Hin nach Hellas

Zwei Studien widmen sich dem Verhältnis Hölderlins zur "Erfindung der Antike" um 1800

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und zu Beginn des 19. Jahrhunderts gelangte die Antikerezeption in der deutschen Literatur zu ihrem Höhepunkt. So vollzog sich insbesondere ein Übergang von der Position einer normativen zu einer historisch-methodischen Geltung des Altertums. Waren bis weit ins 18. Jahrhundert hinein die überlieferten Werke und Lehren oft in einer ausschließlichen, starren und formalen Art als musterhaft betrachtet worden und hatten die antiken Autoren gleichsam als naturgegebene Autoritäten gegolten, so setzte sich nunmehr eine umfassende und innovative Rezeptionshaltung durch. Die 'Alten' galten nicht mehr als Muster, sondern als Exempla für die Art und Weise dichterischen Schaffens; ihren Texten wurde zwar Vollendung, aber auch Einzigartigkeit und Unwiederholbarkeit zugesprochen. Die latente Spannung zwischen klassizistischer Ästhetik und aufklärerischem Historismus, zwischen Kanonisierung des Altertums und Anerkennung der Eigenständigkeit anderer Kulturen gehört zu den Wesensmerkmalen des Antikebildes um 1800.

So hat das 18. Jahrhundert unter Rekurs auf die Antike erst an seinem Ende mit dem Entwurf einer Frage begonnen, die ein ebenso markantes wie mehrdeutiges Datum erzeugt und das Werden eines Zeitalters vom Augenblick seines Gewordenseins trennt. "Wo stehn wir?", fragte Wilhelm von Humboldt 1795/96 in seinem Rückblick auf "Das achtzehnte Jahrhundert": "welchen Theil ihres langen und mühevollen Weges hat die Menschheit zurückgelegt? befindet sie sich in der Richtung, welche zum letzten Ziel hinführt? und wie weit ist es ihr gelungen, in dieser Richtung fortzuschreiten?". Die Vergangenheit wird in der Aktualität ihres Vergehens virulent; und das Wissen des 18. Jahrhunderts ist offenbar in der Perspektive Humboldts so organisiert, dass es an seinem Ende die Frage nach seinem Wissen selbst möglich gemacht hat. Der Augenblick, in dem sich Humboldts Text lokalisiert, ist ein flüchtiges Anhalten zwischen zwei Epochen, eine Schwellenerfahrung, an der die Reflexion auf das Heute und die Charakteristik des eben Vergangenen einander bedingen. Zugleich verlagerte sich auf dieser Schwelle der Schwerpunkt der Antikerezeption von Rom auf Griechenland, wobei man sich mehr oder weniger auch bewusst war, dass es beim 'klassischen' Griechenbild nicht so sehr um die historische Richtigkeit als um die aktuelle Idealbildung ging. Vielen Dichtern waren die Antagonismen der Antike jedoch nicht fremd; vielmehr war ihnen bewusst, dass sie das Ideal der Humanität aus den Bedürfnissen der eigenen Zeit heraus in die antiken Paradigmata hineinprojizierten. Angesichts dieser evidenten Diskrepanzen zwischen klassischem Ideal und historischer Wirklichkeit erhoben sich von Anfang an auch skeptische Stimmen gegen eine allzu enthusiastische Verklärung der Antike. Um 1800 enthält das Griechenbild der deutschen Literatur - trotz aller Verherrlichung und Idealisierung - auch elegische Momente, ist offen für inhumane und grausame Aspekte des menschlichen Lebens und weiß von der Vergänglichkeit antiker Harmonie.

Im Unterschied zu den Frühromantikern, die aus der Einsicht in den Kontrast zwischen Antike und Moderne heraus zu einer mehr oder weniger deutlichen Distanzierung von der Antike gelangten, wandte sich Friedrich Hölderlin aus exakt dieser Einsicht heraus zu dessen um so tieferer Verehrung. Vor allem in seinem Aufsatzentwurf "Der Gesichtspunct aus dem wir das Altertum anzusehen haben" - einem deutlichen Protest gegen Winckelmanns lange Zeit erfolgreiche These von der Nachahmung der griechischen Kunst - führt Hölderlin aus, "daß das Altertum ganz unserem ursprünglichen Triebe entgegenzuseyn scheint", und sieht einen Gegensatz zwischen dem modernen "Bildungstrieb", "der darauf geht, das Ungebildete zu bilden, das Ursprüngliche Natürliche zu vervollkommnen", und der in sich selbst ruhenden Harmonie der 'Alten'. Hölderlin befürchtet, dass "eine fast gränzenlose Vorwelt, die wir entweder durch Unterricht, oder durch Erfahrung innewerden, auf uns wirkt und drükt", sodass wir ebenso wie andere Völker untergehen müssten. Zugleich aber distanziert er sich von einem Traum "von Originalität und Selbstständigkeit", von dem Glauben, "lauter Neues zu sagen", da dies nur eine "Reaction, gleichsam eine milde Rache gegen die Knechtschaft" sei, "womit wir uns verhalten haben gegen das Altertum".

