelbild

Richard Weiner: Kreuzungen des Lebens. Erzählungen, Essays, Feuilletons, Briefe.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2005.
300 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3421052530

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