Durch Wielands Schreibtisch müssten die "Schriftsteller unsern ersten Meridian ziehen"

Eine neue Ausgabe versammelt Christoph Martin Wielands "Schriften zur deutschen Sprache und Literatur"

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Wieland wird nicht mehr gelesen", schrieb Walter Benjamin vor über 70 Jahren in einem berühmten Aufsatz, und Arno Schmidt beklagte sich noch 1956: "Wieland? - Hm. - Ein berühmter Name, gewiß (...)". Aber: "Die Literaturgeschichte - die alte Jungfer mit der spitzen roten Nase, und den falschen schwarzen Locken, steif und brüchig, wie abgebrannte Streichhölzer - hat ihn doch längst so endgültig 'abgetan', dass Sie schon viel und gewichtiges Material werden beibringen müssen, um ihn auch nur wieder ernsthaft diskutabel zu machen".

Schmidt hat es versucht, aber so richtig gelungen ist es ihm nicht. Seit ein paar Jahren bemüht sich auch Jan Philipp Reemtsma: Er unterstützte jetzt die Renovierung von Wielands Gut Oßmannstedt mit viel Geld und gab nach und nach einige von Wielands Büchern heraus, die Romane "Aristipp", "Peregrinus Proteus", "Menander und Glycerion", "Die Abentheuer des Don Sylvio von Rosalva", aber auch die "Politischen Schriften" und das Versepos "Der neue Amadis".

Leider ist keines dieser Bücher lieferbar, denn Reemtsma hatte Pech mit seinen Verlagen: Erst musste Greno aufgeben, dann ging Haffmans pleite. Jetzt ist eine dreibändige Ausgabe von Wielands Schriften zur deutschen Sprache und Literatur hinzugekommen, bei Insel. Da ist allerdings ein Bankrott nicht zu befürchten. Sechs Bücher immerhin sind lieferbar, bei Reclam jedoch vor allem: eher unschöne Ausgaben.

Da hat Wieland aber wirklich Besseres verdient. Nicht nur, dass seine Romane und sogar seine Verserzählungen von einer solch schönen, ausgewogenen und eleganten Sprache sind, von einem wunderbaren Takt- und Rhythmusgefühl, dass man sogar die Versepen gerne liest und noch viel lieber vorgelesen bekommt. Wieland selbst war zudem einer der interessantesten Männer seiner Zeit: Er war der erste der Weimarer Klassiker, vor Goethe, Herder, Schiller. Er hat als erster viele Stücke von Shakespeare übersetzt und aufgeführt, hat den Blankvers in Deutschland eingeführt und mit seiner "Alceste" die erste durchkomponierte deutsche Oper geschrieben: Leider ist die Musik nicht von Gluck oder Mozart, die zur selben Zeit die Oper reformierten und, wie Wieland, "prima la musica" verlangten (und "poi le parole"), sondern von dem Kleinmeister Anton Schweitzer. Wieland war lange Jahre der Herausgeber der wichtigsten Literaturzeitschrift, des "Teutschen Merkur". Er hat den modernen deutschen Roman um viele Formen bereichert, ja ihn eigentlich überhaupt erst erfunden: Seine Lust am Experiment mit Form und Inhalt und die Psychologie seiner Figuren machen ihn eigentlich zu einem Vorläufer des 20. Jahrhunderts.

Viele, vor allem die Romantiker, haben ihn angegriffen, Goethe hat ihn, den kleinen Mann mit Hang zum Griechentum, in einem Theaterstück mit dem vielsagenden Titel "Götter Helden und Wieland" verspottet. Und Wieland hatte die innere Größe, ihn dafür in seinem "Merkur" mit lobenden Worten zu bedenken: "Wir empfehlen diese kleine Schrift allen Liebhabern der pasquinischen Manier [Schmähschriften, d. Verf.] als ein Meisterstück von Persiflage und sophistischem Witze, der sich aus allen möglichen Standpunkten sorgfältig denjenigen auswählt, aus dem ihm der Gegenstand schief vorkommen muß, und sich dann recht herzlich lustig darüber macht, daß das Ding so schief ist." Und das sagte er Goethe, der weder Kleist noch Hölderlin verstand und stets eifrig diejenigen wegbiss, die ihm Konkurrenz zu machen drohten. Da war er allerdings doch etwas beschämt.

