Hiobs Nachkommen

Zu Anton Tschechows neu übersetzten Erzählungen

Von Laslo ScholtzeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Laslo Scholtze

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine junge Frau befindet sich in den frühen Morgenstunden mit einem Oberst, der seit kurzem ihr Ehegatte ist, sowie einer Freundin und einem ehemals angehimmelten Freund auf dem Rückweg von einem rauschenden Fest. Sie ist ausgelassen und übermütig, will im Hochgefühl sogar die dahinjagende Kutsche lenken. "In den letzten zwei Monaten, seit dem Tag ihrer Hochzeit, hatte sie der Gedanke gequält, den Oberst Jagitsch nur aus Berechnung geheiratet zu haben...; doch heute in dem Vorstadtrestaurant konnte sie sich endlich davon überzeugen, dass sie ihn leidenschaftlich liebte." So beginnt bei Tschechow der Schlamassel.

Es bedarf danach weder überraschender äußerer Vorkommnisse, noch müsste der Erzähler seine Zurückhaltung aufgeben - die Figuren demontieren sich selbst, unvermeidlich und viel schneller als man vermuten würde. "Oh, mein Lieber! dachte sie. Du bist wundervoll!" Doch der Sog zersetzender Kräfte kündigt sich schon einige Zeilen später lapidar an: "Ihre Gedanken verwirrten sich". Verdrängtes verschafft sich Raum, Zweifel und Verunsicherung breiten sich aus. Folgerichtig gehen Albernheiten und Unverständliches unversehens in Schmerz und Verzweiflung über. Vor allem die Transparenz, in der sich die seelischen Verwicklungen zu einem Bündel Ausweglosigkeit zusammenschnüren, begleitet von einem nüchtern-ironischen, bisweilen spöttischen Erzähler, scheint auf Kafka hinzudeuten.

Natürlich hat die junge Frau ihren Oberst aus Berechnung geheiratet, um bedrückenden Verhältnissen zu entkommen, obwohl er so alt ist wie ihr Vater und sie weiß, dass schon ihre Tante an einer Ehe mit ihm zugrunde gegangen ist. Und natürlich liebt sie den anderen noch, der aber erst, seit sie verheiratet ist, Interesse an ihr zeigt. Ihr Gefühlsdurcheinander, das so kleinmütig wie schmerzhaft ist, veranlasst sie reflexartig, ihre Schwester Olja aufzusuchen, die als Nonne im Kloster lebt, um Ruhe und Frieden zu finden. Aber wie für K. im Dom bietet auch für Sofja das Gotteshaus keine Lösung. Der Alkohol verfliegt, die Kopfschmerzen wüten, sie beginnt eine Affäre und äußert ausgerechnet vor ihrem Liebhaber den Wunsch, ein gewandeltes, reines Leben zu führen - und erhält die gewissermaßen treffende Antwort: "Tararabumbija". Verirrung und Verachtung umgeben sie. Das trostlos quälende Leben indes geht weiter seinen Gang. "Tagtäglich kam sie zu Olja ins Kloster, belästigte sie geradezu, indem sie sich bei ihr über ihre unerträglichen Leiden beklagte und weinte, wobei sie aber spürte, dass durch sie etwas Unreines, Erbärmliches und Schäbiges in die Klosterzelle eingekehrt war, und Olja antwortete ihr mechanisch, so wie man eine auswendig gelernte Lektion aufsagt, dass all das unbedeutend sei, alles vorbeigehe und Gott alles vergebe." - Von irgendwoher meint man es hinüber flüstern zu hören: "Und es war, als wollte die Scham sie überleben".

Natürlich hat die Vergleichbarkeit ihre Grenzen: Gleichwohl, will man den Wurzeln modernen europäischen Erzählens nachgehen, ist der 1860 geborene Russe Tschechow unumgänglich.

Die typische Sparsamkeit der Erzählmittel, seine Konzentration auf Persönlichkeiten, denen er nie die Würde, stets aber die Eindeutigkeit und das Vermögen nimmt, ihr Leben als kohärent zu begreifen, sowie nicht zuletzt sein Changieren zwischen Alltäglichem, Allzumenschlichem und tiefer, unsentimentaler Anteilnahme prägen Tschechows Geschichten in je individueller Weise. Das Ironische im Ton kommt fein und leicht daher, mit einem spöttischen Lächeln, von dem sich schwer sagen lässt, ob Schmerz oder Gelassenheit darin überwiegen. Der Einfluss dieses Tschechow'schen Erzählens reicht von Joyce und Mansfield bis zu Nabokov und Woody Allen.

Der Verlag Artemis & Winkler hat die Erzählungen von Anton Tschechow in neuer Übersetzung aufgelegt. Damit wird die Neuübersetzung von Literaturklassikern, die 2002 mit Jules Verne begonnen wurde, fortgesetzt. Die vierbändige Ausgabe folgt einer Einteilung in vier Zeiträume, die zusammen Tschechows Erzählungen chronologisch von 1880 bis 1903 umfassen. Der hier vorliegende dritte Band trägt den Titel "Ariadna - Erzählungen 1892-1895" und enthält zwar nicht "Die Dame mit Hündchen" (1899), aber doch eine profilierte Auswahl von 15 Erzählungen. Darunter "Der schwarze Mönch", "Wolodja der Große und Wolodja der Kleine", "Ein flatterhaftes Wesen" und "Krankensaal Nr. 6". Für die Herausgeberschaft zeichnet Gerhard Bauer verantwortlich, der bereits 2000 eine umfangreiche Tschechow-Biografie vorlegte und hier nun ein erwartungsgemäß dichtes, präzises Nachwort verfasst hat. Die Arbeit des namhaften Übersetzerteams ist nicht unumstritten - der stilistischen Leichtigkeit sollen hier und da Bedeutungsnuancen zum Opfer gefallen sein -, gilt aber auf Ganze gesehen als gelungen.

Der russische Philosoph Leo Schestow zählte Tschechow, neben Autoren wie Heine, Dostojewski und Nietzsche, zu den Helden seiner Kategorie schreibender Nachkommen des biblischen Hiob. Damit ist vor allem gemeint, sich konsequent des Predigens und Belehrens, ja bereits jeglichen Gestus der Abgeschlossenheit zu enthalten, wenn es darum geht, Leben zu beschreiben, das flüchtig und unstet ist. Der Versuchung entgehen, als Autor mehr wissen zu wollen über die Figuren als ihre verquere, leidende Lebendigkeit erlaubt.

Hierin ist Tschechow, ebenso wie in seiner klarsichtigen Gesellschaftsabbildung, auch ein politischer Schriftsteller: "Sattheit enthält, wie jede andere Kraft, immer auch ein bestimmtes Maß an Frechheit, und dies äußert sich vor allem darin, dass der Satte dem Hungrigen Lehren erteilt." Nietzsche bemerkte einmal ironisch-bitter: "Der Kranke hat kein Recht, Pessimist zu sein". Und tatsächlich schreibt Tschechow, von Beruf Arzt, als Kranker über Kranke. Nicht um von einem Trost zu reden, von dem er nichts weiß, vielmehr indem er das Kreatürliche und Sterbliche seiner Figuren mit deren Würde zusammenbringt.

Was Tschechows Tiefe bis heute unverbraucht erscheinen lässt, ist ihre Illusionslosigkeit. Der Autor selbst, das könnte für ein entzaubertes Zeitalter interessant sein, das ihn so gut zu verstehen meint, war ein gläubiger Mensch, der persönliche Entbehrungen und Opfer auf sich nahm, um anderen zu helfen oder Missstände publik zu machen. Der Kälte, die durch die Geschichten weht, fehlt es nie an Liebe für die Figuren. Nicht Resignation ist es, was die Erzählhaltung durchdringt, sondern die Einsicht, dass mit dem gedruckten Wort, das zur Fixierung neigt, vom Gottsuchen im Grunde nur als offenes Scheitern gesprochen werden kann. Und dass es dabei keinen Grund gibt, sich Spott und Humor zu versagen. In einem Brief schreibt Tschechow 1888: "Es ist nicht leicht, rein zu sein, wenn man es fertig bringt, den Teufel zu hassen, den man nicht kennt, und Gott zu lieben, an dem zu zweifeln das Hirn nicht reicht." Fast könnte es Hiobs Klagen entstammen.


Titelbild

Anton Tschechow: Ariadna. Erzählungen 1892-1895.
Artemis & Winkler Verlag, Düsseldorf 2004.
568 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3538069786

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