Hölderlins gesamtes Schaffen ist vom Bild einer griechischen Antike geprägt, das mehr auf das Dionysische und Symptomatische, auf Dynamik und 'Enthusiasmos' ausgerichtet ist als auf Vorstellungen von "edler Einfalt und stiller Größe". Dabei legt Hölderlin den Akzent auf die Harmonie der antiken Lebensweise, sodass in seinen Texten auch ein stärkerer gesellschaftlich-politischer Akzent spürbar wird. Sein Griechenland-Bild ist im Wesentlichen bestimmt von dem Ideal einer Verbindung des Intellektuellen und Künstlers mit der Gemeinschaft des Volkes. Dies wird besonders deutlich im letzten Brief des ersten Bands des 1799 erschienenen Romans "Hyperion", in dem Hölderlin der europäischen Wirklichkeit seiner Zeit mit ungeheurer Anteilnahme und Intensität das antike Griechenland gegenüberstellt. Die Welt der griechischen Polis verkörpert für ihn das Ideal einer naturverbundenen menschlichen Gesellschaft - im antagonistischen Gegensatz zur modernen Entfremdung des Menschen von der Natur und von sich selbst. Eine pantheistische Naturvorstellung und das Ideal einer harmonischen Gesellschaft werden auf die griechische Welt projiziert, die griechische Antike damit gleichsam 'erfunden'.

Die Formel 'Erfindung der Antike', in der sich eine Lesart mit genitivus subjectivus und eine mit genitivus objectivus überlagern, nimmt Alexander Honold in seinem Buch "Nach Olympia" zum Ausgangspunkt seines Versuchs, Hölderlin im Diskurs über die griechischen Antike um 1800 zu situieren. Er verweist darauf, dass Ruinen und beschädigte Plastiken, unvollständige Überlieferungen und ein zeitlicher Abstand von mehr als zwei Jahrhunderten es erforderlich machten, "die ideale Antike neu zu erfinden". Ausgehend von "Hyperion" und dessen dichterischen Entwurf des antiken Olympia entfaltet Honold den Kon-Text des Romans: ein Panorama jener außerordentlichen Griechenland-Begeisterung, die in pittoresken Reisebeschreibungen Ausdruck fand und zum Beginn der modernen Archäologie wurde. Das 'Olympia-Projekt' erweist sich für Honold als Dreieck von Literatur, Archäologie und Körperpädagogik, "in dem sich die Tendenzen eines antikisierenden Bildungsideals und des nationalkulturellen Reform-Diskurses um 1800 bündelten. Nach dem Vorbild der antiken Kampfspiele setzten philanthropische Pädagogen und graecophile Poeten Turner und Verse für das Vaterland in Bewegung". Damit schließt Honold eine wesentliche Lücke in den bisherigen Forschungsbemühungen um Hölderlins Verhältnis zur Antike, da es diesen bislang an kulturwissenschaftlich orientierten Studien über die sozialen Formen, Rituale und Einrichtungen mangelte, in denen sich für Hölderlin die Aktualität antiker Mythologie und Lebensweise verwirklichen sollte. Zu Recht moniert Honold, dass von philologischer Seite bislang Hölderlins brennendes Interesse für die antike Kultur des Körpers im Allgemeinen und die Olympische Spiele im Besonderen geleugnet wurde. Gänzlich unbeleuchtet geblieben ist, "daß und wie Hölderlin die Genese der antiken Festspiele von Olympia als Musterbeispiel einer kulturellen Stiftung seiner eigenen Zeit zu deuten versuchte". Hölderlins Revitalisierung der griechischen Antike ist "als Teil eines philosophischen, ästhetischen und pädagogischen Diskurses zu sehen [...], der schon seit Mitte des 18. Jahrhunderts an einer Wiederbelebung des mit Olympia verbundenen agonalen Körperkults und Erziehungsideals arbeitete".

