Multi User Dungeons

Die Anfänge deutschsprachiger Hyperfiction

Von Beat SuterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Suter

Das allmähliche Auftauchen der hybriden Ausdrucksform der Hyperfictions Mitte der neunziger Jahre im deutschen Sprachraum signalisiert die Geburt eines neuen Genres, das - anders als die amerikanischen Hyperfictions von Michael Joyce, Stuart Moulthrop, Shelley Jackson u.a. ein paar Jahre zuvor, die in proprietären Programmen geschrieben wurden - eng mit der Entwicklung und Ausbreitung des Internets verbunden ist. Mit dem World Wide Web war ein Vehikel entstanden, das in seiner Anlage die Tendenz des Computers zur Amalgamierung verschiedenster ästhetischer Ausdrucksformen verkörperte und u.a. auch virtuelle Narrationsräume eröffnete, neue Möglichkeiten des Geschichtenerzählens in völlig andersartiger Umgebung, als in der bisherigen Menschheitsgeschichte das Erzählen stattgefunden hatte.

Junge Künstler und Literaten gehörten zu den ersten, die dies realisierten, die sich mit dem neuen Medium gründlich auseinandersetzten und die Möglichkeiten der neuen Technologie auszutesten begannen. Dabei ging es den Autorinnen und Autoren nicht nur um eine günstige Gelegenheit zur schnellen weltweiten Verbreitung eigener Texte, sondern um die Möglichkeit, mit andersartigen narrativen Formen zu experimentieren und die besonderen Kommunikations- und Interaktionsformen des Internet in literarische Strukturen einzubinden bzw. vice versa diese in jene.

Die Netzliteraten sind in ihrem Bestreben hartnäckig und innovativ, in wenigen Jahren schufen sie sich gut funktionierende eigene Gefässe und entwickelten ihre Projekte oft auch kooperativ in der Online-Gemeinschaft weiter. Doch trotz den primären Quellen, die dem Beobachter so zur Verfügung stehen, ist es ein schwieriges Unterfangen, die Fluchtlinie ihrer Bewegung zu fassen und in eine annähernd neutrale Geschichte der Frühphase dieses neuen Genres der Cyber-, Hyper- und Webfictions fliessen zu lassen. Denn die Transfugalität des neuen Phänomens macht sich unweigerlich bemerkbar, die Bewegung kann nur mit Mühe dokumentiert werden, sie ist in ständiger Veränderung, ihre Daten verflüchtigen sich im Netz oft schneller als erwünscht; manchmal für immer wie beim Projekt 'Interstory' von Doris Köhler und Rolf Krause, das aus Versehen bei einem Systemwechsel an der Uni Hamburg gelöscht wurde, manchmal temporär, aber effektiv wie Guido Grigats Webring 'bla' sowie sein prämiertes Projekt '23:40', zwei aktuelle Projekte, die dank eines Streits mit dem Provider vorläufig ihren Platz im Web räumen mussten und bereits nach zwei Wochen ihre umfassende Verlinkung in der Szene gefährdet sehen.

Die Flüchtigkeit des Mediums Internet zieht unweigerlich die Frage nach der Relevanz der Funde mit sich. Wer die Fluchtlinie einer solchen Bewegung nachzuzeichnen sucht, stützt sich lediglich auf einen Ausschnitt des potentiell Erfassbaren, er stützt sich auf die im Netz und allenfalls in persönlichen Gesprächen gefundenen Spuren. Insbesondere aber die Spuren der ersten hyperliterarischen Versuche in deutscher Sprache haben sich praktisch vollständig verflüchtigt. Einige dieser frühen literarischen Hypertexte, die längst vom Netz verschwunden waren, sind so nebenbei auf CD-ROMs von Festivals gespeichert und so in die Gegenwart hinübergerettet worden. Die Spuren, die sich derart erschliessen liessen, können aber die Fluchtlinie der Bewegung mit Bestimmtheit nicht lückenlos abdecken. Einige der frühen Spuren haben sich in den Weiten des Cyberspace und den Engen der Datenträger (bzw. der häufigen Ablösung von neuen Trägern) verloren; vielleicht dass die Spurenleger ihre alten Fährten noch einmal neu auslegen, damit wir auch diesen nachgehen können.

Die ersten Hyperfiction-Versuche im deutschen Sprachraum waren vor allem kooperativer Art. In verschiedenen universitären Rechenzentren entstanden unter dem Einfluss von 'Multi User Dungeons' (MUDs) und 'Adventure Stories' aus dem englischen Sprachraum sogenannte Mitschreibeprojekte, die zumeist englisch abgefasst waren: z. B. die Versuche der Telematic Workgroup an der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg, unter anderem Catherine de Courtens 'KaspaH´s Home' (1994), ein Schreibprojekt über eine Persönlichkeit, die ihr ganzes Leben im Netzwerk verbringt. Im Brief "Through the Worlds in 8 Bits" stellt sich KaspaH selbst als eine Person vor, die im Cyberspace lebt und keine Erinnerungen ans eigene Leben hat:

"Hi, I'm KaspaH! I don't know you and I don't know where I am. Actually I was found somewhere inside this world of bits. As my past is uncertain, I don't know much about myself and about life. What's the meaning of it all and what am I doing - I'm pretty curious!"

