Wann kommt der Prinz?

"42": Thomas Lehrs Gegenstück zu Dan Browns Sensationsgeschichten

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gehen wir doch einmal davon aus, Dan Brown (Sie wissen schon, "Da Vinci Code" usw.) hätte sich dieses Themas angenommen und nicht Thomas Lehr. Eine Gruppe von Medienleuten, Politikern und Physikern stattet dem schweizerischen Kernforschungszentrum CERN einen Besuch ab und muss, an die Oberfläche zurückgekehrt, bemerken, dass um sie herum die Zeit stehen geblieben ist. Und zwar exakt am 14. August um 12.47 Uhr und 42 Sekunden. Seitdem (und das fünf Romanjahre lang) scheint die Mittagssonne auf eine merkwürdige Szenerie: Auf Espressos und Speisen, die nie kalt werden, auf Unfälle, die sich demnächst ereignet hätten, auf Menschen, Tiere und den Planeten, die in ihrer Bewegung erstarrt sind: egal in welcher, in der Luft, auf Erden, im Wasser oder irgendwo auf dem Weg vom einen zum anderen. Außerdem ist unsere lärmerfüllte Welt mit einem Mal völlig ohne Laut. Ein schöner Handlungsentwurf, der mit einer relativ hohen Wahrscheinlichkeit von Brown so weiter geführt würde: Eine kleine Gruppe von Wissenschaftlern unternimmt den Versuch, der Ursache auf die Spur zu kommen, die dann wohl auch gefunden werden wird - etwa irgendein riskantes technisches Experiment. Neben all den technischen Risiken und Unfällen, die zum Tod des einen oder anderen Gruppenmitglieds führen, werden sich unsere Helden auch gegen verdeckte Attacken unbekannter Herkunft zu wehren haben. Der wahre Feind wird sich dann als einer der Gruppenmitglieder entpuppen, seine Motivation: wahnsinniger Wissenschaftler, aus dem Ruder gelaufenes Experiment, die höheren Ziele der großen Politik, irgendetwas aus diesem Katalog. Am Ende aber gelingt die Expedition in die Zeitmaschine, die Gruppe (oder das, was davon übrig geblieben ist) kehrt in die Synchronzeit zurück, und irgendjemand wird aufzuräumen haben, was zwischenzeitlich in die Luft gesprengt, vernichtet und niedergebrannt worden ist. Reicht dicke für 600 Taschenbuchseiten, denke ich.

Nun, aber Thomas Lehr ist eben nicht Dan Brown. Er schreibt keine Thriller, sondern Literatur, ihm fehlt dazu auch schon die rechte Erzähltechnik (Dan Brown ist der König aller Cliffhanger) und sicherlich auch der Wille, sich darauf einzulassen (obwohl Lehr eine Neigung zu solchen Texten anzumerken ist). Zwar lässt auch er einige der "Zombies" oder auch "Chronifizierten", wie sich die Zeitbewegten nennen, nach Ursachen und Lösungen suchen, bringt ein paar von ihnen um, lässt die anderen Gefahren bestehen. Aber seine Hauptfigur, aus deren Perspektive Lehr erzählen lässt, begibt sich in die andere Richtung, vor allem auf die Suche nach seiner Frau, die er in Berlin vermutet, aber schließlich in Florenz findet - mit einem Liebhaber, von dem er bis dahin nichts ahnte. Nun denn. Das ist der Stoff, aus dem man Romane macht.

Allerdings spielt er hier nur eine Nebenrolle, denn Lehr hat sich mit seinem Plot ein paar Probleme eingefangen, die er mehr oder minder geschickt zu lösen versteht. Dass er sich dabei auf der Höhe der physikalischen Forschung bewege, sei dabei auf der Soll-Seite des Feuilletons verbucht (wobei hier - um mit Brecht zu sprechen - vor allem eine angemessene Simulation und nicht echte Kompetenz gefordert ist), aber wie auch immer: Mit Kompetenz löst er faktisch kein einziges seiner erzählerischen Probleme, sie verursacht höchstens welche. Setzen wir, es käme tatsächlich zu eine solchen Vorfall, wie ihn Lehr entwirft, was dann? Wenn Bewegung eine zeitliche Abfolge von Zuständen im dreidimensionalen Raum ist, was ist, wenn dieses Raum-Zeit-Kontinuum quasi gefriert? Wie bewegt sich eine Person, die davon freigestellt wäre? Lehrs Lösung ist eine Art Aura um die einzelnen Mitglieder seines Personals, die ihm auch dazu dient, ihnen Nahrung zuzuführen, sie ihre Notdurft verrichten oder im Wasser versinken zu lassen. Die Zombies führen ihre jeweilige Gegenwart mit sich, und alles, was sie in ihre Aura einbringen, wird damit synchronisiert. Diese Auren lassen sich sogar verbinden. Dafür müssen die Beteiligten zwar einander arg eng auf die Pelle rücken, aber nur so ist Verständigung überhaupt möglich. Denn alles, was die Zombies aus der Aura entfernen, wird unmittelbar dem Zeithorizont der Umgebung angepasst: Schall genauso wie ein Wurfgeschoss oder Urin. Lehrs Zombies haben also schon von vornherein eine Reihe von praktischen Problemen, von denen immerhin eines, die Bewegung des Lichts, ausgeklammert bleibt. Hören können sich die Zeitreisenden zwar nicht, aber sehen immerhin (was ihnen ja auch als bemerkenswert auffällt).