Die vielleicht bedeutendste Gestaltung des Hölderlin'schen Griechenlandbildes finden sich in dem hexametrischen Hymnus "Der Archipelagus" (1800/01), in dem der Dichter das beispielhafte Werden einer idealen Gesellschaft in utopischer Verklärung schildert, eine harmonische Gemeinschaft, in der aus der schöpferischen Kraft eines naturverbundenen Menschentums eine glanzvolle Natur entsteht. Natur und Gesellschaft bilden eine große Einheit; ein kosmisch-vollkommenes Leben nach stoischer Vorstellung erzeugt auch eine Polis als gelebte Harmonie. Dabei vermeidet Hölderlin sowohl eine absolute Verklärung der Antike wie ein uneingeschränktes Nachahmungsgebot. Er glaubt zu erkennen, dass in einer Hypertrophierung des Menschlichen und des Ästhetischen gegenüber dem "Vaterländischen" und Religiösen eine Ursache für den Untergang der Antike zu sehen sei: "Drüben sind die Trümmer genug im Griechenland und die hohe / Roma liegt, sie machten zu sehr zu Menschen die Götter", lautet eine Variante zum "Archipelagus" - und ein Gedichtfragment: "Nemlich sie wollten stiften / Ein Reich der Kunst. Dabei ward aber / Das Vaterländische von ihnen / Versäumet und erbärmlich gieng / Das Griechenland, das schönste, zu Grunde". Die Erinnerung an Griechenland als an ein weltgeschichtliches Ideal aus der Vergangenheit aber soll vor allem dem Aufbau der eigenen künftigen Kultur und Gesellschaft dienen. So heißt es im "Archipelagus": "Dann, dann, o ihr Freuden Athens! ihr Thaten in Sparta! / Köstliche Frühlingszeit im Griechenlande! wenn unser / Herbst kömmt, wenn ihr gereift, ihr Geister alle der Vorwelt! / Wiederkehret und siehe! des Jahrs Vollendung ist nahe! / Dann erhalte das Feuer auch euch, vergangene Tage! / Hin nach Hellas schaue das Volk, und weinend und dankend / Sänftige sich in Erinnerungen der stolze Triumphtag!". Honold unterstreicht in diesem Zusammenhang völlig zu Recht, dass das, was Hölderlins geschichtlichen Schreib-Ort in besonderer Weise kennzeichnet, "die intensive und geradezu existentielle Reflexion auf die Distanz [ist], welche die politische, sozialhistorische und kulturelle Situation in seiner Heimat von diesen Bezugspunkten trennt - eine Distanz, durch die eine ästhetische und normative Orientierung am klassischen Griechenland und am revolutionären Frankreich zu einem 'ex-zentrierenden', aus der als Heimat erfahrenen Lebenswelt hinausweisenden Anspruch und Angriff wird".

Für Hölderlins ex-zentrischen Blick auf die griechische Antike steht in den späten Jahren die Beschwörung einer Antike, die das Dionysisch-Orphische, Hymnisch-Begeisternde und Trunkene in sich einschließt. Die lebensspendende Destruktivität des Halbgottes Dionysos verweist bei Hölderlin - worauf Martin Jörg Schäfer jüngst aufmerksam gemacht hat - auf die völlige Dynamisierung stabiler Symbolsysteme, die die Gefahr einer entfesselten Destruktivität heraufbeschwört, "welche er in einer 'poetischen Logik' durch die Befestigung der Vorstellung auszubalancieren und so ein Wissen von der Flüchtigkeit des Materiellen zu ermöglichen versucht, das nicht selbst dieser Verflüchtigung unterläge". Gegen die Ordnungsliebe Winckelmanns stellt Hölderlin die Vieldeutigkeit des Theatergottes Dionysos, der, wo seine wahnsinnige Raserei zerstört und anderen wie sich den Tod bringt, auch neues Leben spendet und damit auf die grausam-vitale Seite der Antike verweist. Vor allem in den Sophokles-Übersetzungen wollte Hölderlin - durch die Akzentuierung "exzentrische[r] Raserei", durch das "Feuer vom Himmel" und das "heilige Pathos" - das des griechischen Theaters Eigentümliche herausarbeiten, das die Griechen selbst zugunsten der "Klarheit der Darstellung" verleugnet hatten, die ursprünglichen Impulse der sophokleischen Sprache, die der Tragiker gemildert hatte, freilegen und somit das vollenden, was den Griechen selbst zu vollenden unmöglich war. In den beigegebenen "Anmerkungen zur Antigonä" variiert Hölderlin seine Aussage bezüglich des Verhältnisses von Antike und Moderne noch einmal dahingehend, dass es die "Haupttendenz" der Griechen gewesen sei, "sich fassen zu können", d. h. die Ekstase in Form und Maß zu bändigen, während es die "Haupttendenz" der abendländischen Kunst sei, "etwas treffen zu können", d. h. aus den Regeln auszubrechen und das Wirkliche zu ergreifen.

Schaut man abschließend noch einmal auf "Hyperion", kommt man mit Honold nicht umhin zu konstatieren, dass Hölderlins Griechenland-Topos im Rahmen seines Kulturtransfers nicht intakt bleibt. "Er öffnet sich einmal zur trostlosen Gegenwart eines in Trümmern liegenden Athen [...] und verweist zum zweiten auf die kulturellen Bedingungen seiner Entstehung. 'So kam ich unter die Deutschen', muß Hyperion am Ende des zweiten Bandes feststellen. Das will sagen: in die Heimstatt selbstgefälliger Unbedarftheit. Aber auch: in eine Kultur, die sich ihre Antike erfindet, weil sie sie nötig hat". Mit seiner kenntnisreichen Analyse des 'Olympia-Projekts' gelingt Honold nicht weniger als ein neuer Blick auf Hölderlins tragisches Ringen um die Revitalisierung der griechischen Antike um 1800, die bis an sein Lebensende ging, lautet doch ein Gedicht aus Hölderlins Todesjahr 1843 bezeichnend: "Griechenland".


Titelbild

Alexander Honold: Nach Olympia. Hölderlin und die Erfindung der Antike.
Verlag Vorwerk 8, Berlin 2002.
244 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-10: 3930916517

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Martin J. Schäfer: Szenischer Materialismus. Dionysische Theatralität zwischen Hölderlin und Hegel.
Passagen Verlag, Wien 2003.
264 Seiten, 30,00 EUR.
ISBN-10: 3851656199

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch