Inszenierungen von Herrschaft und Widerstand

Ein Sammelband zur Performativität von Macht

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Immer schon hat sich politische Macht in Szene gesetzt. Noch nie war die Inszenierung von Politik so prägend wie heute.

Im Spannungsfeld dieser beiden Aussagen bewegen sich die Beiträge in dem von Birgit Haas herausgegebenen Sammelband "Macht", der im Untertitel "Polittheater seit 1990" zu beleuchten ankündigt. Es ist ein doppeltes Spannungsfeld. Es geht um Fragen, ob es etwas Neues in der Inszenierung von Politik und den Reaktionen des Publikums gibt, und um die beiden Bedeutungen von "Polittheater": im ersten Teil des Bandes um die von Politikern und ihren Beratern inszenierten Auftritte, aber auch um theatrale und performative Elemente in den Widerstandshandlungen einer außerparlamentarischen Opposition, im zweiten Teil um die Reaktionen von Stückeschreibern, Regisseuren, Schauspielern.

Die Seite der Regierenden beleuchten unter anderem Paula Diehl in ihrem Aufsatz zu Körperinszenierungen Silvio Berlusconis und des früheren brasilianischen Präsidenten Fernando Collor de Mello, Barbara Kertai in ihrer Analyse der kalifornischen Wahlkampagne Arnold Schwarzeneggers und Peter W. Marx mit Anmerkungen zu Inszenierungsstrategien in der Berliner Republik. Es fällt auf, dass unter dem Gesichtspunkt des Performativen offensichtlich die Auftritte charismatischer Führergestalten besonders leicht zu analysieren sind; die selteneren Führerinnen fehlen hier. Wo es um Täuschungsmanöver geht, die von unauffälligerem oder gar nachgeordnetem Personal ausgeführt werden, ist die Kategorie problematisch.

So zeigt Christina Gerhardt überzeugend auf, wie die Bush-Administration vor und während des Irak-Kriegs die Öffentlichkeit belogen hat. Ihre Erklärung indessen greift zu kurz. Zwar belegt sie den Einfluss des Philosophen Leo Strauss, der die Herrschaft einer informierten Elite über dumm gehaltene Massen propagierte, auf viele der Neokonservativen in den USA. Doch lügen Regierungen in Kriegen habituell, ohne dass es dafür politisierender Philosophen bedürfte. Eine interessantere Frage wäre, mit welchen performativen Strategien ein administrativer Apparat, in dem doch einiges an politischer Erfahrung gesammelt sein müsste, sich von einer kleinen Führungsgruppe auf einen abenteuerlichen Kriegskurs bringen lässt. Vielleicht geht es da aber nur um das Wechselspiel von Drohung und Verlockung, die Karrieren der nächsten Monate betreffend.

Wichtiger noch, unter dem Gesichtspunkt der Inszenierung von Politik: Gibt es eine Ästhetik des Apparats, eine Auftritts- und Abbildungsweise jenes Konglomerats aus Ministerialbürokratie und Lobbyisten, das mehr entscheidet als die Leute im Rampenlicht? Hier handelt es sich um Leute, die umso mehr Einfluss ausüben, als sie ihre Macht verbergen können. Und wie steht es mit der (Selbst-)Inszenierung von Wirtschaftsführern, die mehr kontrollieren als so manch einfacher Minister? Wenn auch viele von ihnen es vorziehen, im Hintergrund zu bleiben, so betreiben doch etliche eine Imagepolitik, können jedenfalls alle zum Gegenstand personalisierender Berichterstattung werden. Hier ist viel Raum für weitere Forschung, die sich nicht mit den auffälligsten Erscheinungen begnügt.

Und die Opposition? Auch sie ist in einer Mediengesellschaft auf wirksame Auftritte angewiesen. Großorganisationen wie Greenpeace, die einen dauernden Spendenfluss verzeichnen und darauf auch angewiesen sind, machen vor, wie das geht. Ihr Erfolg beruht allerdings auf Stellvertreterpolitik: Ein paar Spezialisten gehen vor Fernsehkameras ein kalkuliertes Risiko ein, das Publikum vor dem Bildschirm applaudiert und überweist das Geld. Einige Beiträger in Haas' Band beschreiben Strategien, die im Gegensatz dazu politisch aktivieren. Michael S. Drake schildert das Vorgehen radikaler Behindertennetzwerke in Großbritannien, die subversiv paternalistisches Mitleidsgetue unterlaufen und erkämpfen, dass mit ihnen statt über sie gesprochen wird; gleichzeitig macht Drake anhand theatraler Inszenierungen klar, wie öffentliches Auftreten Behinderte in der gegenwärtigen Gesellschaft notwendig auf ihr Behindertsein verweist, welche Taktiken aber Wahrnehmungen irritieren können.