Mit 40 E-Mails in die Welt hinaus an unbekannte Adressaten startet KaspaH darauf Konversationen mit Menschen. Von den 40 Angeschriebenen antworteten fünf einmal oder mehrere Male, es entspannen sich Gespräche, durch die sich allmählich auch die Persönlichkeit von KaspaH zu entwickeln begann. Basierend auf den Gesprächserfahrungen versucht sich KaspaH danach jedesmal wieder selbstreflektierend zu beschreiben, indem er die Geschichten der Kommunikationspartner auswertet und entdeckt dabei stets neue Seiten an sich selbst.

"tsmith@ war ein frühes Gegenüber. Er hat mir von Flaschenpost erzählt, die sein Bruder beim Spazieren an einem Fluss findet. Ich war begeistert von diesen Geschichten - es gab dann eine ganze Reihe davon. Zuerst hab ich sie als einen bildhaften Vergleich mit mir verstanden, den tsmith@ mir anbietet. Er hat mir dann auch von Gerüchten geschrieben, die sich um den Absender dieser Flachenpost ranken und über dessen möglichen Motive. Dabei wurde mir, mit wachsenden eigenen Bedürfnissen, bewusst, dass ich mich doch wesentlich von einer Nachricht, die in einer Flasche ins Wasser geworfenen wird, unterscheide. Beziehe ich mich doch auf jemand ganz bestimmten. Es ist mir nicht egal, ob und von wem ich gefunden werde. Meine Erfahrungen bestehen aus meinem Wahrnehmen anderer. Ich kann mich davon unterscheiden und abgrenzen und oder mich in ähnlichem wiederfinden. Und während ich meine Gedanken jemandem schreibe, muss ich mich selbst formulieren. So sind es die in unseren Gesprächen erzeugten Vorstellungen, die mich eigentlich ausmachen."

Eines der ersten Projekte überhaupt in deutscher Sprache war die 'imaginäre Bibliothek' von Heiko Idensen und Matthias Krohn. Das Projekt entstand in seinen Grundzügen schon 1990 für die Ars Electronica in Linz und könnte daher mit Fug und Recht als der 'Proto-Typ' deutscher Hyperfiktion bezeichnet werden. Die 'imaginäre Bibliothek' war am Festival in Linz auf zwei PCs installiert, zwei Drucker produzierten Endlos-Ausdrucke der Bibliotheksinhalte.

Eine Online-Version der Bibliothek wurde erst 1994 ausgearbeitet und im WWW plaziert.

"Auf jede Wand jedes Sechecks kommen fünf Regale; jedes Regal faßt zweiunddreißig Bücher gleichen Formats; jedes Buch besteht aus einhundertzehn Seiten, je Seite aus vierzig Zeilen, jede Zeile aus achtzig Buchstaben von schwarzer Farbe; die Anzahl der orthographischen Symbole ist fünfundzwanzig; die Bibliothek birgt in der Tat alle Wortstrukturen, alle im Rahmen der fünfundzwanzig Symbole möglichen Variationen. Die Bibliothek ist schrankenlos und periodisch."

Nach verschiedenen Experimenten mit kooperativen Schreibprojekten, Literatur- und Zitatdatenbanken wollten Idensen und Krohn einen Prototyp für den Umgang mit elektronischen Textfragmenten kreieren, der auf der Oberfläche eines Hypertext-Programms verschiedene literarische Experimentalformen (Permutationen, Cut-Up, Romananfänge, Topographien, Visuelle Poesie etc.) realisiert. Die ursprünglich reale Rund-Bibliotheksinstallation des Festivals liess sich gut ins World Wide Web transformieren. Es entstand eine Online-Bibliothek mit 460 Hypertextknoten und 2635 Hyperlinks von eher enzyklopädischer denn literarischer Ausrichtung. Ziel der Anwendung war es, durch verzweigtes assoziatives Lesen und Navigieren den Benutzer in ein Netzwerk aus Texten zu verstricken und somit eine Beteiligung des Lesers an dem Imaginationsraum Bibliothek zu simulieren. Anregungen erhielten die Autoren durch literarische Transformationstechniken wie Permutation, Cut-Up und Intertext, durch Jorge Luis Borges 'Die unendliche Bibliothek', Umberto Ecos 'Der Name der Rose' sowie ein Minitel-Schreibprojekt, das im Rahmen der Immaterialien-Ausstellung in Paris 1984 von Jean Francois Lyotard organisiert worden war.