Die neue, dreibändige Ausgabe fasst erstmals alles zusammen, was Wieland zur deutschen Sprache und Literatur geschrieben hat. Sie bringt seine frühen, recht wüsten Polemiken gegen Gottsched, als Wieland selbst noch Partei war. Damals teilte er kräftiger und manchmal ungerechter aus als er es später tat, als er gegen Nicolai schrieb. Die drei Bände bringen Wielands noch heute sehr bedenkenswerten Überlegungen zur Hochsprache, zur Übernahme von Fremdwörtern, zur Rechtschreibung, zur Übersetzbarkeit (die er mit Horaz und Shakespeare selbst vorgeführt hat). Was heute das Englische ist, das die deutsche Sprache überflutete, das kaum gekonnt und oft noch viel weniger sinnvoll angewandt wird, war damals das Französische: Wer gebildet war oder es scheinen wollte, musste es sprechen. Das gelang aber nicht allen. In seinem Aufsatz "Über den Vorschlag unsre bisherigen Demoisellen künftig Fräulein zu betiteln" schreibt Wieland, es gebe nicht den mindesten Grund, "warum der Gebrauch des französischen 'Demoiselle' länger beybehalten werden sollte; sondern es wäre vielmehr sehr ungereimt, aus bloßem Eigensinn auf dem Gebrauch, oder richtiger zu reden, auf dem Mißbrauch eines fremden Wortes bestehen zu wollen, für welches wir das völlige Aequivalent in unsrer eigenen Sprache besitzen."

Auch wenn er, wie er an anderer Stelle schreibt, "nichts weniger als ein Freund der Neuerungssucht (ist), die in unsrer Zeit schon so manche abentheuerliche, lächerliche, und zum theil schädliche Ausschweiffungen hervorgebracht hat", weiß er doch auch, dass es in Fragen der Rechtschreibung "schwer (ist) mit sich selbst einig zu seyn", "wo jeder thut was ihm Recht däucht, und die Regeln selbst so vielen Ausnahmen unterworfen sind, daß man leicht verführt wird, die Ausnahmen hinwieder zu Regeln zu machen, und aus Mangel fester Grundsätze bald weiter auszudehnen bald enger einzuschränken." Ein passender Kommentar zu den grassierenden Rechtschreibreformen, die ja auch kein Ende nehmen werden.

Man kann in diesen Bänden in aller Ruhe und in großer Vollständigkeit Wielands Engagement zur Teilnahme der Frauen an der Bildung nachlesen, wie er ja auch in seinen großen Romanen stets sehr eigenständige, gebildete, freche und schöne Frauen zu Hauptpersonen gemacht hat. Man erfährt von seiner Förderung von Autoren und Autorinnen, vor allem Sophie von LaRoche. Man kann viele seiner Rezensionen nachlesen, mit denen er selbst die Großen gefeiert hat, die ihm völlig fremd waren, in denen er selbst bei Kleinen noch schöne Stellen und interessante Gedanken entdeckte, und lieber diese betonte als zu kritisieren. Vor allem Schlampereien und Ungenauigkeiten griff er an, dieser Meister im Feilen und Umarbeiten, der den dicken, tausendseitigen Roman "Aristipp" mehrfach umschrieb (und das ohne Computer, ohne Schreibmaschine: mit der Hand!)

Mit kopfnickender Nachdenklichkeit nimmt man die Anmerkungen zur Kenntnis, die er zum Schriftstellerdasein selbst geschrieben hat: "Tausend Dinge, die Ihr Leben verbittern werden, sind an sich betrachtet Kleinigkeiten; aber für den Nervenbau, für die Einbildung, für das Herz eines Dichters werden's schwere Leyden sein. Ein einziges schiefes oder hämisches Urtheil, ein einziger dummer Blik eines Zuhörers bey einer Stelle, die ihm einen elektrischen Schlag hätte geben sollen, oder die Frage 'was meynten Sie damit?' bey einer feinen Ironie - wird Sie gegen den Beyfall von Tausenden unempfindlich machen (....)." Ein schöner Kommentar für alle Leser, auch für uns Rezensenten.

Einiges dieser dreibändigen Ausgabe wird wohl nur für Spezialisten interessant sein, anderes kann man leicht auf heutige Zustände übertragen. Alles aber kann man mit Gewinn und Genuss lesen. Manches ist auch heute noch, über 200 Jahre später, modern, manches hat sich leider immer noch nicht verändert. Über allem aber steht der Stil, in dem Wieland schreibt. Denn selbst wenn er sich aufregt, wenn er tadelt, wenn er ironisch wird oder sich essayistischen Schwüngen hingibt, selbst wenn er nur kurz etwas zu melden hat, stets beherrscht er die Sprache wie kein zweiter, schreibt ein elegantes, musikalisches (man kann fast sagen "swingendes") Deutsch, für das man ihn immer wieder bewundern muss. Wie Arno Schmidt einst dekretierte: "Jeder Prosafachmann sollte daran interessiert sein, von Wieland zu lernen; einem Manne, durch dessen Schreibtisch wir Schriftsteller unsern ersten Meridian ziehen müßten."


Titelbild

Christoph Martin Wieland: Schriften zur deutschen Sprache und Literatur.
Herausgegeben von Jan Philipp Reemtsma und Hans und Johanna Radspieler.
Insel Verlag, Frankfurt a. M. 2005.
2100 Seiten, 98,00 EUR.
ISBN-10: 3458172696
ISBN-13: 9783458172697

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