Der Hitlergruß

Tilmann Allerts exemplarische Mikrosoziologie einer Geste

Von Claudia SchmöldersRSS-Newsfeed neuer Artikel von Claudia Schmölders

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mag sein, wie Klaus Harpprecht neulich meinte, dass der Hitlergruß im Mai 1945 urplötzlich wie ein Spuk verschwand, weil keiner ihn mehr benutzte. Für die Lager der PWs, der Prisoners of War, wird es gestimmt haben, denn wer hätte sich vor den Alliierten mit einem deutschen Gruß blamieren mögen. Aber sonst? Heute jedenfalls steht er bedrückend wieder im Bild. Längst ist er den neonazistischen Gruppen wieder Signal, längst wird er trotz Strafbewehrung zu allen möglichen Anlässen wieder benutzt und als pseudonyme "88" gehätschelt. Vor ein paar Jahren wurde ein altes Ehepaar mit vorgehaltenem Messer gezwungen, den Gruß auszusprechen und erst vor wenigen Monaten erstach ein Mann einen anderen mit diesem Ausruf. Könnte sich seine Klientel mit dem vorliegenden Buch befreunden? Sicher nicht. Zu vernichtend fällt das Urteil für sie darin aus. Doch gibt es eine leidenschaftliche Urteilsbegründung. Und deshalb sollte sie es besser doch lesen.

Finden kann man hier ein kühnes Konstrukt in einem schmalen, vielleicht zu schmalen Buch: an einer einzigen Gebärde die erst eisige, dann blutrünstige Sozialität des Hitlerismus zu demonstrieren. Die Richtlinien des NS-Studentenbundes sprachen es aus: "Der deutsche Gruß muß Dir selbstverständlich werden. Lege ab das 'Grüß Gott' 'auf Wiedersehen', 'Guten Tag' 'Servus'!" Denn: "Wer nicht in den Verdacht kommen will, sich bewusst ablehnend zu verhalten, wird daher den Hitlergruß erweisen."

Nach dem Vorbild der italienischen Fascisten adaptiert, machte Rudolf Heß die Geste für die Partei 1926 obligatorisch; ab 1933 wurde sie alltägliche Pflicht, in den Schulen sogar bei jeder Unterrichtsstunde zu Anfang und Ende, selbst in der Pause, dann natürlich bei Grüßen vor Polizei und Wehrmacht, vor NS-Weihestätten, vor der Fahne, beim Singen des Horst Wessel-Lieds etc.

Doch haben wohl nur die radikal Verrückten den Gruß wirklich beständig ausartikuliert. In der Eile des Alltags wurde daraus gern "Heitler"; Witze ließen nicht auf sich warten. Was für ein Glück, dass Hitler nicht "Kräuter" hieß, soll Karl Valentin dazu gesagt haben. Chaplin karikierte die Geste im "Großen Diktator" weidlich und meinte zu Hitlers eigenem "schlampigen Führergruß" mit rückwärts nach oben geworfener Hand: Am liebsten hätte er ein Tablett mit schmutzigen Tellern darauf gestellt.

Trotzdem gab es nicht viel, ja eigentlich gar nichts zu lachen, denn der Gruß war ja als ein Stück Gottesdienst gedacht. Tilman Allert lässt seinen Essay mit der zentralen Verschiebung der Grußformel einsetzen, wie sie Samuel Beckett im Jahr 1937 am Regensburger Dom vorfand. Dort, auf der Nordtüre, hatte jemand auf einem Schild die Worte "Grüß Gott" überschrieben mit "Heil Hitler".

Die Durchsetzung dieses Gebrauchs markiert, wie Allert zu Recht sagt, eine Zäsur in der Interaktionsordnung: "Der Hitlergruß, die unheilvolle Geste der nationalsozialistischen Zeit, hat die Trivialität der menschlichen Begegnung moderiert und mit einer bleischweren Sanktionsdrohung versehen. Wie ist er entstanden? Wie hat er sich verbreitet? Wie konform hat man sich gegenüber dem Grußgebot verhalten? Welches waren die Ausdrucksformen der Verweigerung oder des Kompromisses und wo liegen die Voraussetzungen für seine innere Annahme? Diesen Fragen gilt unsere Aufmerksamkeit."

Kursorisch verfolgt er die Perversion des hagiografischen Grüßens in Deutschland: Angefangen von den landschaftlichen Varianten - das Nord-Süd-Gefälle -, über soziale Formationen wie den Studentenbünden bis in die Institutionen von Familie, Kirche und Wehrmacht. Zitate aus der Erinnerungsliteratur belegen, was für Gräben das Grüßen oder Nichtgrüßen zwischen allen Mitgliedern der Gesellschaft aufzureißen imstande war. Kinder, die gegen den Willen der Erwachsenen grüßten, Erwachsene, die gegen den Willen von Vorgesetzten nicht grüßten, Gruppen, die den Gruß ihrer Mitglieder erzwangen oder sie ausstießen. Wer von den widerständigen Zeitzeugen noch lebt, weiß Lieder davon zu singen.

