Tics und Tic-Tacs

Das Romandebüt des Amerikaners David Gilbert kommt nicht über die Frage hinaus, wie anormal die Normalität ist

Von Tanja SiegRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tanja Sieg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was ist schon normal? Und vor allem: Wer ist normal? Diese Fragen stellt der US-amerikanische Autor David Gilbert in den Mittelpunkt seines Debütromans. Sind es in Ken Keseys Klassiker "One Flew Over the Cuckoo's Nest" oder wie zuletzt in Gilad Elboms Erstlingswerk "Scream Queens am Toten Meer" so genannte Verrückte, die im Vordergrund der Handlung stehen, so kehrt Gilbert die Situation einfach um. Er richtet seinen durchaus scharfen Blick auf die "Normalen" - gemeinhin Menschen mit weder physischen noch psychischen Auffälligkeiten oder offensichtlichen Absonderlichkeiten.

Allen voran steht der 28jährige Harvard-Absolvent Billy Shine, der mit Gelegenheitsjobs seinen ausgezeichneten Abschluss abwertet, während seine Kommilitonen bereits die ersten Stufen der Karriereleiter an der Wall Street erklimmen. Er ist hoch verschuldet. Um dem Geldeintreiber Clem Ragnar zu entkommen, der die ausstehenden Kreditzahlungen für das exklusive Studium eintreiben will und zu Billys persönlichem Ragnarök, also seinem ureigenen Weltuntergangsszenario, zu werden droht, entschließt sich Billy, an einem medizinischen Experiment teilzunehmen. "Schon als Kind war er in Pillen vernarrt und hat M&Ms eingeworfen, als wären sie lebensrettende Heilmittel, oft verfiel er in Krämpfe, um sich ein paar Milligramm kandierte Medizin zu erkämpfen, Tic-Tacs waren auch prima."

Für zwei Wochen testet er zusammen mit 25 weiteren Teilnehmern, ähnlich hoffnungs- und orientierungslos wie er, in einer medizinischen Klinik ein atypisches Psychopharmakon für die Behandlung von Schizophrenie. Das Besondere an der so genannten Intensiv-Bioverfügbarkeitsstudie ist, dass nur gesundheitlich unbedenkliche Personen daran teilnehmen können. Allerdings kann es bei den Versuchen zu Nebenwirkungen mit irreversiblen Schäden kommen, etwa durch verzögerte Dyskinesie: "Dazu gehören extreme Gesichtsmotorik wie Herausstrecken der Zunge, Kauen, Schmatzen. Wenn die respiratorische Muskulatur betroffen ist, kommt es zu Grunzlauten."

Billy wird in den Tages- und Versuchsablauf eingewiesen und die Eintönigkeit des Tages bemisst sich nach Pilleneinwurf und Blutabnahme. "18:59 Wieder eine Dosis. 19:17 Wieder Blutentnahme. 19:54 Wieder Fernsehen." Umso überraschender trifft ihn der Anruf seines Vaters, den er seit mehr als drei Jahren weder gesehen noch gesprochen hat und der irgendwie seine Telefonnummer herausgefunden hat. Der resignierte Vater bittet Billy um einen letzten Gefallen. Um dem Leid seiner Frau, die im letzten Stadium Alzheimer in einem Pflegeheim dahinsiecht, und seinem einsamen Leben das lang ersehnte Ende zu bereiten, soll Billy seine Eltern umbringen.

Billys Einwand, dass die Beziehung zu den Eltern nicht stark genug sei, um sie zu töten, übergeht der Vater kommentarlos: "Egal was kommt, am 4. September wird es passieren. Ich liebe meine Frau, Billy." Er hat bereits alles vorbereitet, so wie es die Hemlock-Society, eine Non-Profit-Gesellschaft, die sich für die aktive Sterbehilfe bei todkranken Menschen stark macht, empfiehlt. Der Sohn muss den Eltern nach der Tabletteneinnahme nur noch "die Tüten über den Kopf ziehen und die Gummis befestigen." Ausgerechnet jetzt setzen bei Billy die Nebenwirkungen ein.

David Gilbert liefert zahlreiche kleine und amüsante Anekdoten, und die Figuren, die er scharfsinnig porträtiert, kommen einem schrecklich vertraut vor. Es sind Personen wie Brad Lanningan, der ständig "kontaktheischend in die Runde blickt und nickt, als würde er die Gedanken der anderen lesen und uneingeschränkt bejahen". Rodney Letts hingegen ist so unansehnlich, dass "ihm Unausgeschlafenheit und improvisierte Hygiene" aus allen Poren zu dringen scheinen. Bruce Ossap und Val Dullick sind gemeinsam auf Abenteuer aus, tauschen Zeitschriften und Witzeleien, die von "Titten und Uzis handeln".

