Aus der Vergegenkunft

Über eine Ausgabe der Zeitschrift "Akzente" mit nachgelassenen "Stenogrammen" und Briefen von Elias Canetti

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Warum schrieb Elias Canetti nach der "Blendung" (1935), dem wohl ungeheuerlichsten Debüt der Literaturgeschichte, keinen weiteren Roman mehr? Mögliche Antworten darauf finden sich in einer Ausgabe der Zeitschrift "Akzente" mit "Stenogrammen" Canettis aus den Jahren 1932 bis 1942. Diese Bezeichnung der Herausgeber ist glücklich gewählt, bezieht sie sich doch nicht nur auf die Geheimniskrämerei des Autors, dessen angebliche Geheimschrift sich nach Freigabe seines Nachlasses als ordinäre Stenographie entpuppte, sondern auch auf den ursprünglichen Sinn der Kurzschrift: Verdichtung.

In den Fragmenten, Dialogen und Notizen spiegeln sich die Unruhe und Orientierungslosigkeit des jungen Autors ebenso wider wie die seiner Umwelt im Wien der 30er Jahre. Für die Menschen, denen angesichts der drohenden Nazi-Diktatur die Zeit zwischen den Fingern verrinnt, zerfließt alles unterschiedslos in eine "Vergegenkunft". In jenen Jahren, in denen der junge Canetti bei dem Kaffeehaus-Weisen Abraham Sonne in die Schule geht, ist es der Konflikt zwischen ästhetischer und politischer Wahrnehmung der Welt, der sich in seine Versuche einschreibt. "Der große Gegensatz seines Lebens", beginnt einer der Texte, "bestand in seinem revolutionären Willen, der aber auf Schritt und Tritt durch das künstlerische Auge gehemmt war."

Ein Musterfall für das mitunter haarsträubende Umspringen vom Feld der Erotik auf das der Aggression ist der Dialog "Von oben", wie Gerhard Neumann in einem klugen Essay ausführt. Aus einem harmlosen Liebesgeplänkel zweier Flugzeugpassagiere entwickelt sich unvermittelt eine groteske Situation, in der der Mann von der Frau gezwungen wird, den Piloten zu töten, um das Steuer wieder in den Griff zu bekommen.

Vom Absturz in Gewalt bedroht sind viele der Texte. In Observationsszenarien wie "Paar im Meinl" scheint der misogyne Erzähler die akustische Maske der Frau nur deshalb festzuhalten, um seinen Hass abzureagieren. Andere Miniaturen, Vorläufer der "Aufzeichnungen", präsentieren utopische Welten, in denen die Menschen keine Namen tragen oder sich so massenhaft vermehrt haben, dass jeder nur noch auf wenigen Quadratmetern haust. Oder beschreiben bizarre Charaktere wie den "Stimm-Narziss" oder den "Ruhelosen". Ruhelos war auch der Autor selbst. "Der Canetti ist heute tief betrübt, ganz traurig ist der Kerl, er rennt sinnlos herum und tut nichts", schreibt Canettis Frau Veza 1934 an Georges Canetti. Die Briefe aus dem Pariser Nachlass des Bruders, die das Heft beschließen, erlauben erstmals einen von den späteren Stilisierungen ungetrübten Blick auf die damaligen Lebensumstände des Dichters.


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Michael Krüger (Hg.): Akzente. Zeitschrift für Literatur. 100. Geburtstag Elias Canetti. 52. Jg., Heft 4.
Carl Hanser Verlag, München 2005.
7,90 EUR.

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