Vielfalt und Vernetzung

Mehrdimensionale Wissenspräsentation in der "Enzyklopädie Medizingeschichte"

Von Misia Sophia DomsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Misia Sophia Doms

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nicht nur Medizinhistoriker haben auf eine Enzyklopädie ihres Fachs schon lange gewartet: Im Zeichen von Interdisziplinarität und weit gespannten kulturwissenschaftlichen Ansätzen geraten in der heutigen Zeit medizinhistorische Fragestellungen vermehrt auch in den Blick der verschiedensten benachbarten Disziplinen. Zunehmend sind daher auch Fachfremde auf breit angelegte, fundierte und zugleich konzentrierte Überblicksdarstellungen zu den wichtigsten Epochen, Persönlichkeiten und Sachgebieten der Medizingeschichte angewiesen.

In jahrelanger Zusammenarbeit haben 212 Autoren, darunter ein Großteil der Wissenschaftler an den deutschen, österreichischen und schweizerischen medizinhistorischen Instituten, die bisherige Medizingeschichtsschreibung um ein Nachschlagewerk bereichert, das in dieser Form zu Recht von den Herausgebern als eine "Pionierleistung" verstanden wird. Den Benutzern der "Enzyklopädie Medizingeschichte" mit ihren ungefähr 2.700 Artikeln und etwa 70 Abbildungen liegt in einem umfangreichen Band zugleich ein biografisches Lexikon und ein Nachschlagewerk zu den wichtigsten Sachthemen der Medizingeschichte vor.

In den etwa 1.900 halbspaltigen bis mehrseitigen biografischen Einträgen sind keineswegs allein die medizinhistorisch bedeutsamsten antiken, mittelalterlichen und neuzeitlichen Ärztepersönlichkeiten vertreten. Auch Nichtmediziner, die sich durch ihre Arbeit auf anderen Gebieten, etwa in der Bildenden Kunst, der Naturphilosophie oder den modernen Naturwissenschaften, zugleich um die Medizin verdient gemacht haben, werden aufgeführt. Ebenso finden aber auch diejenigen Ärzte Erwähnung, deren Lebenswerk beispielsweise mehr den Literar- denn den Medizinhistoriker beschäftigt. Am Ende der Darstellungen steht jeweils ein übersichtliches, knapp gehaltenes Werk- und Literaturverzeichnis. Die biografischen Einträge werden weiterhin, besonders für das Mittelalter, durch Artikel ergänzt, die die einflussreichsten anonym erschienenen Medizintexte (etwa das "Regimen sanitatis Salernitanum") behandeln.

Die biografischen und werkbezogenen Artikel der "Enzyklopädie Medizingeschichte" stellen eine wichtige Zusammenführung und Ergänzung derjenigen Informationen dar, für die der Forscher bisher so unterschiedliche Nachschlagewerke wie den "Neuen Pauly", das - derzeit für die frühe Neuzeit fortgesetzte - "Verfasserlexikon" zur deutschen Literatur des Mittelalters, Walther Killys "Literaturlexikon" oder das in den 1990er Jahren erschienene "Ärztelexikon" von Wolfgang U. Eckart und Christoph Gradmann zu konsultieren hatte. Vor allem aber, und dies muss als eine der hervorragendsten Leistungen der vorliegenden Enzyklopädie verstanden werden, kann ihr Benutzer sich im selben Werk zugleich auch auf vielfältige Weise über die wissenschafts- oder kulturgeschichtlichen Rahmenbedingungen und Hintergründe informieren, in denen die einzelnen Medizinerbiografien, medizinischen Abhandlungen und Entdeckungen stehen.

Umfangreiche Überblicksdarstellungen widmen sich den großen Epochen der Medizin von den frühen Hochkulturen (etwa Indien, Mesopotamien, altes Ägypten) bis in die - überwiegend aus abendländischer Perspektive behandelte - Neuzeit (z. B. Renaissancemedizin, Aufklärungsmedizin). Beginnend mit den großen Medizinschulen der Antike werden in anderen Übersichtsartikeln die verschiedensten, teils zeittypischen (beispielsweise Medizin der Romantik, Medizin im Nationalsozialismus), teils epochenübergreifenden medizinischen Strömungen, Wissenschaftsverständnisse, Theorien und Modelle (z. B. Humoralpathologie) beschrieben. Eine dritte Gruppe von Einträgen beleuchtet die Geschichte der Medizin in ihrem historischen Verhältnis zu sozialen Einrichtungen (u. a. Apothekenwesen, Hospital- bzw. Krankenhauswesen, Krankenversicherungswesen) und kulturell-geistesgeschichtlichen Phänomenen (etwa Medizin und Dichtung, Bildende Kunst und Medizin, Mystik und Krankheit). Ebenso werden auch mehrseitige Überblicke über die historische Entwicklung der verschiedenen klinischen und vorklinischen Fachgebiete der Medizin (z. B. Anatomie, Frauenheilkunde) und ihr wissenschaftlich benachbarter Forschungszweige (etwa Humangenetik) geboten. Besonders umfangreiche Aufsätze sind dabei entweder nach historischen oder nach thematischen Gesichtspunkten untergliedert und erleichtern durch eine vorangestellte Inhaltsübersicht das Finden der für den Benutzer jeweils relevanten Informationen.

