Das Paradoxe gezähmt

Christian Liederer zu Robert Müllers Poetologie

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Robert Müller (1887-1924) ist heute, wenn überhaupt, als Autor des Romans "Tropen" (1915) bekannt - ein immer noch erstaunliches Werk, das wie ein Abenteuerroman beginnt, in dem Müller den eigenen Exotismus gleichzeitig hemmungslos herausstellt und demontiert, in dem sich obskurste rassentheoretische Behauptungen wie ihre Widerlegung finden und dessen Protagonisten darum ringen, sich selbst zum Autor des Romans aufzuschwingen, um die anderen zu ihren Erfindungen zu degradieren. Schließlich hebt im Tropenkoller gegenseitiges Morden an.

Wenn Christian Liederer gerade diesen Roman ins Zentrum seiner Studie "Der Mensch und seine Realität" stellt, folgt er der noch jungen Tradition der Müller-Forschung. Der Buchtitel entspricht in seltener Klarheit auch der Gliederung der Würzburger Dissertation. Im ersten Teil zeichnet Liederer Müllers Anthropologie nach. Überzeugend zumindest im Hinblick auf "Tropen" wird klar, wie sehr Menschen bei Müller von ihrer Körperlichkeit geprägt sind, dass indessen das Körperliche in paradoxer Wendung gerade als Geistiges gefasst ist; wie das Geistige über Personengrenzen hinaus wirkt, wie in psychischen Strömen eine Interaktion zwischen den Figuren entsteht und schließlich sogar eine Belebtheit der Materie vorgestellt ist; wie all das kombiniert ist mit Müllers Hoffnung auf einen neuen Menschen, der in einem Dreistufenmodell ein unbewusstes Dahinleben in "primitiven" Kulturen und ein rational gliederndes Europäertum in Richtung auf eine fünfte Dimension überwindet. Diese fünfte Dimension bedeutet eine Überwindung von Zeitlichkeit und damit von Kausalität. Sie zielt auf ein paradoxes Dawider-Denken, das dem phantastischen Umgang mit dem Wirklichen neue Spielräume eröffnet.

Bis hier kann man Liederer folgen, soweit es um die Analyse von "Tropen" geht. Anregend ist auch, wie er Müller in geistesgeschichtliche Zusammenhänge einbettet. Mögliche Bezüge auf Schopenhauer, Haeckel, Mach und den Wiener Psychologen Friedrich Jodl, bei dem Müller studierte, waren in der Forschung noch nicht oder jedenfalls nicht derart detailliert angeführt. Zu überprüfen wäre allerdings angesichts der zuweilen etwas vagen Berührungspunkte, ob es sich um tatsächliche Einflüsse handelt oder ob Müller aufgriff, was ohnehin nach 1910 breit diskutiert wurde.

Leider berücksichtigt Liederer jedoch keinerlei Diskurse unterhalb der Ebene von Philosophie und Wissenschaft. Gerade zu Kultur und Rasse, aber auch zum Deutschtum, das als angeblich besonders kulturbildend in den "Tropen" seine Rolle spielt, wäre die zeitgenössische Publizistik vielleicht wichtiger. Historische Einschnitte mögen auch für Themenwahl und Anlage von Müllers Romanen nach dem Ersten Weltkrieg von Bedeutung gewesen sein. Liederer, der beansprucht, eine Gesamtdarstellung zu Müller zu liefern, liest die späteren Werke aber kaum je anders als unter dem Gesichtspunkt, wie sie die anhand der "Tropen" gewonnenen Erkenntnisse bestätigen. Damit schreibt er nicht nur ihre Vernachlässigung fort; auch Müllers Gesamtwerk bekommt etwas bedauernswert Statisches. Produktiver wäre die Frage, wie Müller auf neue gesellschaftliche Fragen reagiert, auf die einschneidenden Ereignisse, die zwischen den "Tropen" und dem Nachkriegswerk liegen; und nicht zuletzt auf Probleme der eigenen Konzeption, die er zu lösen versucht.

Liederer, der mehrfach den Dynamismus von Müllers Denken hervorhebt, entscheidet sich indessen für einen ahistorischen Zugang. Dessen Nachteile werden insbesondere im zweiten Teil der Arbeit deutlich, der nach dem "Menschen" die "Wirklichkeit" beleuchten soll. Bereits einleitend bietet Liederer eine beindruckende Phalanx von Denkern auf, die irgendwie den unmittelbaren Zugang des Menschen zur Realität problematisiert haben. Von Kant über Schopenhauer, Mach und Husserl bis zum radikalen Konstruktivismus fehlt wenig, was irgendwie Müllers Skepsis beglaubigen könnte. Über Unterschiede ist jedoch unbekümmert hinweggegangen, wie auch im folgenden, wenn Liederer den Begriff des "Phantoplasmas" als Zentralbegriff von Müllers Denken zu etablieren versucht.