Aber es gab auch andere, scheinpositive Aspekte. Für den Gruß als Teil einer "Sozialreform", wie sie der Hitlerismus doch unterhalb seiner Religionsansprüche zu sein verlangte, sprach zweierlei. Zum einen die durchgängige Neuordnung der Gesellschaft in eine (Rasse-)Gesellschaft von Gleichen statt von Ungleichen. Der "deutsche Gruß" galt für alle im Sinne einer intra-nationalen Gebärde. Als inter-nationale grenzte sie die Deutschen von andern Nationen ab, und zwar demonstrativ rassistisch. Zugleich ersparte der Gruß eine Fülle von Umständlichkeiten gemessen an der wilhelminischen Vorgeschichte des Grüßens unter Ungleichen. HH als Ausruf oder Floskel im Brief war kürzer, demokratischer und gleichsam sachlicher.

Dennoch will Allert seine Grußgeschichte weniger als einen Beitrag zur historischen Praxis verstanden wissen. Die Höflichkeitsliteratur der Zeit überspringt er. Stattdessen offeriert er uns eine theoretische Mission - und eben diese hebt sein Buch aus der Masse der NS-Forschungsliteratur wohltuend heraus. "Die Grußhandlung als eine Moderation der Begegnung, als Praxis der Öffnung zum Anderen mitsamt ihren Voraussetzungen und Folgen" möchte er am gegebenen Beispiel aufrollen, mit den Mitteln einer phänomenologisch gewendeten Mikrosoziologie. "Als das kürzeste Stück Gesellschaft, das Menschen in der unendlich reichhaltigen Choreographie ihrer Begegnungen miteinander aufführen können, schließt der Gruß die Tür zum Anderen auf, verteilt die Rollen, stellt Gegenwärtigkeit her und öffnet den Raum für Geschichte und Innovation."

Zweierlei kann Allert unter dieser Prämisse verhandeln. Zum einen die Tendenz des Grußes, zum Schwur mit Ewigkeitsanspruch zu werden, vergleichbar dem Schweizer Rütli-Schwur. Ewigkeiten sind mit dem Alltagsgruß aber gerade nicht gemeint, dieser will vielmehr Präsenz "moderieren". Hier erst erhält er seine prekäre Konsistenz, gehört doch der Alltagsgruß in einen beweglichen Horizont möglicher Konfrontation. Das Grüßen an sich, schreibt Allert, "ist alles andere als harmlos, vielmehr ist es ein Mittel, die Krise der Begegnung zu bewältigen." Mit dem Schwenk zur Begegnung erinnert er an den Situationismus der menschlichen Interaktion, die ja immer auch Freiheit der Reaktion einschließt, immer auch eine Palette an Alternativen bietet: "Appell, Drohung und Heimtücke, Usurpation und Gewalt liegen als Handlungsoptionen in unmittelbarer Nachbarschaft des Grüßens, aber auch die Bitte, der Eid und der Segen, Huldigung und Glückwunsch". So lassen sich die beiden Grußparteien der deutschen Gesellschaft beschreiben - die eine unter der Drohung des Führergrußes leidend bis zur Panik, die andere erfüllt von verschworener Seligkeit.

Allerts Ausführungen dazu machen die Lektüre nicht ganz einfach. Doch im Rahmen der neueren Forschung ist seine humanwissenschaftliche Kreuzung von historischer wie systematischer Fragestellung hochinteressant. Das Buch kommt zur rechten Zeit, ist doch die Geste als solche seit ein paar Jahren zur eigenen Wissenschaft mutiert. Seit vier Jahren gibt es eine Zeitschrift namens "Gesture", seit drei Jahren eine "International Society for Gesture Studies", seit einem Jahr sogar verschiedene "Gesture Centers", darunter eines in Berlin. (Hier kann man sich, mitten in der Technischen Universität, für 300 Euro einen Dreitageskurs kaufen, um sich über das Wesen der Geste belehren zu lassen.)

All diese Aktivitäten treffen ins Herz der neueren, interdisziplinären humanities. Längst stehen diese nicht mehr als feindliche Alternative zur science im Raum, denn der Körper interessiert beide Parteien. Seit Darwin gibt es eben nicht nur die Lehre von der Evolution, sondern auch eine von der Kommunikation; und seit und mit dem neuronal turn bei Darwins Erben schlägt man die Brücke zur Künstlichen Intelligenz (KI). Die erwähnten "Gesture Studies" enthalten also Arbeiten über Gebärden bei Mensch, Tier und Robotern. An spezifisch Menschlichem sind sie dabei eher weniger interessiert. Primaten und Automaten haben uns aus dem Fokus verdrängt. Eine Studie wie jene von Tilman Allert könnte hier als Korrektiv wirken. Denn einerseits appelliert sie sehr wohl an das szientifische Fachwerk, andererseits hält sie an der humanen Mitte fest. Dass dies aber ausgerechnet am Leitfaden des Führergrußes geschehen muss und geschieht, hat auch etwas Wahnsinniges.

Anmerkung der Redaktion: Der Text erschien zuerst in "Literaturen" Nr. 10/2005. Wir danken der Autorin für die Publikationsgenehmigung.


Titelbild

Tilman Allert: Der deutsche Gruß. Geschichte einer unheilvollen Geste.
Eichborn Berlin, Berlin 2005.
156 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-10: 3821857617

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