Und dann ist da noch Gretchen Warwick, die als einzige Frau in der Gruppe für sexuelle Abwechslung sorgt. Es sind diese Figuren in den Nebenrollen, die dem Roman einen zweiten Boden geben. Neben chaotische Situationen treten ebenso ernsthafte und berührende Momente, die den Wahnsinn innerhalb der klaustrophobischen Welt der Versuchsstation unterstreichen. Die Rolle Billys hingegen scheint sich allein auf das Beobachten der anderen Normalos, die mit ihren "Scheiß-Hallus" zu kämpfen haben, und auf das Belauschen belangloser Gespräche, in die sich der scheinbare Protagonist nicht einmischt, zu beschränken.

Die Grundidee des Romans, dass die "Normalen" als skurrile Kritik an der modernen Gesellschaft dienen, ist zweifellos durchdacht. Was aber spritzig-ironisch beginnt, fällt zum Ende hin in sentimentale Rührseligkeit ab: "Ich weiß was du meinst", sagt Billy im Gedanken an das, was ihm bevorsteht. Jerry (ein TV-Moderator) wirft indessen Luftküsse und schreit ziemlich hoffnungsvoll "Auf Wiedersehen bis nächstes Jahr."

Auf anderer Ebene verdeutlicht die in die Handlung eingewobene Geschichte eines absonderlich geformten Gehirntumors des Klempners Chuck Savitch aus Menomonee Falls eine weitere Inkonsequenz. Da die Röntgenaufnahme seines Gehirns eine frappierende Ähnlichkeit mit dem auf dem Turiner Grabtuch abgebildeten Antlitz Jesus Christus zu haben scheint, wird eine unfassbare Massenhysterie im Land ausgelöst und die ersten "Wunderjäger" fallen in die Kleinstadt ein. Selbst in der Gemeinde der Pilgerfreunde geht das Gerücht um, "dass die Kranken und Gebrechlichen ihre Flüge nach Lourdes und Fatima canceln und nach Menomonee Falls umbuchen." Man stellt sich spätestens hier die Frage, wer im Roman eigentlich noch normal ist: Die in der Versuchsklinik verharrenden Probanden mit ihren spastischen Zuckungen und maßlosen Ausbrüchen, oder die scheinbar maßvollen Bürger außerhalb des Geländes mit ihrem vermeintlich normalen Alltag?

Darüber hinaus bietet der Roman leider keinen weiteren Raum für Überraschungen und Deutungsmöglichkeiten, er bleibt an der oberflächlichen Betrachtung der anormalen Normalität bzw. des normalen Anomalen haften. Fast schon programmatisch scheint der Anfangssatz des Romans zu sein: "Die mageren Floskeln bleiben sich immer gleich. Sally... ich gehe... Billy. Keine wirkliche Überraschung." Für einen 400 Seiten langen Roman ist der Plot einfach zu dünn, und wo bei Ken Kesey der cholerische Gauner McMurphy und bei Gilad Elbom dessen gleichnamiger Protagonist in ihren Rollen auf allen Ebenen der Handlung funktionieren, da versagt Gilberts Hauptfigur allein schon wegen ihrer fehlenden Reflexionsfähigkeit.

Wie Billys Nachname "Shine" bereits andeutet, lässt sich nicht viel mehr hinter der matt glänzenden Fassade entdecken. Genauso wenig gelingt das ziemliche platte Spiel mit der Namenssymbolik bei anderen Personen wie Gretchen oder Ragnar auf der ironischen Ebene. Mit "Die Normalen" versucht sich Gilbert am Genre des Romans, doch scheint er sich noch nicht ganz vom Format seiner Kurzgeschichten lösen zu können, die er unter dem Titel "Remote Feed" 1998 als Sammlung veröffentlichte.

Anmerkung der Redaktion: Der Text erschien bereits in der Jungle World vom 19.10.05. Wir danken dem Autor für die Publikationsgenehmigung.


Titelbild

David Gilbert: Die Normalen. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Chris Hirte.
Eichborn Verlag, Frankfurt a. M. 2005.
400 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-10: 3821857358

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