Von Frank Zappa zum Otto-Katalog

Bernd Cailloux vermisst in seinem Roman "Das Geschäftsjahr 1968/69" mit heiterer Lakonie die Alltagsprofanitäten eines Mythos

Von Lennart LaberenzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lennart Laberenz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Dabeisein und Dagegensein ist das Problem." Ein Mann kommt aus Ibiza zurück, ihm ist in die Hektik seines "einmal gelernten, rauhen Reisestils" alles Geld abhanden gekommen. Nun steht er zu allem Überfluss in Düsseldorf, statt in Hamburg, wo er wohnt. Vom Flughafen aus bittet er einen alten Wegbegleiter um Geld. Mit dem Bekannten trifft er auf die eigene Vergangenheit und den fundamentalen Gegensatz zwischen zwei Wirklichkeiten, die ihm immer noch wenig Ruhe lassen. Bernd Cailloux vermisst die weiche Unterseite jenes Mythos, die Alltäglichkeit der Jahre um den kulturellen Aufbruch in der BRD. Er tut dies entlang der Ansprüche und Taten zweier, die das Jahr 1968 an der Peripherie und doch mittendrin durchlebten.

Hätte der Umschlag des Suhrkamp-Bändchens es nicht vorweggenommen, könnte man sagen, dass sich Cailloux "mit präziser Lakonie" einer Epoche widmet, der die meisten bürgerlichen Medien spätestens mit Regierungsantritt Schröders erneut einen publizistischen Krieg mit unterschiedlicher Intensität erklärt hatten. Zum Aufbruch der Bundesrepublik findet Cailloux einen wunderschönen Zugang, nicht über universitäre Milieus, nicht durch marxrezitierende Studierende, nicht über den Lehrplan des Instituts für Sozialforschung an dem Theodor W. Adorno über Goethe las. Ins damals schon langweilige Düsseldorf platziert er seine Hauptdarsteller, zwei Jünglinge, die sich aufgemacht hatten, mit einer Firma sprichwörtlich für die Beleuchtung des kulturellen Aufbruchs zu sorgen. Von hier aus spannt sich eine Erzählung, die durchaus Kernpunkte der studentenrevolutionären Auseinandersetzung nachvollzieht, allerdings als inneren und äußeren Kampf um Sinn, Ziel und Verlauf der Geschichte eines improvisiert mittelständischen Unternehmens. Rudi Dutschke taucht einmal auf und zwar als Frisurentyp.

Während Adorno sich gegen allerlei liberale Intellektuelle und den SDS mit dem Hinweis wehrte, dass "nicht in einem klappernden und mechanischen Weise einen Zusammenhang von Theorie und Praxis postuliert werden darf", entwickeln ein paar Nerds in einem stinkigen Düsseldorfer Hinterhaus aus vagen Ideen ein Stroboskop. Von dort machen sie sich auf, ihr Erzeugnis zu vermarkten. Von nun an irren sie irgendwo zwischen Kommunenleben, der Selbstbefreiung aus der bürgerlich brav verwalteten Gesellschaft Westdeutschlands, der Frage nach ethischen Grenzen der Kommerzialisierung und Arbeitsanforderungen des Geschäftslebens herum. Das Verhältnis von Theorie und Praxis verbleibt im Dilemma, das Cailloux als schwer erträglichen Alltag des Ich-Erzählers ausbreitet. Ihr plötzlicher und korrumpierender Erfolg wird den Handelnden zumindest zeitweilig zur Lebensmaxime. Nach der unscharfen Geschäftsidee kommt die Praxis der freien Produktion einigermaßen überraschend. Weniger überraschend entfremden sich ihre Protagonisten zusehends vom Ausgangspunkt, momentaristische Lichtkunst für Partys der 68er zu machen und schließlich auch voneinander. "Es gab nichts anderes neben dem Leben in der Muße-Gesellschaft, weder am Tage noch in der Nacht. Jeder war in das Geflecht hineingewachsen, eins geworden wie mit dem Organismus eines anderen Geschöpfes und geradezu manisch fixiert auf das Geschehen. Jeder arbeitete unter höchster Anspannung, jeder einzelne schien dabei ein noch nicht klar erkennbares Motiv zu verfolgen. Vor einem Jahr hatten Büdinger und ich noch jeden Schritt tagelang diskutiert, jetzt überstürzten sich die Handlungen, jetzt mieden wir grundsätzliche Fragen und wichen in Floskeln der Geschäftigkeit aus."

In der Folge entwickelte sich also aus der Idee ein mittelständischer Betrieb, in das sich die Erkenntnis einen "prima Überbau und nichts darunter" zu haben, Begehrlichkeiten und die alten Gestalten aus der vermeintlich überwundenen Vergangenheit des Erzählers einschleichen. Aus der Ambivalenz wird darüber ein handfester Widerspruch, aus den Freunden, die sich dreißig Jahre später in Düsseldorf wiedersehen, Geschäftspartner eines "Hippie-Business".