Irgendwie also löst Lehr all seine Probleme, die ihn davon abhalten könnten, so etwas wie Handlung zu entwerfen, im Vorübergehen und kann sich zugleich den Fragen widmen, mit denen sich sein Protagonist herumzuschlagen hat. Denn jenseits der Praxisbasics bleibt immer noch zu klären, wie denn jemand, der urplötzlich in eine solche Situation käme, damit umginge. Dem nahe liegenden Irrsinn verfallen denn auch schnell ein paar der Kombattanten, der Held der Geschichte jedoch erweist sich als erstaunlich robust. Die akustische und soziale Isolation führt nur zu einer Reihe von sexuellen Eskapaden und Experimenten, bei denen sich die Zombies ihrer lebenden Staffage bedienen. Auch werden ein paar Morde und Selbstmorde begangen, künftige Unfallopfer gerettet, erstarrte Leiber verstellt, Gruppen in Unordnung gebracht, delikate Situationen hergestellt usw. Irgendwie, lässt sich einräumen, müssen ja auch Zombies ihre Zeit verbringen, wenn das Fernsehen immer dasselbe Standbild zeigt und auch das Radio nicht dudelt. Lesen ist auf Dauer eben auch sehr einseitig. Also wandert der Protagonist - genauso wie alle - durch die Welt, soweit er kann (Autos, Züge und Flieger verkehren ja nicht mehr), lange Jahre auf der Suche nach seiner Frau und immer auf der Suche nach dem, was von ihm jetzt noch übrig bleibt. Ein Glück, kann man sagen, dass das Ganze im Sommer passiert ist und nicht im tiefsten Winter und dann noch bei Nacht - wie unangenehm wäre dann erst die Situation geworden. So aber gerät das Ganze zur Sommerfrische auf Dauer, die vor allem dadurch eine Menge ihrer literarischen Attraktivität verliert.

Lehr hinterlegt der Struktur seines Romans eine Abfolge von fünf Reaktionsphasen und damit Verhaltensstudien, die als Kapitelfolge wiederkehren. Den Weg vom Schock bis zum Fanatismus muss nun jeder der Chronifizierten zurücklegen. Nachdem nun aber unser Held nach Ursachen nicht zu forschen weiß, auch keine wirklichen Aktivitäten startet, wie denn dem Status quo zu entkommen sei, dabei freilich auch nicht dem Wahnsinn verfällt, sind es gegen Ende des Romans viele kleine Zeichen und kein unverhoffter Kaltstart der Zeitmaschinerie, die die Figuren hoffen lässt, dass sich möglicherweise doch etwas an ihrem Zustand ändern lässt. Es ist das Anlaufen der Zeit um drei Sekunden, der "Ruck", Ensembles von Zombie-Klonen, teilweise in verschiedenen Altersstufen, die vom umherschweifenden Untoten aufgefunden werden, kleine Veränderungen nur, die darauf hoffen lassen, dass eine Rückkehr möglich sein könnte. Das große Schlussexperiment, mit dem sie über die Zeitbrücke zurückzukehren versuchen, hat aber eine ganz andere Einsicht zur Folge. Der Zeitunfall zu Beginn reicht viel weiter, als es über 350 Seiten lang den Anschein hatte. Wenn der Held der Geschichte dann schließlich soweit ist, hat er nicht nur eine Art sechsten Sinn bewiesen, er kann sich auch auf einen letzten Gang begeben. Das ändert lediglich für ihn etwas, wenn überhaupt. Dass wir ihm überhaupt bis hierher gefolgt sind, lässt sich möglicherweise am Ende doch damit erklären, dass man zu gern wüsste, wie Lehr denn seine Figuren aus dem Schlamassel befreien will, wenn er sie denn nicht kopfüber drin stecken lassen möchte. Zeitgeschichten? Thomas Mann hat dazu im "Zauberberg" so manches Kluge geschrieben, dem auch Thomas Lehr zu folgen scheint. Auch er wird nicht in sieben Tagen oder sieben Monaten damit fertig, er lässt seinen "Hans Castorp" zwar keine sieben, aber immerhin fünf Jahre auf seinem CERN-Zauberberg. Aber der Erzähler kann sich nicht wirklich erklären, was das denn - "verflucht noch mal" - sei, die Zeit. Müssen wir, um das herauszubekommen, wirklich anhalten und all diese Spielchen spielen? Oder müssen wir uns auf die Suche nach einem Generalschlüssel machen, mit dem sich dann Lehrs Zeitetüde erklären lässt? Und schließlich ganz zuletzt: Kann man so etwas in der Vergangenheit erzählen? Und vor allem: wem?


Titelbild

Thomas Lehr: 42. Roman.
Aufbau Verlag, Berlin 2005.
368 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-10: 3351030428

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