Wenn sich Ransmayr der Fantasy hingäbe...

Jeff VanderMeers "Stadt der Heiligen und Verrückten" zeigt, wie innovative Fantasy aussieht - mit allerdings nicht unerheblichen Längen

Von Micha WischniewskiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Micha Wischniewski

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Immer wieder fühlen sich Autoren fantastischer Literatur zu eigens von ihnen entworfenen Städten hingezogen, die sich unversehens zu den heimlichen Attraktionen ihrer Erzählungen mausern. So wussten beispielsweise in der klassischen Sword & Sorcery-Fantasy Fritz Leiber mit Lankhmar und in der düsteren Fantastik Thomas Ligotti mit seiner Stadt an der nördlichen Grenze mittels der Beschränkung auf einen fixen Ort eine atmosphärische Dichte zu erzeugen, die ihresgleichen sucht. In eben dieser Tradition ist auch Jeff VanderMeers "Stadt der Heiligen und Verrückten" zu sehen, eine Sammlung von Novellen, Kurzgeschichten und Briefen, deren Handlung samt und sonders in der Stadt Ambra angesiedelt ist, einem so pulsierend-farbenfrohen wie auch unerbittlich gewalttätigen Moloch, in dem Verfall allgegenwärtig ist und alles und jeden zu seinem Opfer erküren kann. Hier verliebt sich der vom Glauben abgefallene Priester Dradin in eine mysteriöse Frau hinter einem Fenster, zu der direkten Kontakt aufzunehmen er sich außerstande sieht, hier erhält der bis dato (zu Recht) unbekannte Maler Martin See eine "Einladung zu einer Enthauptung", und hier findet sich der Autor des Buches "Stadt der Heiligen und Verrückten" in einer Psychiatrie wieder und versucht im Gespräch, seinen Therapeuten davon zu überzeugen, dass er nicht wahnsinnig sei.

Voller Sprachgewalt und in geschliffenem Stil erschafft Jeff VanderMeer das schillernde Panorama einer grell leuchtenden Stadt, anhand derer er Verfall gleichermaßen inszeniert und immer wieder in einem solchen Maße genüsslich zelebriert, wie man es sonst nur von einem Christoph Ransmayr kennt. Schon daran wird deutlich, dass die in der Anthologie versammelten Texte nicht weiter von den Werken des gemeinen zeitgenössischen Fantasy-Autoren entfernt sein könnten, ergehen sie sich doch nicht in plumpem Tolkien-Epigonentum, sondern sind in sich selbst vielfach gebrochen und referieren auf Bezugspunkte, die in durchschnittlicher Fantasy nicht zu finden sind: Einflüsse der Gothic Novel und des Schauerromans seien hier ebenso genannt wie die aus dem Fin de Siècle bekannte Ästhetisierung des Niedergangs - "postmoderner Steampunk" ist wohl die treffendste Bezeichnung. Das soll jedoch nicht heißen, dass überhaupt keine Berührungspunkte mit Tolkien bestehen, doch sind bezeichnenderweise eben diese die markanten Schwachstellen von "Stadt der Heiligen und Verrückten". Gerade dann, wenn VanderMeer einen Mythos zu konstruieren versucht und sich in pseudowissenschaftlichen und -historischen Ausführungen ergeht, um Ambra unnötigerweise noch mehr Substanz zu verleihen, beschleicht selbst den wohlwollendsten Leser das Gefühl, dass der Autor mitunter darauf bedacht gewesen sein könnte, Seiten zu schinden. Selbst wenn die Belehrungen eines gehässigen Historikers zur Frühgeschichte der Stadt noch nett zu lesen sein mögen, ist die Toleranz genauso wie die Aufmerksamkeitsspanne des Lesers spätestens bei einer 60-seitigen Abhandlung über Königskalmare gänzlich erschöpft und nichts anderes als Verärgerung ob des just Dargebotenen macht sich breit.

Ohne jene misslungenen tolkienesken Anleihen wäre "Stadt der Heiligen und Verrückten" jedem aufgeschlossenen Leser und Liebhaber außergewöhnlicher Fantastik wärmstens zu empfehlen, doch so bleibt ein mehr als fader Beigeschmack, der den Genuss von Höhepunkten wie "Die Verwandlung des Martin See", "Der Käfig" oder "In den Stunden nach dem Tod" nachhaltig zu beeinträchtigen weiß. Schade um diese vergebene Chance, eine makellose Sammlung anspruchsvoller Fantasy zu schaffen.


Titelbild

Jeff VanderMeer: Stadt der Heiligen und Verrückten.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Erik Simon.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2005.
460 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-10: 3608937730

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