Ludger Schwarte schildert Beispiele, wie Oppositionsgruppen performativ Repressionsorgane irritieren und die herrschende Ordnung unterlaufen können. Das ging leicht, wo wie in Westeuropa Ende der 60er Jahre eine rigide Trennung von vorgeblichem Sinn und vorgeblichen Unsinn behauptet werden sollte, und hatte Überraschungserfolge bei frühen Protesten gegen die Globalisierung. Schwarte schildert aber auch, wie 2001die beteiligten Gruppen bei Demonstrationen in Genua aufgerieben wurden. Karnevalistische Taktiken geraten an eine Grenze, wo die Staatsmacht zur Konfrontation entschlossen ist; selbst wo, wie in Genua, Globalisierungsgegner die Frage nach der Herrschaft noch gar nicht ernsthaft stellten. Das zeigt gegen Schwartes Absicht den beschränkten Bereich einer Politik, die allein auf die phantasievolle Selbstorganisation der Massen setzt.

Grundsätzlicher und theoretischer diskutiert Ingolfur Blühdorn die Möglichkeiten und Grenzen sozialer Bewegungen. In einem kühnen, doch überzeugenden Schritt verbindet er sowohl die Systemtheorie des so gar nicht revolutionären Luhmann als auch Überlegungen Baudrillards zu einer Kritik der sozialen Bewegungen. Luhmann zeigt ihm, wie Opposition systemstabilisierend wirkt; Baudrillard erklärt auf der Ebene des handelnden Subjekts, die bei Luhmann fehlt, wie angesichts der Ablösung medial vermittelter Wahrnehmung vom Realen Oppositionshaltung eher eine Pose ist, die das Selbst stabilisiert, als wirksame Aktion. Der ungewöhnliche theoretische Hintergrund ist bei Blühdorn nicht Anlass, soziale Bewegungen zu verhöhnen, sondern bietet eine Möglichkeit, ihre stets drohende Integration ins System zu verstehen, damit vielleicht zu verhindern.

Der zweite, konventionellere Teil des Buchs ist dem politischen Theater gewidmet. Was Holger Kuhla und Wolfgang Mühl-Benninghaus anhand jüngster Entwicklungen der Berliner Theater monieren, gilt überhaupt: Weder eine personenfixierte Kritik von Herrschaft noch Gestaltungen eines utopischen Anderen bestimmen die gegenwärtige Bühne, sondern, literaturhistorisch betrachtet, eine Mischung aus Naturalismus und Expressionismus. Vom Naturalismus lässt sich das Interesse am deprimierenden lebensweltlichen Detail herleiten, vom Expressionismus die Reduzierung der Personen zu Typen.

Das erhellende Schema bestimmt freilich nicht jede einzelne Produktion; und was in dem Rahmen dennoch möglich ist, schildern andere Aufsätze. David Barnett zeigt am Beispiel von Albert Ostermaier, Oliver Czeslik und René Pollesch Beispiele eines Theaters, das seine Medialität reflektiert; Gerhard Fischer zeichnet die Entwicklung des GRIPS-Theaters nach. Hajo Kurzenberger geht von der Selbstinszenierung des "Kanzler-Darstellers" Schröder aus, um zu ästhetisch überzeugenderen Aufführungen überzuleiten: "Merkels Brüder" (2001) spaltet die Figuren in verschiedene Darsteller und Zeitschichten auf, dekonstruiert also die politisch Handelnden. Kritisch wäre gegen Kurzenberger zu fragen, ob dies nicht auf einen Mitleidseffekt zielt. Ebenso macht die Bonner Nachinszenierung einer Parlamentsdebatte, die er als beispielhaft hervorhebt, zwar den Laiendarstellern und Zuschauern anschaulich, unter welchem Zeitdruck und mit welch beschränkten Informationen die Abgeordneten abstimmen. Doch auch hier droht menschelndes Verständnis statt Systemkritik.