Tatsächlich findet sich das Wort in den "Tropen". Der deutsche Ingenieur Brandlberger, der sich wohl als Erzähler durchsetzt, jedenfalls als einziger Weißer die Expedition überlebt, findet das Wort früh im Roman. Es ist eng verbunden mit der Fähigkeit zum paradoxen Perspektivwechsel und mit Erkenntnissen, wie sie die Relativitätstheorie erlaubt: dass etwa nicht die Ruderer ein Boot mit ihren Rudern bewegen, sondern der Fluss das Boot mithilfe der Ruder. In der Tat sprengt der Begriff die geläufige Kausalität und setzt er Phantasie frei. Später wird die Frage, wer ihn erfunden hat, zum Streitpunkt zwischen Brandlberger und seinem alter ego Slim, der dann auch umkommt, vielleicht mit einem Ruder erschlagen.

So wichtig das Phantoplasma für den Roman ist - der Versuch, es als konstitutiv für ein ganzes System zu setzen, überdehnt seine Bedeutung. Genau das aber unternimmt Liederer, zudem mit einer Einteilung in ein "absolutes" und ein "subjektives" Phantoplasma, die sich bei Müller nicht findet. Dem Begriff und dem System werden auch die späteren Roman untergeordnet, besonders "Camera obscura" und "Der Barbar" und die erhaltenen Fragmente zu "Manhattan"; der letzte Roman, "Flibustier", fügt sich dem Schema am wenigsten und taucht deshalb kaum auf.

Auch in Liederers zweitem Teil findet sich noch manch neue und produktive Erkenntnis. Wie Mordfälle und wie auch Verweigerung, sie aufzuklären, sich durchs Gesamtwerk ziehen, ist ebenso erhellend gezeigt wie Müllers Strategie, den Leser zum paradoxen Denken zu erziehen. Liederers Pointe ist, dass der neue Mensch, der sich in der fünften Dimension zu bewegen weiß, sich nicht in einer der Romanpersonen verbirgt, sondern im Leser, der Müllers verwirrende Angaben zum Denktraining nutzt. In diesem Punkt gelangt Liederer über die bisherige Forschung hinaus.

Überdeckt ist dies Verdienst freilich vom unseligen Versuch, "ein geschlossenes philosophisches Konzept" Müllers aufzuzeigen. Das führt auch im zweiten Teil dazu, dass Müllers Werk über weite Strecken als Umsetzung philosophischer Gedanken seit Schopenhauer erscheint und vor allem, dass Widersprüche in die Anmerkungen verbannt sind, wo z. B. einmal die "impulsive, expressionistische Heterogenität in Müllers gedanklicher Welt" eingestanden ist.

Der Fußnote sollte man hier eher glauben als dem Haupttext. Nicht nur wäre sonst zu fragen, weshalb Müller, dem Liederer den Willen zur Wirkung bescheinigt, sein System derart versteckt hätte, dass erst ein Germanist achtzig Jahre nach seinem Tod es entschlüsselt. Auch sind zahlreiche Passagen, die Liederer als Autorenmeinung liest, in den "Tropen" Äußerungen von Figuren. Diese Figuren, Slim und Brandlberger vor allem, kämpfen mit- und gegeneinander - um den Besitz der exotisierten Frau, mehr noch aber um die Vorherrschaft, um die Autorschaft im gedanklichen Austausch. Vielleicht sind deshalb die Sätze philosophisch gültig, bestimmt aber sind sie interessengebunden; und die Gründe, weshalb Brandlberger die Morde nicht aufzuklären wünscht, sind deutlich genug. Es gibt genug Hinweise, dass er an zwei, vielleicht sogar drei der vermutlich vier Morde in den "Tropen" beteiligt ist.

Konstitutiv für die Welt der "Tropen" ist also der Kampf, sind mögliche Schuld und ihre geschickte Verschleierung. Kampf heißt Auseinandersetzung mit der Umwelt, die nur als konkrete denkbar ist. Was Müllers Figuren durchweg leisten, war auch Programm des Autors, dessen Pädagogik nicht auf ein philosophisches Erkenntnismodell allein, sondern auf ein Verhalten in je bestimmten gesellschaftlichen Konflikten zielte. Indem Liederer im poetischen Werk und in Müllers Essayistik, mit der er seine Interpretationen punktuell stützt, das konkret Stoffliche wie auch Müllers Bezüge auf die einschneidenden historischen Ereignisse in den gut zehn Jahren seines Publizierens nicht berücksichtigt, sind die Texte falsch systematisiert und in eine sterile Klassizität entrückt. Die Romane, Erzählungen und Essays erscheinen bei Liederer als Materialisierung eines immer schon Vorhandenen, nicht aber als Versuche, auf stets neue Situationen zu reagieren. Wahrscheinlich sind auch die späteren Romane mehr als neue Formen für Altbekanntes, sondern Müllers Versuch, Aporien in den "Tropen" zu überwinden. Entsprechend sind sie nicht als Bestätigung von Gewusstem zu lesen und stellen sie eine produktive Irritation dar. Erst eine Lesart, die Paradoxien aushält und austrägt, statt sie im scheinbar stimmigen System zu domestizieren, würde dem Gesamtwerk Müllers gerecht.


Titelbild

Christian Liederer: Der Mensch und seine Realität. Anthropologie und Wirklichkeit im poetischen Werk des Expressionisten Robert Müller.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2004.
389 Seiten, 45,00 EUR.
ISBN-10: 3826028198

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