Durch die große Anzahl an Querverweisen zwischen den einzelnen Artikeln werden die sehr unterschiedlichen Perspektiven auf die Geschichte der Medizin zusätzlich miteinander vernetzt. Noch dichter wird diese Vernetzung dadurch, dass neben den etwa 100 umfangreichen Übersichtsartikeln mehrere hundert Einzeldarstellungen zur Geschichte bahnbrechender Entdeckungen am menschlichen Körper, zur historischen Entwicklung einzelner Krankheitsbilder sowie spezieller Forschungs-, Diagnose- und Therapieverfahren und zu verschiedenen, medizingeschichtlich relevanten Heilmitteln und Wirkstoffen in die Enzyklopädie aufgenommen wurden. Oft beanspruchen diese kürzeren Einträge nicht einmal eine halbe Spalte, sind aber, genau wie die Überblicksdarstellungen, mit einem Literaturverzeichnis versehen, in dem sich Hinweise auf - zumeist neuere - weiterführende Forschungsliteratur finden.

Kündigen die Herausgeber im Vorwort der "Enzyklopädie Medizingeschichte" für eine künftige Auflage weitere Ergänzungen des Nachschlagewerks an, so könnten vor allem zwei Erweiterungen seiner jetzigen Gestalt noch hilfreich sein: ein ausführlicher Kommentar zu den redaktionellen Kriterien für die Auswahl der Sacheinträge sowie ein thematisch gegliederter, die strikt alphabetische Anordnung aller Einträge ergänzender Registerteil.

Ungeachtet dieser Ergänzungsvorschläge muss allerdings die Enzyklopädie auch im Hinblick auf ihre Struktur als äußerst gelungen bezeichnet werden. Bei der Auswahl der Stichworte wie auch bei der Binnengliederung der Einträge konnten - anders als bei monografischen medizinhistorischen Überblicksdarstellungen - parallel höchst unterschiedliche Ordnungskriterien zur Systematisierung des medizinhistorischen Wissens berücksichtigt werden. Folgt in den meisten Monografien die Präsentation medizinhistorischen Wissens nur einem einzigen (häufig chronologischen) Ordnungsprinzip oder allenfalls einigen wenigen Gliederungskriterien, so nutzt dagegen die vorliegende Enzyklopädie überzeugend alle Vorteile der alphabetischen Anordnung ihrer Lemmata. An die Stelle chronologisch-eindimensionaler Wissensdarstellung tritt eine gleichzeitige Berücksichtigung der verschiedenen Forschungsanliegen und -perspektiven dieses Fachs. Die Wissenspräsentation wird, besonders auch durch die zahlreichen Querverweise, gewissermaßen mehrdimensional, sodass sich die Medizingeschichte als Forschungsfeld bzw. Forschungsraum abbilden lässt.

Zusammen mit der Bereitstellung des bereits erwähnten breiten Spektrums an sorgfältig recherchierten biografischen Informationen macht also gerade die Vielzahl der berücksichtigten Aspekte und Sachthemen den entscheidenden Vorteil dieses medizinhistorischen Übersichtswerkes aus: So lassen sich die stark divergierenden Informationsbedürfnisse der verschiedensten Benutzer gleichzeitig berücksichtigen und so ist auch der hohe Anspruch der Herausgeber einzulösen, die ganze Vielfalt medizinhistorischer Themenstellungen in einem enzyklopädischen Werk zu präsentieren. Perspektivische Einseitigkeiten und die Konzentration auf die mutmaßlichen Forschungsinteressen eines wissenschaftlichen Mainstream wurden dadurch vollständig vermieden. Nicht allein die Vertreter der Fachwelt, sondern auch Nicht-Medizinhistoriker werden daher von der "Enzyklopädie Medizingeschichte" in hohem Maße profitieren, sodass ihr eine möglichst weite Verbreitung nicht nur in medizinhistorischen Bibliotheken, sondern nach Möglichkeit auch in anderen historisch orientierten Forschungseinrichtungen und selbstverständlich auch in den Privatbibliotheken aller am Fach Interessierten unbedingt zu wünschen ist.


Titelbild

Werner Gerabek / Bernhard Haage / Gundolf Keil / Wolfgang Wegner (Hg.): Enzyklopädie Medizingeschichte.
Herausgegeben von Werner E. Gerabek, Bernhard D. Haage, Gundolf Keil und Wolfgang Wegner.
De Gruyter, Berlin 2005.
1544 Seiten, 99,99 EUR.
ISBN-10: 3110157144

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