Soweit die grundsätzliche Idee des Romans, mit dem es gelingt die Profanität des Alltagslebens, den unromantischen und wenig glitzernden Verlauf einer Epoche in den Blick zu rücken. Cailloux taucht ein in die Banalitäten, mit denen vermutlich sehr viele kämpften, die in den sechziger Jahren das Leben junger Erwachsener organisieren mussten und zufällig grade nicht in Frankfurt am Main oder Berlin Politikwissenschaften studierten. Die wunderbare Welt der sexuellen Befreiung? Kulturrevolution? Der Vorhof zur Emanzipation? Cailloux schildert den Aufbruch aus der kleinbürgerlich verstaubten, formierten Gesellschaft eher wie eine dialogische Konstruktion des Anderen, die müde und oftmals langweilige Gegenwart wurde ständig mit einem hehren Ideal konfrontiert. Und so trägt der Ich-Erzähler seine bemitleidenswerte Jugend in der niedersächsischen Kleinstadt, seine verstörenden und eher unterentwickelten sexuellen Erfahrungen als negatives Gegenstück zu einem Bild von Emanzipation und freier Liebe mit sich herum. Darüber will er auch nicht, oder nur zögerlich, die zunehmende Wandlung seines Freundes Büdinger, stupiden Mechanismen von Effizienzsteigerung und Kapitalakkumulation zu folgen, wahrnehmen.

Während der Ich-Erzähler seine bemitleidenswerte Jugend in der niedersächsischen Kleinstadt als negatives gegenstück zu seinem Leben in Düsseldorf herumträgt, will er gleichzeitig die zunehmende Wandlung seines Freundes Büdinger, den stupiden Mechanismen von Effizienzsteigerung und Kapitalakkumulation zu folgen, nicht wahrhaben.

Als Büdinger die alte Clique aus Jugendtagen in den Betrieb holt, spürt der Protagonist die kalte Hand, mit der der Kleingeist seiner Jugend wieder nach ihm greift. Gleichzeitig hat die Unschärfe seines Ideals "nicht Ausbeuter, nicht Beuteopfer zu sein", mit dem er eine Firma zu organisieren suchte, vor Augen. Die Spannung zwischen Anspruch und Wirklichkeit überdecken zunächst Arbeitssucht, dann Drogen. Der für eine Licht-Firma reichlich groß dimensionierte Anspruch eine belastbare neue Welt zu erschaffen, beugt sich stückweise und unter schwach anästhesierten Qualen den Umgangsformen der Unterhaltungsindustrie.

Von Frank Zappa geht der Weg in den Otto-Katalog. Der Roman kann damit für den Zeitkontext, wie für die Gegenwart gelesen werden. Alles Vergängliche bleibt nur ein Gleichnis, die Antworten auf Fragen nach dem Verhältnis zwischen Theorie und Praxis verweisen weiter auf die Epochen selbst, die sie hervorbringen. 'Dabeisein und Dagegensein' hat seine problematische Stellung nicht aufgegeben, nur scheint die Zahl derjenigen, die sich daraus resultierende Fragen noch stellen können, gesunken. Während heute die Dimensionen von bloßer Unterhaltung ins uferlose wuchern, werden die Rollenspiele zwischen richtig und falsch, reich und arm, schön und hässlich weiter zementiert. Cailloux scheint beiden, der verklärt rückblickenden Romantik, wie dem jugendlichen Eifer, die Welt auf einen Schlag verändern zu wollen, mit dem Gestus des gut abgehangenen Fatalismus und der versteckten Aufforderung, Mittel genau zu wählen, lächelnd zu begegnen.

Wir haben es immer geahnt: Der Marsch durch die Institutionen, die geschäftlichen wie die politischen endet nicht als Hilfestellung für eine neue Gesellschaft, sondern als dressierter Affe, schlimmstenfalls in eben diesen Institutionen. Zurück bleibt beim Ich-Erzähler aus dem "Geschäftsjahr 68/69" "ein Unglück in meinem Bauch, das nirgends zu behandeln war", beim alten Freund die billige Erkenntnis, dass "dieses Achtundsechzig eine großartige, ja geniale PR-Aktion" gewesen sei. Aus der traurigen Auflösung, dass der Aufbruch aus dem kleinbürgerlichen Elend die isolierende Beschädigung, Krankheit und Einsamkeit folgen kann, bezieht der Roman seine erzählerische Kraft. Dennoch bleibt der Erzähler in seinem Bewusstsein, etwas Anderes zu wollen, firm. Der neue Mensch lebt als langsam vergilbendes Ideal und vorerst unerreicht in der Profanität des Alten weiter.

Titelbild

Bernd Cailloux: Das Geschäftsjahr 1968/69. Roman.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2005.
254 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-10: 3518124080

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