Ungeniert abkassiert

Joseph von Westphalen beutet die Verlage aus

Von Frank MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es gibt zu denken, dass Literaturproduzenten zumeist hoffnungslos unterbezahlt sind, während ihre Exegeten, ihre Lektoren und Verleger in der Regel wohl dotiert sind. Was liegt also näher, als die verzerrten Proportionen einmal probeweise zurechtzurücken und einen Schriftsteller aus den widrigen Verhältnissen direkt an einen Ort zu versetzen, der sonst mit striktem Einreiseverbot belegt ist, nämlich in das Land, wo Milch und Honig fließen und gebratene Tauben direkt in die offenen Münder fliegen? Ein gewagtes Experiment, zugegeben. Und doch bedient sich Joseph von Westphalens neuer Roman exakt dieser Versuchsanordnung, denn hier ist das Literatendasein einhundertsechzig Seiten lang ein reines Vergnügen.

Aus einem einzigen Erfahrungs-Apriori will der als Schimpf- und Verhöhnungskünstler ausgewiesene Ich-Erzähler im Handumdrehen ansehnliche siebenunddreißig Jahr-2000-Titel fabrizieren: "Neue Jahre erinnern mich an diese dicken, fetten, wattigen Raupen, die allesamt Schädlinge sind, was mal aus ihnen wird, weiß man nicht. Jeder Ausländer wird als Eindringling argwöhnisch gemustert, das neue Jahr aber empfängt man mit Hallo wie einen willkommenen Gast. Das nenne ich Opportunismus. Das ist Identifikation mit dem Aggressor. Prost, tu mir nichts! Daher nein zu Jahresfeiern aller Art. Kein Prost, kein Salutieren zum Geburtstag und zur Silvesternacht, kein Sekt, kein Schampus, kein Prosecco."

Langwierige Recherchen vor dem Verfassen eines Manuskripts? Nicht in Westphalens Gegenwelt. Eine Stunde nachts vor dem Fernseher reicht seinem Protagonisten völlig aus, um genügend Empörung aufzuspeichern, die er sich am nächsten Tag von der Seele schreiben kann. Der Autor lässt seinen Stellvertreter nicht darben, in der Liebe nicht und vor allem nicht in pekuniären Belangen: "Nur mit einem 20-Seiten-Text liege ich unter 50 Tausend Mark, mit allen anderen weit darüber." Wen wundert es da, dass unser Held schnell auf den Geschmack kommt, und zwar auf den des ungenierten Abkassierens.

Zu unerhörtem Reichtum gelangt Westphalens Alter ego aber keineswegs durch die ihm eigene Profession, das Bücherschreiben, sondern durch das genaue Gegenteil: das Nichtschreiben. Zu Beginn treibt ihn noch die rechtschaffene Absicht an, durch das Anhäufen von Verlagsverträgen eine Erhöhung des Termindrucks und ein Anschieben der literarischen Produktion, ein explosives sich Öffnen der "Ventile" zu bewirken. Mit ungezügelter Fabulierlust und quasi aus dem hohlen Bauch heraus wird da in der Weise des Brainstorming angedacht, entworfen, eingestreut. Die schnell wachsende Liste der geplanten Bücher reicht von "Lyrik 2000", "Adel 2000" über "Demo 2000" und "Zweifel 2000" bis zum selbst den "Großschriftsteller" Grass übertrumpfenden Titel "Mein Jahrtausend".

Doch der Weg vom Selbstbetrug zum handfesten Verlagsbetrug ist kurz. Schon bald denkt Westphalens Stellvertreter nämlich gar nicht mehr daran, jemals auch nur eine Zeile zu Papier zu bringen. Dafür wächst sein Interesse für die von den Verlagsvertretern ausgelobten Garantievorschüsse, die er in geschickten Verhandlungen in schwindelerregende Höhen treibt. Westphalen vermeidet es denn auch tunlichst, die Machenschaften seines schriftstellernden, pardon, nichtschriftstellernden Doppelgängers zu ahnden. Im Gegenteil. Die Verlage müssen gar ein zweites Mal berappen, und zwar die großzügig bemessenen Entschädigungszahlungen, die der in seinen Ansprüchen gar nicht so fiktive Autor unverfroren einfordert, als sich das Geschäft mit den Jahr-2000-Titeln - Phantombücher allesamt - als Flop entpuppt und er einen "irreperablen Marktwertverlust" einklagt.

Das Buch gedeiht in der Nährlösung des produktiv umgesetzten Ressentiments und der literarischen Autobiografik. Das verwüstete Arbeitszimmer mit dem alten, schweren Wählscheibentelefon beispielsweise, es gleicht aufs Haar jener Schreibstube, die Anfang des Jahres in einem "Focus"-Heft abgebildet war: das Foto zeigt Westphalen inmitten von Manuskriptstapeln und überquellenden Papierkörben.

Titelbild

Joseph v. Westfalen: Warum mir das Jahr 2000 am Arsch vorbeigeht oder Das Zeitalter der Eidechse.
Eichborn Verlag, Frankfurt 1999.
159 Seiten, 12,70 EUR.
ISBN-10: 3821834900

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