Um Kritik geht es schließlich in den Aufsätzen, die über die deutschen Grenzen hinausweisen. Bleibt auch Duška Radoslavljevics Beitrag zum jugoslawischen Metatheater der neunziger Jahre in einer bloßen Inhaltangabe stecken, so führt Birgit Haas in ihrem Beitrag eine engagierte Auseinandersetzung mit dem Werk der Dramatikerinnen Dea Loher und Sarah Kane. In genauer und textnaher Argumentation erweist Haas vor allem die Unterschiede zwischen den Autorinnen: In Lohers Theater sind Sprache und die Fähigkeit der Figuren zur Selbstreflexion von großer Bedeutung, während bei Kane die Figuren kaum je dazu kommen, ihre Lage zu reflektieren, und so mit ihrem Verhalten Geschlechterrollen bestätigen, statt sie zu sprengen. Aus feministischer Sicht bevorzugt Haas Lohers Ansatz, der Perspektiven auf ein Anderes und Besseres jenseits des Patriarchats erlaubt. Dabei überzeugt das Argument, dass Kanes körper- und gewaltbezogene Stücke mit einem gewissen Automatismus zur schlimmstmöglichen Wendung führen, dass auf diese Weise das Herrschaftsverhältnis anthropologisiert erscheint. Doch wäre auf der Ebene des Inhalts immerhin zu erwägen, mit welcher Bereitschaft sich Frauen und Männer in vorgegebenen Rollen einrichten, und auf der Ebene der Form, ob nicht gerade unter dem Gesichtspunkt des Performativen Kanes Stücke auch Möglichkeiten bieten, patriarchale Verhältnisse körperlich zu repräsentieren, damit durchschaubar und veränderbar zu machen.

Schließlich stellen Marcel Stoetzler und Erene Kaptani vor einem weiten historischen Hintergrund Theaterformen vor, die über Brechts Lehrtheater hinausweisen und das Publikum / die Mitspieler auf dem Weg zu eingreifendem Handeln unterstützen. Soll das Playback Theatre noch das Individuum zu mehr Erfolg qualifizieren, so zielt das von dem Brasilianer Augusto Boal entwickelte Forum Theatre auf gemeinschaftliche Lernprozesse. Wichtig ist in dem multikulturell geprägten Zusammenhang Großbritanniens, auf den sich Stoetzler und Kaptani beziehen, dass Gemeinschaft hier nicht die ethnisch-kulturell bestimmten Communities bedeutet, in denen oft konservative alte Männer, die niemals gewählt wurden, die von der Blair-Administration bevorzugten Ansprechpartner sind. Allzu oft sind diese Gruppen von patriarchaler Unterdrückung und rassifizierender Abgrenzung gegen andere Migranten, die als noch elender abgewertet werden, geprägt. Forum Theatre bedeutet in diesem Konfliktfeld, die Widersprüche in der eigenen Community zu erkennen und sich selbst nicht als unbegreiflicherweise gedemütigtes Mitglied einer eigentlich stolzen Gemeinschaft zu begreifen, sondern als Bestandteil einer Klasse, die wieder lernen muss, Rechte einzufordern.

Der Wert des Bandes besteht in solchen einzelnen Erkenntnissen. Darüber hinaus besticht der Mut zu engagierter Wissenschaft, die nicht selbstgenügsam und historistisch Details anhäuft, sondern aktuelle Konflikte aufgreift, und das mit einer überzeugenden Wendung gegen das schlechte Bestehende. Zu den Kernfragen, die Haas in ihrer Einleitung nennt, sind indessen nur Ansätze zu Antworten geliefert. Sind die performativen Manipulationen übermächtig? Schröder und Schwarzenegger wurden gewählt. Doch beide bekamen sehr schnell Ärger mit dem Realen, der eine ist schon abgewählt und bald: Medienberater. Zudem: Der Glaube an die Allmacht der Kampagnenmanager, die in eigentlich konservativen Ländern Linksliberale wie Schröder, Clinton und Blair an die Regierung brachten, scheint mit den Karrieren ihrer Zöglinge zu enden. Langfristig angelegte Milieupflege erscheint vielen nun doch als Voraussetzung stabiler Macht.

Auf der Seite des Theaters erscheint die Integration des performativen Moments in die Interpretation noch problematisch. Die Aufführung ist flüchtig, der Text bleibt; und es ist charakteristisch, wenn Barnett einer missglückten Inszenierung die Schuld gibt, wenn die Theaterkritiker seiner Interpretation nicht folgen. Das ist die Sicht des Forschers, der gewohnt ist, Texte zu deuten, und gar nicht so unsinnig: schließlich ist es nicht grundlos wissenschaftlicher Standard, Thesen zu belegen, und existiert das Ereignis, wenn es nicht zufällig aufgenommen wurde, nur in der Erinnerung des Betrachters oder in Form von Schriften anderer Betrachter. Welche methodischen Probleme der performative turn stellt, zeigt sich daran, dass alle Beiträger an Kernpunkten ihrer Argumentation eben doch wieder auf Schriftzeugnisse zurückgreifen. Wie das flüchtig Bildliche im wissenschaftlich überprüfbaren Text erscheinen kann, bleibt eine Frage.


Titelbild

Birgit Haas (Hg.): Macht. Performativität, Performanz und Polittheater seit 1990.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2005.
305 Seiten, 36,80 EUR.
ISBN-10: 3826030400

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